[Ich habe die Bilder und ein Inhaltsverzeichnis
zugefügt und den Text, der im Original sehr kompakt ist, durch
"neue Zeile" etwas aufgelockert. /SZ]
Vorwort
Eltern
Die Elemente meiner Bildung
Die Universität
Die Kandidatenzeit
Taubenheim bei Meißen
Lockwitz
Dresden-Striesen
Zweiter Hofprediger
In Leipzig in der Petersgemeinde
Mein persönliches und mein Familien-Leben
seit meiner Übersiedlung nach Leipzig
Mein Glaubensbekenntnis
Meine ganz persönliche Glaubensanschauung
Mein
Großvater Chalybaeus hat in der uns allen so lieben Lebensbeschreibung
+) seine Nachkommen gebeten, daß auch wir unsre Erinnerungen
aufzeichnen sollten. Wenn jede Generation das täte, so käme gewiß einst
ein Buch heraus, welches allgemeinen Wert besäße, ein Stück Kulturgeschichte
des deutschen Volkes, in Einzelschicksalen widergespiegelt und belebt.
Von seinen Kindern hat meines Wissens keines des Vaters Wunsch erfüllt,
trotz mancher Vorsätze dazu; auch mein Vater hat es nicht getan, der
allzu bescheidene Mann. - Ich möchte auch nicht gern in den Ruf der
unbescheidenen Selbstüberschätzung kommen! Aber des Großvaters Wunsch
hat mir schon immer kräftig eingeleuchtet; und auf der anderen Seite
habe ich es oft als eine schmerzliche Lücke empfunden, daß ich von meinen
Eltern kein solches Selbstzeugnis besitze, welches ein Urteil über ihre
Strebensziele, ihre Lebensmotive und ihre Überzeugungen gestattete.
Um noch eine Weile bei meinen Lieben nachzuleben, wenn ich die Augen
geschlossen habe, und um die oben bezeichneten Wünsche zu erfüllen,
wenn sie auch in ihnen aufsteigen sollten, habe ich die selbstverständliche
Scheu überwunden und mit lieber Hilfe das Folgende geschrieben.
D. W.Zenker.
+) Sie reicht leider nur bis
1829. Das war Großvaters 33. Lebensjahr, das Todesjahr seiner 1. Frau,
Luise von Kretschmer, und das Jahr seiner Berufung von der Fürstenschule
Meißen an die Universität Kiel.
Mein Kinderbettchen, eine Wiege ist's wohl nicht mehr
gewesen, hat in Dresden-Altstadt auf dem Rosenweg gestanden, wo ich
am 4. Februar 1864 als Sohn des Zollreferendars Albert Julius
Zenker und seiner Frau, Agnes Luise geb. Chalybäus,
zur Welt kam. Das Haus steht heute noch, wohl jetzt Rosenstraße 11 genannt,
neben einem andren, ganz gleichen, hinter die neuere Straßenfront weit
zurückgeschoben. Zwei staub- und rußbedeckte Vorgärten trennen die Häuser
von der Straße. Irgendwelche persönliche Erinnerung habe ich nicht mehr
an dieses Heim meiner ersten Kindheit. Ich glaube, mein anderthalb Jahre
jüngerer Bruder Otto ist schon auf der Ammonstraße 80 geboren.
Meine Eltern gehörten eben zu den Bevorzugten, welche
dem aufstrebenden, laut und schmutzig werdenden Industrieviertel beizeiten
entrinnen durften. Ammonstraße 80 - jetzt No.28 - zwischen der Kl. Plauenschenstraße
und der Poliergasse gelegen, liegt in einer geschlossenen Häuserfront;
aber damals wenigstens - und wohl auch heute noch - lag ihm der große
Garten der Taubstummenanstalt gegenüber, und über diesen hinaus sahen
wir von unsrem 3. Stockwerk in unbeschränkte Weiten: zur Rechten bis
nach Wilsdruff hinüber, mehr links nach Moreaus Denkmal auf den Räcknitzer
Höhen, und wenn man sich etwas hinausbeugte, so konnte man wohl die
Vorhöhen der Sächsischen Schweiz noch sehen. Moreaus Denkmal, ein Dreimaster
und ein Degen auf mächtigem Granitwürfel, zwischen damals
stattlichen Eichen - es hatte uns Kindern vor 1870 noch etwas zu sagen.
General Moreau hatte sich von seinem Kaiser Napoleon getrennt
und war für die Sache der deutschen Freiheit an der Seite der Verbündeten
Fürsten gefallen, welche in den Augusttagen 1813 vor Dresden kämpften.
Das lebte noch in unsren Familien.
Von der Umgebung unsrer Kinderheimat nur soviel: wir waren
in 10 Minuten im freien Feld. Nur wenige Villen an der Chemnitzer- und
an der Bergstraße, die nach Räcknitz führte, trennten uns von Korn-
und Mohnblumen und vom Schmetterlingsfang. Aber im wesentlichen habe
ich meine Kinderfreiheit in dem kleinen Garten hinter dem Hause genossen,
in dem auf einer kleinen Anhöhe, von runder Bank umgeben, eine mächtige,
das vierstöckige haus fast überragende Weide nicht ohne unvergeßlichen
Eindruck auf mich geblieben ist. Doch von dem Haus und seiner Genossenschaft
später. Jetzt will ich von meinen
Eltern
reden. Mein lieber Vater! Ich schätze mich heute und immer
glücklich, daß dieser Mann mein Vater war. Als Sohn des kgl. Privatsekretärs
Geh. Hofrats Albert Zenker und seiner Frau, Emilie geb. Kohlschütter,
war er von beiden Seiten her der Abkömmling einer alten Juristen- und
Beamtenfamilie.
Der erste bekannte Vorfahr steht freilich erst gegen Ende
des 30-jährigen Krieges im Stammbaum, er scheint ein Bauernsohn aus
Weiffa bei Bautzen gewesen zu sein, ist aber Steuerbeamter geworden
und sein Sohn war schon Jurist. Mein Vater, juristischer Finanzmann,
ward Zollrat, Oberzollrat, Finanzrat im Ministerium, Geh. Finanzrat,
stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrate und in den letzten
sechs Jahren seines zu früh abgebrochenen Lebens war er kgl. sächsischer
Zoll- und Steuerdirektor, der Leiter des sächsischen Zoll- und
Steuerwesens, mit dem Range in der 2. Hofrangordnung.
Wir Kinder waren wohl stolz, wenn er zu Hofe ging in seiner
goldgestickten, grünen Uniform, seinen Albrechtskomtur und Verdienstorden
auf der Brust. Ja dann kamen wohl manchmal Tante Lina Francke
und ihresgleichen, um sich an dem schönen Anblick mitzufreuen. Aber
was ist und was war schon damals im Grunde der äußere Glanz, auf den
der Vater selbst ja so garnichts gab. Ich glaube, deshalb fühle ich
mich durch diesen Vater so besonders gesegnet, weil er wahrhaftig garnichts
anderes sein wollte als ein guter Mensch. Andere streben nach Geld und
Ehrenstellungen oder nach den sinnlichen Genüssen des Lebens, in unserem
Vater aber lebte, ich glaube das mit aller Bestimmtheit, garkein andrer
Gedanke, als daß er in edler Menschlichkeit vor seinem Gott bestehen
konnte. Reinheit des Gemüts und der Sitten, Güte gegen jedermann, ein
hohes und der reinen Wahrheit, auch wenn diese schmerzlich war, unbedingt
geöffnetes Denken - das stand ihm als sein Ideal vor der Seele.
Ich glaube, er war bewußt liberal, der Kirche und dem
Dogma gegenüber fühlte er sich völlig frei, aber vor Gott und deshalb
auch vor den Menschen, die ihn wirklich kannten, stand er als ein demütiges
Kind.
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Julius Zenker 1850
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Ich erinnere mich solcher Augenblicke, wo er sich auch
vor uns heranreifenden Söhnen ganz frei zu einem Irrtum oder einer Schuld
bekannte und dies sogar mit wehmütigem Zucken seines Mundes und mit
Tränen bezeugte. Aber sein Leben verlief ja in einer Zeit, die weder
äußerlich noch innerlich so kampfreich wie die heutige war, und so durfte
er, vom äußeren Schicksal getragen, immer bald wieder zum Gefühl
einer schönen Harmonie zurückkehren. Im Grunde war er ein
fröhlicher Mensch, vielleicht nicht von geistreichem Humor, aber
von jener liebenswürdigen Heiterkeit, die eben auf einem friedvollen
Herzen sich aufbaut.
Dem entsprach sein Äußeres. Nicht hochgewachsen,
mehr von gedrungener Gestalt, aber doch auch nicht klein, trug er hoch
sein hübsches und liebenswürdiges Haupt und schaute frei und offen in
die Welt. Die Haare wellten sich länger, als wir sie heute irgendwo
sehen, wenn auch nicht ganz bis zu den Schultern herab. Ich glaube,
das war ein Erbe noch aus der romantischen Periode Deutschlands, etwa
von Schiller her oder von seinen Epigonen. Daß Vater dabei einen kurzgeschnittenen
Schnurrbart trug, scheint mir jetzt auch typisch. Seine Altersgenossen
sind meistens vollbärtig gewesen, und das entsprach wohl auch mehr der
romantischen Gesinnung von damals, dem Volke der Dichter und Träumer,
das Deutschland immer noch war. Aber in seiner Bartform erschien eben
der liberale, einer freieren, aktiveren Lebensform und Zukunft bewußt
zugewendete Geist. Solche Dinge macht man sich nicht klar, aber sie
wirken sich von selbst aus der Seele hervor.
Liberal ist mein Vater, glaube ich, auch in politischer
und kultureller Hinsicht gewesen. Er glaubte an die Güte der Menschenseele
und deshalb auch an das Recht ihrer freien Entwicklung. Doch davon später.
In dieser Gesinnung hat ja schließlich auch der Anlaß zu seinem Tode
gelegen.
Und neben diesem Vater, der keinen Respekt künstlich zu
erzwingen brauchte, weil der Adel seiner Seele ihn von selbst bei allen
- Alten und Jungen, Hohen und Niedren - erwarb, unsere wundervolle Mutter.
Es ist schwer, sie wieder zu sehen, wie sie in der Kindheit war. Ihre
herrliche Mütterlichkeit hat mich bis in mein 51. Jahr hinein begleitet
und gesegnet. Und seit die guten Mutteraugen sich am 6. September 1914
geschlossen haben, bin ich eigentlich erst ein ganz auf mich selbst
gestellter Mensch. Aber beherrscht hat uns diese Mutter nie, nur durch
die Ehrfurcht vor dem Heiligen, die ihres Herzens innerster Kern war,
geleitet und nur mit selbstlosester Liebe gestreichelt und getröstet.
Mutter war eine "Philosophen"-Tochter. Klaus Harms, der weithin
berühmte Kieler Pfarrer, hat sie in seinem Alter konfirmiert und dazu
vorbereitet, und bis in ihre 80er Jahre hinein kam Mutter immer wieder
mit Stolz darauf zurück, daß bei besonders schwierigen Fragen er sich
an sie gewendet habe "das muß meine Philosophentochter wissen".
Mein Großvater, Heinrich Moritz Chalybaeus, entstammte
einer sächsischen Pfarrersfamilie, die in mehreren Generationen das
Pfarrhaus von Pfaffroda bewohnt hatte. Er selbst, Meissner Fürstenschüler
von besonderer Begabung, hatte sich der Philosophie zugewendet und lebte
seit Ende der 30er Jahre als Professor der Philosophie an der Universität
Kiel. Vorher war er Professor an der Fürstenschule und dann am Dresdner
Kadettenhause gewesen; in dieser Zeit ist meine Mutter in Dresden-N.
am 20.April 1832 zur Welt gekommen. Mein Großvater und seine zweite
Frau, Luise geb. Kohlschütter, (die Schwester meiner anderen
Großmutter), waren in Kiel ganz zu Holsteinern geworden und noch viel
mehr seine Kinder. Großvater hat in der dänischen Konfliktszeit als
Verbannter eine Zeit lang in Leipzig doziert. Sein ältester Sohn, Onkel
Robert, trug stolz ein steifes Bein und das Erinnerungskreuz
von der damals freilich noch erfolglosen Befreiungsschlacht bei Idstedt.
Ich glaube, daß Gemütszustände der Eltern in der Geburt der
Kinder sich vererben. Daß ich 1864, in jenem Jahre der entgiltigen Befreiung
Schleswig-Holsteins von Dänemark, geboren bin, hat sicher in mir gewirkt,
leicht - und Gott gebe es - auch der philosophische und zwar auf eine
Christus-verwandte Ethik gerichtete Geist meines Großvaters von Mutters
Seite, der ein begeisterter Schüler, Freund und Nachfolger des jüngeren
Fichte gewesen ist. Großvater war zur Taufe meines ältesten Bruders
1862 nach Dresden gekommen und hat dort sein Grab gefunden. Ich lese
heute noch mit Bewegung an dieser Stelle auf dem Trinitatisfriedhofe
einen Satz aus seinen Werken: "Das höchste Ziel alles Wissens ist der
Geist, nämlich der heilige".
In meiner Mutter lebte viel von diesem Geiste einer bewußten
und sich hingebenden Ehrfurcht vor dem Heiligen. Sie war die verkörperte
Gewissenhaftigkeit. Dies aber nicht in enger und kleinlicher Weise;
sondern die Tatsache, daß sie in Universitätskreisen groß geworden war,
- während der Verbannungszeit hat sie in Marburg in Professor Hermanns
Hause ebenso wie bei Kohlschütters in Glauchau große Eindrücke empfangen
- diese Tatsache prägte sich in einem außergewöhnlich mannigfaltigem
und kräftigem Geistesleben aus. Es scheint mir, daß sie ein ungemein
vielseitiges Interesse gepflegt hat. Sie war in der klassischen deutschen
und auch englischen Literatur, die sie in den Originalen las, ganz bewandert.
Selbst eine geschmackvolle Landschafts-
und Blumenmalerin, war sie voll künstlerischen Interesses; in jungen
Jahren hat sie auch nicht übel mit uns Klavier gespielt und gesungen.
Aber das war es eben, was ich nicht ohne Bewegung heute noch niederschreiben
kann: all dieses Einzelne ging unter in einer so weiten, edlen, reinen
und frommen Menschlichkeit, Weiblichkeit und Mütterlichkeit, wie sie
gewiß nicht häufig sind in dieser Welt. Mutter, nein: Ihr Eltern, Ihr
habt Euren Kindern kein irdisches Vermögen hinterlassen, aber Ihr habt
ihnen das Beste mitgegeben, was Menschen überhaupt einander geben können:
wahres Menschentum. Aus dem ewigen Geiste geboren weist es in die Ewigkeit
hinauf. Das will ich Euch ewig danken!
Es ist doch nicht nötig, den Vers "Es bildet ein Talent
sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt" ganz wörtlich
so zu verstehen, als ob jeder Mensch sich entweder nur zu dem einen
oder zu dem anderen entwickeln sollte. Das Ziel der wahren Menschlichkeit
ist doch eben die Vereinigung von beidem in einem tüchtigen Menschen.
In diesem Sinne muß auch ich von meiner "Bildung" reden. Soweit wie
wir alle hinter dem Bild zurückbleiben, das wir werden sollen, so bedeutsam
ragt doch das Wort Bildung bei unserer Selbstbetrachtung über alle anderen
Gesichtspunkte hinaus. So will ich jetzt auf
die
Elemente meiner Bildung
zurückschauen. Die Stille meiner Kinderheimat muß wohl
den Anfang machen. Meines Vaters reichliche Arbeit und die geselligen
und wirtschaftlichen Anforderungen beeinträchtigten diese Stille schon
recht sehr. Aber etwas davon - und jedenfalls mehr, als ich meinen Kindern
je zu bieten vermochte, - habe ich doch erfahren. Mancher schöne Spaziergang
mit Vater allein oder auch mit beiden Eltern durch den Großen Garten
oder über die Räcknitzer Höhen steht mir in lieber Erinnerung. Vater
machte uns dabei auf alles mögliche aufmerksam und prüfte
und vermehrte unsere Kenntnisse, über Art und Namen der Bäume
und Blumen wie über die Geographie und Geschichte unsrer Heimat,
während Mutter mehr die landschaftliche Schönheit uns deutete. Auch
noch einiger mit den Eltern gemeinsamer Schlittschuhfreuden auf dem
Großen Gartenteich erinnere ich mich.
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Walthers Eltern Julius Zenker und Agnes Zenker geb. Chalybäus |
An Sonntag-Nachmittagen wenigstens sorgten die Eltern
auch für gemeinsame Gesellschaftsspiele. Kartenlotterie, Wettrennen
mit Würfeln, - wenn die Freunde da waren, Tellerdrehen, Blindekuh u.
ähnl. wurde im Salon oder im Garten mit viel Scherz getrieben, und oft
war unter allen der Vater der heiterste Kamerad. Wir waren auch an einen
regelmäßigen und sehr herzlichen Verkehr mit unseren Verwandten gewöhnt.
Am 3. Weihnachtsfeiertage kamen regelmäßig die drei Zenkerschen Geschwister
in einem ihrer Häuser zusammen, in manchen Jahren sogar in jedem, sodaß
wir außer der Weihnachtsfeier im engsten Kreis noch drei größere genossen,
bei welchen doch mindestens 20 bis 25 Personen sich gemeinsam freuten.
Dabei galt es dann immer, für jeden ein Geschenk bereit zu haben, und
die ganze Adventszeit mindestens verging mit emsigen Weihnachtsarbeiten.
Laubsäge-Untersetzer, Pappkästen, wollgewickelte Körbchen, ja auch gestickte
Deckchen und Kissen kamen in größerer oder geringerer Vollendung aus
unseren Kinderhänden und wurden herzlich angenommen, um dann freilich
wohl in den verschiedenen Stuben der Verwandtenhäuser mehr oder weniger
ärgerlich herumzustehen, bis sie genügend verstaubt waren.
Der ältere Bruder meines Vaters war der Kreissteuerrat
Robert Zenker mit seiner stillen, lieben, feinen Frau, Tante
Julie, geb. Garten. Da waren zwei ältere Kusinen, Luise
und Agnes, von denen besonders die erste, unverheiratet gebliebene
bis zu ihrem Tode mir nahestand. Da war der Vetter Alfred - in
seinen Sekundanerjahren eine ausgesprochene Range, der uns Jüngere doch
nicht immer erfreulich zwiebelte. (Ich denke noch an die Schwierigkeit,
die er mir wiederholt damit bereitete, daß er meine Kreuzschüler-Mütze
mir vom Kopfe riß und in irgend eine offene Hausflur weit hinein warf,
sodaß ich sie nur durch eine demütige Bitte bei den Bewohnern wieder
freikriegen konnte.) Heute lebt unser lieber Vetter Alfred als guter
stiller Oberfinanzrat i.R. in Dresden und blickt auf ein würdiges Amtsleben
in Frieden zurück.
Der Garten der kreissteuerrätlichen Amtswohnung am Packhof
und an der Elbe hat viel schöne Taten von uns gesehen. Aus den Zollschuppen
des Packhofs quollen gelegentlich Rosinen hervor, die keinen Herrn mehr
hatten. Aber schöner noch: Colophonium konnten wir in recht erheblichen
Mengen sammeln, das dann mit trocknen Ästen aufgeschichtet ganz
wundervolle Scheiterhaufen ergab.
Die Schwester meines Vaters war an den Geheimen Rat und
Abteilungsdirektor im Finanzministerium, Bernhard Heymann, verheiratet.
Das war ein Mann von bedeutender Erscheinung und großer Würde; geistreich
und rednerisch gewandt imponierte er uns mit seinem Schillerkopfe außerordentlich.
Bei einer der nicht seltenen Aufführungen, zu denen wir Jüngeren uns
zusammenfanden, aber an denen auch die Älteren manchmal teilnahmen,
stand Onkel Heymann einmal im Deutschrittermantel mit dem großen weißen
Kreuze vor uns und gab ein heute von mir noch nicht vergessenes Bild.
Bei Heymanns fanden Leseabende statt, bei denen wir, reifer geworden,
manchmal mit lesen durften, und manch ein Werk unsrer klassischen Dichter
ist mir da erst lebendig geworden. Ins Theater bin ich selten genug
gekommen, weil es zu teuer war und der Dreigroschenrang unserem Stande
unangemessen erschien. Doch Tell und Wallenstein und Iphigenie habe
ich auch im Theater bewundert.
Bei Heymanns waren Vetter Rudolf, ein nicht erfolgloser
Nachahmer seines Vaters, und die mir gleichaltrige Kusine Lisbeth,
ein hübsches Mädel; an der habe ich meine ersten Verliebtheitsstudien
gemacht, ihr mehrmals im verstohlenen Winkel die Hand geküßt. Ich weiß
von daher von heimlichen Gefahren, welche kein junger Mensch leicht
nehmen sollte, und an denen vorüber zu führen eine wichtige Aufgabe
für ein reines und weises Mutterauge ist. Ich habe solch ein Mutterauge
- Gott sei Dank - gehabt!
Nicht ganz so nahe wie Heymanns und Roberts war der weitere
Kreis der Verwandten. Jedoch sind auch davon mehrere Familien mir überaus
wertvoll und teuer geworden. Über uns allen stand, in hoher Verehrung
gehalten, das Haus von Onkel Volkmar Kohlschütter, in meiner
Kinderzeit Superintendent von Dresden, früher von Glauchau, und von
1873 an sächsischer Oberhofprediger. Die Kohlschütters haben eine Zeit
lang in Sachsen eine eigene Rolle gespielt. Der ältere Bruder des Superintendenten
war Geheimrat und stellvertretender Minister - ich weiß nicht mehr,
ob im Inneren oder Justiz-Ministerium - und hat die politischen Prozesse
gegen die Aufrührer von 1849 von der Regierungsseite her geführt. Der
zweite Bruder, Rudolf, war ein besonders in liberalen Kreisen
hochangesehener Rechtsanwalt - Justizrat - in Dresden und verteidigte
oft dieselben Leute, die der ältere zur Anklage gebracht hatte. Der
dritte Bruder, Onkel Volkmar, wirkte von der Kanzel her zur Versöhnung
der aufgeregten Parteien. Wirklich nahe gestanden hat uns nur dieser
und sein Haus.
Wenn ich vor meinem 9. Jahre in die alte Superintendentur
an der Kreuzkirche oder später in das schöne Haus an der Bergstraße
kam, wo Onkel Volkmar wohnte, dann war das Herz immer von banger Ehrfurcht
erfüllt. Und wenn man dann drinnen war, kam erst Tante Anna,
die Tochter, oder, wenn sich's um Wichtigeres handelte, die gütige,
still-vornehme Tante Agnes Kohlschütter selbst ins Zimmer und
fragte mich aus. Da kam auch alles zum Vorschein, was man wohl anderen
verbarg. Den beiden Lieben gegenüber war Ehrfurcht und Vertrauen
eins. Kam man dann zum alten Onkel in seine Stube mit den hohen, unendlichen
Bücherbrettern hinein, dann wußte er schon Bescheid. In kurzen Worten
hatten die Seinen es ihm gesagt, und mit stiller Ehrfurcht nahm man
einfach die gütigen Worte und Ratschläge entgegen, die er einem
in Kürze gab. Dieselbe große Würde strömte von ihm auf seiner Hofkirchenkanzel
aus. Wenn ich heute mir ein Urteil bilden darf, so möchte ich glauben,
seine Predigt war ein Musterbeispiel der alten sächsischen Kunstpredigt,
die doch in den 80er Jahren schon längst altmodisch geworden war und
keine große Wirkung mehr ausübte. Ein Aufbau voller Perioden, bis aufs
letzte Wort gefeilt, und christliche Gedanken, an unsren großen idealistischen
Philosophen gebildet; doch, wie gesagt, 1870/71 hatte der Welt eine
andre Richtung gegeben, die früher und in der Blütezeit auch unsres
lieben Onkels von solcher Predigtweise begeistert gewesen war.
Eine Tochter von Onkel und Tante Kohlschütter war Tante
Mathilde Kühn. Sie ist nur 21 Jahre älter als ich und war eine
strahlende junge Frau in der Zeit, aus der ich noch lebendige Erinnerung
habe, an der Seite eines überaus lebens- und charaktervollen jungen
Pastors, der als Diakonus an der Kreuzkirche wirkte. Onkel Ernst
und Tante Mathilde Kühn! Ihr habt mein Leben fast von den ersten Schritten
an und Du, liebe Tante, nun bis heute noch in stetem Gleichklang begleitet!
Onkel Kühn hat mich als Tertianer in zeitweiligem Mißgeschick der
Schule emporgezogen. Onkel Kühn ist mein nicht nur geliebter, sondern
auch ein wenig gefürchteter Konfirmator gewesen, dann mein wertvoller
Berater beim Antritt des theologischen Studiums. Er hat mich ins Rauhe
Haus empfohlen, hat mich in meiner 2. theologischen Prüfung geprüft,
ist der treueste Freund und Kollege für mein Haus und Amtsleben bis
zu seinem Tode geworden. Zuletzt habe ich auch noch als Kollege mit
ihm am Prüfungstisch im Landeskonsistorium gesessen, wo der gewaltige
Hebräer auch im Alter noch manche schreiende Unkenntnis mit einem heißen
Kopfschütteln beantwortete und seine "4" mit heftiger Handbewegung niederschrieb,
während ich an den Schätzen der praktischen oder der historischen Theologie
mit meinen Kandidaten schüchtern herumhaspelte. Doch das eilt weit voraus.
In meiner Jugend waren's mehr die Eltern, als die Kinder
des Kühnschen Hauses, die mich beschäftigten. Bald ist es dann auch
zu innigen Beziehungen mit der ältesten Tochter Lisa, die unseren
prächtigen Paul Drews geheiratet hat, und mit der jetzigen
Diakonissenmutter Cila, mit Christian, Volkmar,
dem durch seine Epilepsie schwergeprüften, und mit Mathilde,
Ernst und Margarete gekommen. Und an denen allen und ihren
Kindern hängt jetzt ein Stück meines Herzens.
Von Onkel Rudolf Kohlschütters Töchtern war die älteste,
Tante Natalie, meine geliebte Patin. Sie hat wohl weniger im
religiösen, als im allgemein menschlichen Sinne eine so treue Fürsorge
für mich geübt, daß ich ihr über das Grab hinaus Dankbarkeit bewahre.
Auch ihre Schwestern, Tante Paula, Tante Cissi und Tante
Lieschen (Küttner) leuchten als freundliche Sterne meines Jugendlebens
weiter. Tante Paula, die Malerin, und Tante Lieschen leben auch heute
noch in hohem Alter. Es bestand ein Kusinenkränzchen meiner Mutter,
und aller paar Monate, wenn es bei uns war, hallte der Salon von 20
fröhlichen Stimmen wider.
Außerdem hatten meine Eltern ein Skatkränzchen. Zwei Freundesfamilien,
Bergrat Köttigs und Geheimrat Freieslebens, wendeten
dabei auch uns Kindern ihr freundliches Interesse zu. Paul Köttig,
der Sohn, war - älter als wir - der erste, der uns als Student
mit seinen mächtigen Schmissen, aber im Ernste auch später als Polizeipräsident
von Dresden wirklich imponierte.
Noch gehören in den engeren Kreis unsres Verkehrs zwei
entfernte Verwandte hinein. Unter uns, zwei Treppen hoch, wohnte in
der Ammonstraße auch ein Pate, Exzellenz Generalleutnant von Heintz,
ein Vetter 2.Grades von meinem Vater, mit seiner lieben Frau, geb. von
Kiesenwetter. Bei Tante Heintz konnten wir uns noch in alten höfischen
Formen üben, da gab es noch tiefe Verbeugungen und Handküsse. Onkel
Heintz steht in meiner Erinnerung als barscher Soldat, der freilich
schon längst im grauer Zivilrock umherging, nur selten, aber dann doppelt
eindrucksvoll, in der alten sächsischen Generalsuniform mit seinen Großkreuzen,
seinen Heinrichsorden, seiner goldenen Schärpe und einem mit dunkelgrünen,
leuchtenden Federn geschmückten Dreimaster.
So sahen wir Kinder ihn im April 1874; da kam nämlich
plötzlich die Köchin Amalie zu uns herauf: "der König
ist da, der König ist da!" König Albert hatte
im April 1849 beim ersten Sturm auf die Düppeler Schanzen unter unserem
Onkel Heintz, als Führer des sächsischen Kontingents, die Feuertaufe
empfangen und gedachte noch 25 Jahren des Tages mit einem Besuch und
Blumenstrauß für seinen alten Kommandeur. Wir stürzten auf die Treppe
hinunter, und als König Albert zurückkam, gab er uns Jedem die Hand
und frug nach unseren Namen, ein für die Kinderseele natürlich unvergeßliches
Ereignis. Dann durften wir den Onkel in seiner ganzen Schönheit bewundern
und die Reste des eilig herbeigeholten Kuchens essen. Onkel Heintz war
übrigens derjenige Generaladjutant, welcher auf der unglücklichen Todesfahrt
unseren König Friedrich August 1854 durch Tirol begleitet und
von der Unglücksstelle Kitzbühel aus die hohe Leiche nach Dresden gebracht
hatte.
Ein anderer Offizier in unserem Kreise war der österreichische
Major Burckhardt, für den und seine Schwester Therese,
die ihm den Haushalt führte, mein Vater in seiner gewohnten Güte mancherlei
Fürsorge übte. Deren bedurfte er in seinem Alter, obgleich er auch da
noch manchmal mit seinen blauen Beinkleidern und seinem weißen Uniformrock
sehr stattlich bei uns auftrat.
Auf meine seelische Entwicklung haben auch unsre Dienstmädchen
und unsere Hausschneiderin einen nicht unbedeutenden Einfluß geübt,
umsomehr als unsere Eltern beide sehr auf Zuvorkommenheit und Achtung
auch den sogenannten geringeren Leuten gegenüber bei uns hielten. Das
schätze ich jetzt in meinem Alter als einen der wertvollsten Einflüsse
vom Vater her, daß wir immer gewohnt waren, in anderen Menschen den
Mitmenschen und nicht den Rang und Stand zu ehren. Wenn wir unseren
Vater in seinem Dienstgebäude als Primaner besuchten, dann mußten
wir uns auch vor dem Amtsdiener höflich verneigen. Nun also, unser Riekchen,
das Kindermädchen durch alle meine Kinderjahre, hübsch, heiter,
sauber, feiner Kerl, Schneiderstochter aus Schmiedeberg, die ist wirklich
eine gute Kameradin für uns gewesen, hat auch von unseren Schularbeiten
etwas verstanden und genoß Respekt und Liebe zugleich. Als sie einmal
eingeschlafen war, haben wir ihr mit unserem Farbenkasten einen mächtigen
Bart gemalt. Das hinderte aber nicht, daß wir am nächsten Tage bei irgend
einer Unbotmäßigkeit uns ihre strafende Hand auf unsren Backen gefallen
ließen. Der Vater hätte auch bald für Ordnung gesorgt, wenn das nicht
geschehen wäre.
Daneben in den guten Jahren der höheren Amtsstellung auch
Frieda, die Köchin, schwarz und schneidig; die kam uns weniger
nahe, steht aber als ein tüchtiger, ehrenwerter Mensch ebenso hoch in
meiner Erinnerung. - Und Frau Nadler, die Flickschneiderin, schweres
Kaliber, riesig heiter, herzensgut und deshalb geschätzte Hausfreundin
bei jung und alt. Wenn sie eine ihrer massiven Anekdoten erzählte, konnte
sie sich wohl derartig schütteln vor Lachen, daß hinter ihr die Stuhllehne
abbrach, was uns dann fast noch mehr amüsierte, als ihre wohlbekannten,
aber immer wieder gern gehörten Witze. In der ersten Zeit hat sie uns
auch unsre Anzüge gemacht; dagegen wehrte sich endlich der Quartanerstolz.
Aber mir ist, als wären wir aus dem Regen in die Traufe gekommen, als
Vater dann für uns Herrn Steigleder als Schneidermeister wählte,
einen minderen Künstler seines Faches, sicher aus demselben Grundsatz
heraus zu uns gekommen, der unseren Vater ernstlich erfüllte, uns
von Eitelkeit und Unbescheidenheit fernzuhalten.
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Otto Immisch
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Ich gehe nun zur Schule über. Aber vor deren Pforten leuchten
zwei teure Gestalten, deren Jugendbild nun den Abschluß meiner Erinnerungen
an die Menschen meiner Kindheitseindrücke machen soll. Als ich das Aufnahmeexamen
nach Quarta der Kreuzschule machte, da nahte sich mir der in gleicher
Lage befindliche Otto Immisch, der damals und in allen folgenden
Jahren vor uns anderen weit voranleuchtete, wohl nie eine andere Zensur
als die reine 1 gesehen hat und dabei uns geringerem Volke gegenüber
vom ersten Tage an bis heute der treueste Kamerad geworden ist, den
es in der Welt geben kann. Durch alle die Jahre von der Quarta bis Unterprima
sehe ich mich jetzt noch in jeder Pause mit ihm aufs engste umschlungen
durch die Gänge schweifen. Er würgte mit seinem rechten Arm meinen Hals,
ich mit meinem linken den seinigen, und die beiden anderen Hände fanden
sich hinter unserem Rücken. Da haben wir, wie auch auf manchem Spaziergang
und in unseren Häusern, unser Erleben gründlich durchphilosophiert.
Ich bewahre auch heute noch Briefe auf von meinem Freund, die voll weltschmerzlicher
Rätsel sind. Ja, wir dürfen wohl sagen, daß wir es ernst genommen haben
mit unsrer Weltanschauung und damals ist manches wenn nicht zur Reife
so doch zur Blüte gekommen, was heute noch einen mir wertvollen Inhalt
meines Geistes bildet. Mein Immisch!, vielleicht liesest Du diese Zeilen
einmal; dann sei Dir auch an dieser Stelle gedankt, daß Du nicht bloß
mein Schwager, sondern mein Freund geblieben bist bis ins Alter.
Aber noch ein Stern ganz anderer Art, doch nicht weniger
helle, leuchtet mir aus jenem bedeutungsvollen Jahre 1874 auf. Wir machten
unsere erste weite Reise. In Kiel lebte damals als Konsistorialat der
von mir besonders hochgeschätzte und sehr geliebte Onkel Dr. jur. Heinrich
Chalybaeus (später Präsident des Konsistoriums in Kiel und Präsident
des Landeskonsistoriums in Hannover, als D. theol., Wirkl. Geheimrat
und Excellenz in Kiel gestorben) mit unserer lieben Tante Amalie,
geb. Jepsen. In der Nähe von Kiel war der jüngste Bruder, Onkel
Walther, Pfarrer im Bordesholm (später Propst in Alt-Rahlstedt).
Ich bin lange geneckt worden, daß ich die junge Tante Theodora
gar so "herzig" fand. Und noch einem weiteren Kreise von lieben Verwandten
habe ich dort viel zu danken. (Ich sehe sie noch vor
mir, die große Tafelrunde bei Jakob Hansen, Onkel Heinrichs Schwager;
wohl mehr als 20 Angestellte des Kaufhauses aßen alle Tage an seinem
Tische und genossen eine patriarkalische Erziehung und Fürsorge,
nicht schlechter, als die acht Kinder.)
Von Kiel weiß der damals 10jährige sich nur noch des köstlichen
Blickes über den Hafen von Bellevue aus zu erinnern. Da lagen die ersten
Kriegsschiffe des Deutschen Reiches. "König Wilhelm", "Kronprinz", "Friedrich
Karl", an dem später gewohnten Maßstab gemessen, freilich wohl unbedeutende,
schwarze, niedrige Bauten; aber dem Knaben imponierten doch eben diese
Sinnbilder der deutschen Herrlichkeit gewaltig.
Jedoch, das wollte ich eigentlich nicht erzählen, sondern
den Augenblick festhalten, wo hinter einem großen runden Tisch in Onkel
Heinrichs Eßstube auf dem Dammweg in Kiel eines Tages ein kleines 10jähriges
Mädchen stand, von der ich heute noch weiß, daß sie sehr intelligent
und sehr lieblich aussah, in hellem blauen Baregekleid. Es war wie in
einem Museum. Durch den Durchmesser des großen Tisches getrennt, starrten
wir uns gegenseitig an, wagten kaum zu sprechen und mußten erst aufgefordert
werden, uns die Hand zu geben. Langsam hat sich der Bann gelöst bei
unseren damals wiederholten Zusammentreffen. Aber heute noch ist mir,
als sei von Anfang an eine große Zuneigung mit heiliger Ehrfurcht gemischt
in mir gewesen. Dies Mädchen ist von da an, ich darf es sagen, bis zu
ihrem Tode 1902 ein Heiligenbild für mich geworden. Die Jahre der Jugendfreundschaft
in soviel Kinderglück und Kinderernst waren wundervoll, ebenso wie die
Jahre unserer kurzen Ehe. Käthe Schumann war bei ihrem alten
Onkel Heinrich Speck, ihrer Mutter Bruder, dem Direktor der Gasanstalt,
zu Besuch. Eine alte Kinderfreundschaft unsrer Mütter lebte damals wieder
auf, die bei der Berufung des Vaters in den Bundesrat nach Berlin weiterhin
gepflegt ward.
So führt Gott uns Menschen ungeahnt zusammen. "Die sich
nach dem Angesicht niemals hie bevor gekannt und auch sonst im Leben
nicht in Gedanken zugewandt, deren Herzen, deren Hand knüpft Gott in
ein Liebesband". - O meine Kinder, daß Ihr doch alle sagen dürfet, daß
Ihr den Menschen, den Ihr liebet und der Euch zum Lebensgefährten bestimmt
ist, zu gleicher Zeit auch still verehret. Dies habe ich sicherlich
als den höchsten Wert aller Verbindung von Menschen erfahren.
Unser Zusammenwachsen ist nur langsam fortgeschritten.
Nachdem Vater 1877 zum Bundesrat bevollmächtigt worden und zum fast
ständigen Aufenthalt in Berlin gezwungen war, fand er für seine seltenen
Mußestunden im Schumannschen Hause gastlichste Freundschaft. Das hat
auch uns Kinder alle zu gelegentlichen Gästen bei Schumanns gemacht.
Ein Briefwechsel und auch ein wiederholter Kinderaustausch für die Ferienwochen
entwickelte sich. Und so festigte sich das Band, bis ich nach meiner
Kandidatenprüfung es wagen durfte, die entscheidende Frage zu stellen.
In der Zeit, von der ich jetzt rede, stand einstweilen
noch im Vordergrund der Knabenfreundschaft Mimi Schüler. Und
wenn ich heute an die zurückdenke, so möchte ich fast noch einmal ausrufen:
Donnerwetter, daß man mit so was Feinem mal verkehrt hat! Der Vater
war der vornehme Direktor der Hainsberger Papierfabrik, äußerlich ganz
wie ein hoher Beamter, wohlhabend, deshalb 1. Etage wohnend. Mimi, meine
Altersgenossin, schlank, fein geschnittenen Gesichts, ein forsches Mädel,
das heute sicher jedem Sport ergeben wäre, blond, stets aufs beste gekleidet,
aber ohne jede Koketterie und Eitelkeit, ganz Natur, ein teilnehmender
Kamerad, bis wir ins Studium gingen. Später sind wir uns ferner getreten;
sie hat einen Arzt, Dr.Rau, geheiratet. Wir haben uns bei jeder Begegnung
froh unsrer Kinderzeit erinnert; aber jetzt weiß ich nicht einmal, ob
sie noch lebt.
Wenn ich nun meiner Schule zuwende, so muß ich dies mit
einer psychologischen Selbstbetrachtung beginnen, ich glaube, hier an
der rechten Stelle. Alle häuslichen Bildungsmomente nimmt man naiv auf;
aber über die Schule reflektiert man und an ihrer Schwelle wohl auch
zum ersten Male über sich selbst. Ich bin wohl von manchem meiner älteren
Jugendbekannten als ein träumerisches und sentimentales Kind bezeichnet
worden. Was das letztere anbelangt, so habe ich sehr bald bewußt angefangen,
dagegen zu kämpfen. Ich weiß die Veranlassung noch. Es wurde in unserem
Familienkreise ein frommes Lied gesungen. Ich glaube, es hat mich wirklich
gefesselt. Aber vielleicht habe ich doch ein stilles Wohlgefallen daran
gehabt, mein Auge verklärt nach oben zu richten. Plötzlich merkte ich,
daß sich die anderen gegenseitig darauf aufmerksam machten, ich weiß
nicht, ob tadelnd oder sympathisch. Jedenfalls wurde ich mir bewußt:
jetzt bist du unwahr gewesen, und ich habe diese Empfindung nie vergessen
und mir ehrliche Mühe gegeben, ähnliches weder außen noch innen je wieder
aufkommen zu lassen.
Träumerisch? Ja, zu einer gewissen Phantastik und Romantik
habe ich wohl geneigt. Ich beschäftigte mich gern mit Modellierbogen.
Da wählte ich immer die Ritterburgen und spielte mit den Rittern und
Ritterfrauen, die darauf waren, selbsterfundene Theaterstücke. Ich weiß
auch noch, daß ich eine Schokoladenfigur einmal mit Silber- und Goldpapier
derartig ausputzte, daß sie mir wie ein stolzer Ritter erschien, und
das war für mein damaliges Empfinden kein unbedeutendes Erlebnis. Dennoch
glaube ich nicht, daß die Bezeichnung eines träumerischen Kindes für
mich ganz zutraf. Ich habe, mein' ich, von Natur einen tiefen Drang
zum Fachdenken über die letzten Wahrheiten empfangen. Der Faustische
Satz "daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält", ist
mir aus der Seele gesprochen. Und schon in zeitigster Kindheit ist eine
tiefe Sehnsucht nach Wahrheitserkenntnis sicher mein innerstes Leben
gewesen. Natürlich war das Bewußtsein davon nicht deutlich, aber des
von Anfang an unwiderstehlichen Dranges bin ich mir eben später mit
steigender Klarheit bewusst geworden. Jetzt weiß ich, daß ich dabei
von Anfang an weniger ein intellektuelles, sozusagen wissenschaftliches,
Interesse verfolgte als vielmehr ein ethisches. Ich wollte ganz einfach
ein wahrer und guter Mensch werden und ahnte, daß dies nur im Zusammenhang
mit dem geheimnisvollen Gott erreicht werden könne.
Dies habe ich vorausschicken müssen, um zu erklären, warum
ich in der Schule zeitweise ein guter und in einem gewissen Alter doch
auch ein schlechter Schüler wurde. Zunächst war ich einfach gehorsam
und deshalb fleißig, tat, was meine Lehrer mir aufgetragen hatten. Um
das 12. Jahr begann aber eine größere Selbständigkeit. Ich konnte nicht
erkennen, was gewisse Schulkenntnisse für den Weg zur höchsten Wahrheit
zu bedeuten hatten, und lehnte deren Verfolgung darum mit einem instinktiven
Widerwillen ab. In den Bestrebungen, die nach meiner Meinung mich dem
Höchsten näherbringen konnten, bin ich niemals faul gewesen. Ich glaube,
daß ich in Wirklichkeit doch immer ein geistiger Arbeiter war. Heute
weiß ich freilich, daß der Weg ins Innerste nur umso besser gefunden
wird, je mehr man auch in den äußeren Dingen sich zurecht findet, und
ich glaube, daß es überhaupt nichts gibt, das man umsonst gelernt haben
könnte.
Endlich: ich war gutmütiger Art und soweit mich die auf
mich immer drückende ehrfürchtige Scheu vor der geahnten höheren Welt
nicht davon abhielt, habe ich auch immer gern gelacht und kindliche,
manchmal wohl auch kindische Scherze geliebt. Was meine Willensanlage
betrifft, so darf ich mich wohl nicht als einen starken Menschen bezeichnen.
Das Moralische ist mir allerdings nach jenem berühmten Worte immer selbstverständlich
gewesen, aber Reizen und Widerständen habe ich mich oft nicht genug
widersetzt. Bei zunehmender Selbsterkenntnis habe ich bewußt angefangen,
um Willenskräftigung zu kämpfen und hoffentlich nicht ganz erfolglos.
Daß aber die Psalmen und Paulus, die soviel von der menschlichen Sünde
und deshalb auch von der Seligkeit der Gnade wissen, vollkommen recht
haben, ist sicher eine meiner tiefsten Lebenserfahrungen.
In einem gewissen Gegensatze zu der bezeichneten Schwäche
steht allerdings die Beobachtung, der ich mich nicht verschließen kann,
daß ich im Unterschied von manchem energischen Menschen doch fast zwangsmässig
eine große Zähigkeit im Streben nach fernen Willenszielen von jeher
besitze. Ist mir einmal eine Notwendigkeit oder ein Ideal als unbedingt
erstrebenswert aufgegangen, (manchmal liegt das auch im Unterbewußtsein
fest) so kann mich nichts mehr von dem Streben nach dem Ziele zurückhalten.
Im allgemeinen also bin ich wohl ein Gefühlsmensch, Gott sei Dank nicht
arm an dem auf einer starken Bewertungskraft beruhenden Lebensglück,
und mein Verstand ist gerade stark genug, die Strebungen des Gefühls
und des Willens in Ordnung zu halten und mir auch eine Weltanschauung
aufzubauen, die einer hinreichenden Erkenntnisbegründung nicht ganz
entbehrt.
Ein so veranlagter Mensch ist nun 1870 in die Schule eingetreten.
In unseren sogen. guten Familien galt es schlechthin für mauvais genre,
(die höhere Gesellschaft in Sachsen liebte noch lange die französischen
Fremdworte), die Kinder in eine öffentliche Bürger- oder gar Bezirksschule
zu schicken. Ich kam also in die Böhmesche Privatschule in der Ferdinandstraße,
ein Familienhaus, in dem die Stuben zu wohl nicht ganz genügenden Klassenzimmern
verwandelt waren, und trug eine braune, goldgestreifte Mütze. Viel weiß
ich von diesen ersten Schuljahren nicht mehr. Nur die Bemerkung drängt
sich mir sofort wieder auf, daß die Schule soviel bedeutet wie der Lehrer.
Alles Gute, was ich in der Schule empfangen habe, kam von den Persönlichkeiten
her, die ich als solche lieben und schätzen gelernt hatte. Schulbücher
und Schulvorträge allein haben mir wenig genützt.
Mein erster Lehrer war Herr Brückner. Seiner Väterlichkeit
verdanke ich meinen Eifer, gut zu schreiben und zu lesen. Ein anderer
Lehrer steht mir noch vor Augen, der uns die Anfangsgründe des Französischen
beibrachte und in seinem Aussehen wie in seinem Namen etwas vom ancien
régime in Frankreich wirklich gezeigt haben muß: monsieur le
Duc mit schwarzem Spitzbart, breitem Gesicht und kräftiger Hakennase
- ein würdiger Mann, der mich doch mit Zuneigung erfüllte.
Ob ich unserem Herrn Direktor Böhme unrecht tue,
weiß ich nicht. Aber ich muß wiedergeben, was sich in der Erinnerung
festgesetzt hat. Es stand uns Knirpsen fest, daß er am freundlichsten
gegen die Schüler war, deren Vater am besten bezahlte. Unser Vater bekam
sein Gehalt in blanken Goldstücken und zahlte deshalb auch mit dieser
Münze das Schulgeld für seine drei Söhne. Wir glaubten und wurden deshalb
auch wirklich beneidet, daß wir die große Freundlichkeit unseres Direktors,
die er uns besonders zeigte, dieser Gewohnheit unseres Vaters zu verdanken
hatten. Er nahm das Schulgeld auch selber ein.
Mit 10 Jahren bestand ich meine Aufnahmeprüfung in die
Quarta des Gymnasiums zum heiligen Kreuz, unserer Kreuzschule. Sie steht
noch heute am Georgplatz, ein jetzt uns allen ärgerliches Beispiel jener
Zuckerbäcker-Gotik, die in keiner Hinsicht Gotik ist. Damals imponierte
sie nicht nur den jungen Gymnasiasten. Daß mit mir gemeinsam Immisch
die Prüfung machte, habe ich schon gesagt. Die Kreuzschule stand damals
in hohem Ansehen. Rektor Hultzsch, ein klassischer Philologe
von altem echten Schrot und Korn, war seinem ganzen Wesen nach ein echter
Humanist, dem Menschenbildung nach dem klassischen Menschheitsideal
die höchste Angelegenheit war. Leider habe ich diesen Mann als Lehrer
fast garnicht gehabt.
Unter meinen Lehrern, die mir auf verschiedenen Altersstufen
wiederholt begegneten, stelle ich ein Zeugnis herzlicher Dankbarkeit
meinem Professor Snell aus. Ich bin mit dieser Wertschätzung
bei manchem Kameraden auf Widerspruch gestoßen; Snell galt bei vielen
für hinterhältig, aber mir hat er mit großem Wohlwollen und bei der
Lektüre der lateinischen und deutschen Klassiker mit einer eigenen warmen
Begeisterung den Weg in die Höhe so deutlich gezeigt, daß ich auch durch
die kritische Zeit der Schulschwäche mich endlich hindurchfand. Die
Schwäche befiel mich in Obertertia und war zum Teil wohl körperlich
begründet, zum größeren aber in der von mir vorhin geschilderten falschen
Meinung, daß ich Nebensächliches glaubte ablehnen zu dürfen, um die
Hauptsache nicht aus den Augen zu verlieren. In Obertertia blieb ich
sitzen, verlor dadurch die Klassengemeinschaft mit meinem Freunde Immisch,-
was aber, ihm sei Dank, seine Treue nicht im geringsten beeinträchtigt
hat -und mußte mich mit neuen Schulkameraden zusammenfinden. Die an
den Zensuren sehr deutlich erkennbare Lähmung wirkte trotzdem noch weiter
bis in den Anfang der Obersekunda hinein. Aber dort eben war es der
Einfluß von Professor Snell, der mich fast plötzlich aus einem minderwertigen
zu einem guten Schüler wieder gemacht hat. Ich rückte damals von der
vorletzten auf eine der obersten Bänke hinauf mnd durfte das Abitur
als 19Jähriger doch glücklich mit einer IIa vollenden.
Professor Snell hieß "der Lump" bei seinen Schülern, Dr.
Richter hieß "Muffel", Professor Abendroth trug sicher nicht
ohne Recht den Namen "Schnauzer", und daß unser Religionslehrer, Dr.
Sperling, "Spatz" hieß, war ja wohl selbstverständlich. Ich hatte
das Glück, in der Matematik nicht von Abendroth, sondern von Dr. Amthor
unterrichtet und in diesem wichtigen Fache durch seine Klarheit zu lebendigen
und klaren Anschauungen geführt zu werden. Ich glaube, daß mein philosophisches
Denken in jenen Mathematikstunden der Oberklassen eine zunächst unbewußte
aber wesentliche Förderung erfahren hat.
Der Religionslehrer Sperling hat mir, der ich religiös
sehr sehnsüchtig war, nicht viel gegeben. Ich habe ihn in Erinnerung
als einen kritischen Geist, der selbst in seinem Glauben keinen Frieden
gefunden hatte, und die Welt als ein - trotz aller christlichen Offenbarung
- schmerzliches Rätsel empfand.
In die Welt des griechischen Geistes war Professor Neissner
uns einzuführen berufen; dieser steifleinene Pauker hat mir wenigstens
und gewiß manchem anderen kaum eine Anregung zu geben verstanden. Wenn
mir trotzdem aus jenen Jugendtagen Platos Dialoge als eines der herrlichsten
Lebenswerke vor der Seele stehen, die je vollbracht worden sind, so
ist es eben die Wucht des erhabenen Geistes selbst gewesen, der sie
geschaffen, und nicht eine begeisternde Vermittlung meiner Lehrer. Die
Platonsche Ideenlehre hat für mein ganzes inneres Leben bleibende Bedeutung
bekommen.
Das Hebräisch war für den künftigen Theologen Pflichtfach
von Obersekunda an. Professor Grund, der Religionslehrer der
Parallelklassen, hat mich darin unterrichtet. Exakt, hart, fordernd;
ich glaube aber, daß diese Methode für den Anfänger die richtige war.
In den "Geist der hebräischen Poesie" und des ganzen israelitischen
Schrifttums kommt man als Student noch zeitig genug hinein. Zunächst
war es gut, daß man die schwierigen Formen beherrschen lernte.
Das also war meine Schule. Wenige Wochen nach meinem 19.
Geburtstag schloß ich sie ab.
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Dresdner Neumarkt im 18. Jahrhundert (Canaletto)
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Ich war - leider - ein "Staatskrüppel" und für die
Einjährigen-Dienstpflicht nicht angenommen. Damals hat, mich das gefreut,
weil ich nun ein Jahr früher als die anderen auf die Universität durfte,
später habe ich es sehr oft bedauert.
Zu den Elementen meiner Bildung gehört aber nicht nur
Verkehr und Schule, sondern auch die Natur und die Kultur meiner Heimat.
Von unserem Hausgärtchen und dem darin mit Mimi Schüler und Immisch
getriebenen Sport habe ich schon gesprochen. Jetzt denke ich daran,
wie unser Vater - manchmal auch mit Mutter - uns mehr oder weniger willig
durch die Bürgerwiese und durch den Großen Garten schleifte. Solche
Spaziergänge sind einem Jungen wohl gewöhnlich nicht das Ideal seiner
Freiheitswünsche. Vor 1873 geschah es manchmal, daß wir dem alten König
Johann dort draußen begegneten. Dann standen wir tief dienernd in
einer Reihe an der Seite des Weges, und wir Kinder waren stolz, daß
unser Vater einen besonders freundlichen Gruß bekam.
Aber was waren alle jenen kurzen Spaziergänge gegen die
köstliche Zeit unserer Sommerfrischen! Durch einen seiner Grenzkontrolleure,
unseren alten Freund Lohse, war unser Vater der Entdecker der
Sommerfrische Schmiedeberg geworden. Jetzt ist es ein rußiger Industrieort,
soviel ich weiß. Aber Jahrzehnte lang haben Hunderte von erholungssuchenden
Dresdnern meinem Vater gedankt. Schmiedeberg! Dort habe ich die ersten
Heuschrecken gesehen, dort ist für lange Zeit das kleine Löwenmaul,
linaria officinalis, meine lieblingsblume geworden, dort habe
ich überhaupt das innige Verhältnis zur Natur gewonnen, das ich jedem
Menschen wünsche, und das ich bei Großstadtkindern so selten finde.
Was waren in dieser Hinsicht aber auch unsere Eltern für
besondere Lehrmeister. Mutter malte die Landschaft und die Blumen und
lehrte sie uns lieben. Vater aber duldete nicht, daß wir an irgend einer
interessanten Erscheinung in der Natur achtlos vorübergingen. Wir kannten
Namen und Eigenart aller Bäume, Gräser und Steine, mußten auf der Landkarte
Bescheid wissen und so weit das Auge reichte die Berge, Städte und Dörfer
benennen. Mir hat es immer selbstverständlich geschienen, daß man die
Welt mit offenen Augen anzusehen hat. (Beiläufig: Vaters
klarer Blick war der Entwicklung in mancher Hinsicht voraus: so hat
er, um uns praktisch und sozial zu fördern, uns während mehrerer Jahre,
bei dem Buchbinder Lohse in der Gr. Plauenschen Straße allsonntäglich
Werkunterricht nehmen lassen.) Das danke ich meinem Vater und
in diesem Augenblicke erinnere ich mich auch noch der tiefen Mißbilligung,
welche die Weltferne eines lieben Jugendfreundes, Paul Meier,
des Sohnes meines überaus verehrten, ja geliebten Oberhofpredigers D.
Meier, bei einem anderen Sommerfrischler, der meinen Eltern als
einer der ersten gefolgt war, Professor Friedrich Polle vom Vitzthumschen
Gymnasium, auslöste.
Professor Polle war ein merkwürdiger Mann, sehr gelehrt,
Herausgeber einer anerkannten Ovidausgabe, wie Fama sagte einst Kellner
gewesen und aus eigenem Arbeitsverdienst aufs Gymnasium und auf die
Universität gegangen. Ein Mann, der den Nachtschlaf geopfert hatte,
um seine Examina zu machen, ethischer Idealist von höchster Kraft. Dieser
Mann hing an meinem Vater, bei dem er einen ähnlichen Geist fand. Unser
verehrter D. Meier schwebte als ein Idealist von höchster Flugkraft
immer in anderen Welten und hat es wohl nicht so wie mein Vater verstanden,
seine Söhne auf der Welt zuhause werden zu lassen. Deshalb zog uns Polle
an sein Herz und teilte uns vieles von seiner wunderbaren Naturkenntnis
mit, während Paul Meier in den Hintergrund treten mußte. Wunderschöne
Wanderungen durften wir machen mit Vater und Professor Polle. Nach Altenberg,
wo wir Erz und Amethystkristalle aus der Binge klopften, nach dem Mücken-türmchen,
von wo man so herrlich weit ins Böhmische Land hinausschaut, nach Frauenstein
mit seiner Ruine. Ja, Schmiedeberg ist langezeit das Paradies meiner
Kinderfreiheit gewesen. Wir waren wohl 6 oder 8 mal von meinem 5. oder
6. Lebensjahre an dort in der Sommerfrische.
Später kam Postelwitz bei Schandau an die reihe -, der
Höhepunkt unserer Kinderparadiese, das Jahr 1878, wo wir mit Schumanns
aus Berlin das Täubrichsche Haus gemeinsam bewohnten und die Kinderfreundschaft
mit den Schumannschen Töchtern für mich und meinen Bruder Otto zur Anbetung
wurde für die Heiligen unserer Jugend, Käthe und Kläre Schumann.
Wir rasaunten auf der kleinen Feldbahn des Täubrichschen Zimmerplatzes
und waren ausgelassene Kameraden, und doch war das Herz von Ehrerbietung
für die feinen Mädchen erfüllt und es ging ein warmer Strom durch uns
hindurch, wenn sie uns erlaubten, ihre Mäntel zu tragen.
Über diesen Schandauer Eindrücken, die so bedeutungsvoll
fürs ganze Leben waren, habe ich fast Kundratitz, die hochgelegene Villa
über dem böhmischen Städtchen Leitmeritz, vergessen, die doch landschaftlich
die schönste von unseren Sommerfrischen gewesen ist. Weit hinaus schaute
der Blick über das bewegte Gelände des böhmischen Mittelgebirges, und
das immerhin schon fremdartige Volksleben gab Anlaß zu völkischen und
geschichtlichen Betrachtungen, die der Vater mit seiner reichen Geschiehtskenntnis
wertvoll ausbaute.
Das waren die Natureindrücke, die in meiner Seele bedeutsame
Lehren zurückgelassen haben; noch wichtiger sind aber wohl die Eindrücke
der Kultur, die meine Dresdner Heimat mir bis zur Begeisterung hin durch
alle meine Jugendjahre schenkte. Die wundervolle Silhouette von Dresden!
Dieser Idealbau der Chiaverischen katholischen Hofkirche, dem aber vollständig
die Wage hält unsere Frauenkirche, vom Ratszimmermeister Bähr erbaut,
eine protestantische Kirche im edelsten Sinne, die wie eine Henne als
Rundbau die Gemeinde mit ihren Flügeln deckt und dabei von höchstem
ästhetischen Werte ist. - Der Zwinger, dieser unvergleichliche Lustgarten
der Rokokoarchitektur, und die Bildergalerie, jener Anbau der neuen
Renaissance, den unser prächtiger Semper mit kongenialem Geiste schuf,
derselbe Semper, der freilich in unserer Kreuzschule ein Beispiel gegeben
hat, daß man die Gotik damals nicht mit gleichem Genie zu erfassen vermochte
wie die alte Renaissance. - Die Brücken über die Elbe, das alte Hoftheater,
das 1869 abgebrannt ist, das alles hat auf meinen kindlichen Geist schon
in zeitigstem Alter einen Eindruck ausgeübt, der von großer bildender
Kraft gewesen ist.
Hier, wo ich von unserem schönen Dresdner Stadtbild erzähle,
steht plötzlich ein Bild vor mir auf, das ich wegen seiner allgemeinen
Bedeutung für meine Lebensentwicklung festhalten will. Der 7jährige
Junge steht mit seinen Geschwistern und seinen Eltern an einem der hohen
Fenster des alten, dicht an der Augustusbrücke und Terrasse gelegenen
Finanzministeriums. Erwartungsvoll sind alle Augen der zahlreich versammelten
Gesellschaft nach der Neustädter Seite hin gerichtet. Da blitzen die
Lanzenspitzen und Fähnlein der Gardereiter oder Ulanen auf. In fliegendem
Trab kommen sie näher. Unten zwischen dem Schloß und der katholischen
Hofkirche steht König Johann zu Pferde mit einem großen Stab
von Generälen. Die siegreichen Truppen sollen empfangen werden. Hinter
den Reitern wieder ein Troß von hohen Offizieren und endlich der sechsspännige,
offene, mit Lorbeer bedeckte Wagen, in dem der Generalfeldmarschall
Kronprinz Albert, den Marschallstab in der Hand, dem dankbaren
Grusse seines Vaters entgegenfährt. Das ist eine meiner ersten deutlichen
Kindererinnerungen. Und damit verknüpft sich die ihr schon vorhergehende,
wie ich in all den Monaten vorher in meines Vaters Stube den Tisch alltäglich
mit einer großen Karte von Frankreich bedeckt sah und oft den Vater
darübergebeugt, wie er die blau-weißroten und deutschen Fähnchen umsteckte,
um den jeweiligen örtlichen Standpunkt der kämpfenden Parteien sich
zu verdeutlichen. Wir wurden von unseren Eltern mit Jubel begrüßt, wenn
eine neue Siegesnachricht kam, wurden auf die Höhe hinausgeführt, von
der aus man das Victoria-Schießen nach dem Fall von Sedan, nach den
Schlachten von Beaumont und St. Privat, nach der Kaiserproklamation
von Versailles und endlich nach dem Friedensschlusse über die Stadt
hin rollen hörte.
Daß man das Vaterland von Herzen lieben muß, das haben
unsere Eltern uns vorgelebt, wie bei allen wichtigen Dingen in unserem
Hause nicht mit hohen Worten, sondern mit einer stillen Selbstverständlichkeit.
Aber wie waren wir Kinder von damals auch glücklich. Wir waren noch
das einheitliche, fromme deutsche Volk! Es rieselte wohl in seinen Mauern,
aber uns Kindern nie und den älteren nur selten ward der unheimliche
Klang bewußt. Fach dem, was vor Augen lag, waren wir alle als "einzig
Volk von Brüdern" für unser Vaterland begeistert. Noch gab es keine
mächtige Sozialdemokratie und noch gab es das nicht, was jetzt unendlich
viel ernster als jene wirtschaftlich orientierte Gegnerschaft im Weltanschauungskampfe
uns auferlegt ist.
Ich danke Gott, daß ich ein Dresdner Kind bin! Solche
Bildungskräfte kann man in Deutschland sonst wohl nur in München und
aus anderen Gründen in Berlin erfahren. Die Bildergalerie und das früher
im gleichen Semperschen Gebäude untergebrachte Gipsabgußmuseum, einige
Zeit später auch das Antikencabinet in der Neustädter Bibliothek sind
sehr zeitig auch mit ihren Kunstschätzen die Bildner meines kindlichen
Geistes geworden. Ich kenne sie genau. Wenn ich hier nur die Namen Polyklets
und Raffaels festhalte, so trage ich ein Dankesopfer auf die Altäre
der Antike und der italienischen Renaissancezeit. Die stille Größe der
Griechen und die gläubige Ehrfurcht Raffaels haben in mir ihre Wirkungskräfte
zeitig angefangen und nie verloren. Später ist freilich durch Abbildungen
bald Michel Angelo hinzugetreten, den ich in Rom aufs höchste zu verehren
und zu lieben gelernt habe. St. Peter und die Vatikansche Kapelle in
Rom mit ihren Bildern!- ohne sie vermöchte ich mir meine seelische Entwicklung
kaum zu denken. —
Aber diese selbst hat ihre eigentliche Vertiefung doch
in ihrem Glaubensleben gehabt. Ich betrachte es als wertvollstes
Erbe von beiden Eltern, aber besonders doch vom Chalybaeus'schen Geiste,
daß ich fromm veranlagt bin. Ich habe mich dessen wohl in der Burschenzeit
durch einige kurze Entwicklungsperioden hin geschämt; aber viel längere
Zeit hindurch bin ich mir des großen Segens bewußt gewesen, den das
religiöse Erbe meiner Familie mir geschenkt hat. Manches Jahr hindurch
habe ich's mehr träumerisch als mit klaren Gedanken gepflegt.
Trotz meiner Liebe und Verehrung für meinen Onkel Ernst
Kühn haben die Konfirmandenstunden keinen wesentlichen Einfluß -
wenigstens nicht bewußter Weise - auf mich ausgeübt. Es waren zuviel
rohe Burschen unter unseren Kameraden, die die mit einem Riemen zusammengebundenen
Bibeln und Gesangbücher mehr als Schlachtgerät als als etwas anderes
benutzten, und in der Stunde mußte die Disciplin zu oft erzwungen werden,
als daß die von mir gewünschte Innerlichkeit zu einem wesentlichen Einfluß
hätte kommen können. Was mein ebenso tatkräftiger wie innerlicher Konfirmator
mir an religiösem Gut zu geben hatte, das ist mir erst später von ihm
zuteil geworden. Dafür aber bin ich ihm übers Grab hinaus heute herzlich
dankbar. Und - ohne daß ich mir darüber Rechenschaft gegeben habe -
ist seine reine männliche Persönlichkeit und sein wahrhaftiger Glaube
mir doch auch in der Konfirmandenzeit schon ein wichtiger Eindruck geworden.
Aber, wie gesagt, erst nach jener Zeit habe ich bewußt
das religiöse Leben gepflegt, und da sind es neben Onkel Kühns
Predigten die von Hofprediger Rühling, ganz besonders aber die
vom Superintendenten und späteren Oberhofprediger D. Meier in
der Frauen- und Hofkirche gewesen, welche mich tief erfüllt und zu einem
frohen Christen und freudigen Mitglied unserer Kirche gemacht haben.
Meier war ein Christ von höchstem Idealismus. Durch Schleiermachers,
aber auch durch die Schule der alten sächsischen Orthodoxie gegangen,
verband er eine gläubige Dogmatik mit einem ungemein freien, weiten
Blick in den deutschen Idealismus. Schiller und Goethe standen bei ihm
mit echter Wahrhaftigkeit ganz dicht neben seiner Bibel, und die deutschen
idealistischen Philosophen waren seine geistigen Väter oder Brüder und,
da ich mich wirklich zu Meiers geistigen Söhnen rechnen darf, so habe
ich von deren Geiste auch einen Hauch verspürt, eine Tatsache, für die
ich in der Tiefe meines Herzens dankbar bin. Was später an religiöser
Vertiefung hinzugekommen ist, gehört in die Entwicklungen der Studenten-
und Jungmännerzeit hinein und deshalb in ein späteres Kapitel.
Ich schließe dieses Kapitel mit meinem Konfirmationsspruch,
1.Tim.6,12: "Kämpfe den guten Kampf des Glaubens; ergreife das ewige
Leben, dazu du auch berufen bist und bekannt hast ein gutes Bekenntnis
vor vielen Zeugen." Ich darf wohl sagen, daß ich mir - allerdings mit
wechselnder Stärke - mein Leben lang Mühe gegeben habe, diese Mahnung
meines Apostels Paulus und meines lieben Onkels Kühn für mich zur Wirklichkeit
zu machen.
Ehe sich die Pforten meiner Jugenderinnerungen auf diesen
Blättern schließen, geziemt es sich wohl nun aber endlich auch noch
einen Blick auf meinen Geschwisterkreis zu werfen. Nach einer Totgeburt,
die meiner Mutter manche Träne gekostet hat, erschien als erster von
uns 1862 mein Bruder Hans auf der Welt. In ihm war der Zenkersche
Familienzug, von dem ich schon sprach, wohl am kräftigsten eingewurzelt,
daß wir nämlich instinktiv alles ablehnen, was uns nicht liegt, und
uns nur mit dem ernstlich beschäftigen, wozu ein Zug des Herzens uns
treibt.
|
Hans Zenker geb. 1862
|
In den naturwissenschaftlichen Fächern ist Hans wohl
nie ein schlechter Schüler gewesen, umso mehr aber in den Sprachen.
Er hat am konsequentesten die schlechten Zensuren heimgetragen. Im Gymnasium
ist er dreimal sitzengeblieben. Beim ersten Mal kam ich dadurch mit
ihm zusammen, beim zweiten Mal hatte ich das gleiche Unglück und beim
dritten Mal überholte ich ihn, sodaß ich ein Jahr früher als er auf
die Universität kam. Während seiner ersten beiden Semester als Mediziner
war ich in Tübingen. Wer beschreibt meine Überraschung, als ich ihn
in meinem 5. - seinem 3. - Semester hier in Leipzig als einen vollständig
veränderten Menschen wiederfand. Der Druck des schulischen Mißlingens
und die vielfachen, dadurch hervorgerufenen Ärgerlichkeiten im Elternhause
hatten ihn früher zu einem verschlossenen, brummigen Jungen gemacht.
Jetzt strahlte mir ein frischer, heiterer Mensch entgegen, der mich
in den Verwandtenhäusern in der Beliebtheit vollständig ausgestochen
hat. Er hat die früheren Sorgen in seinem leider nur kurzen Leben reichlich
ausgeglichen. Das medizinische Physikum sowohl als auch das Staats-
und Doktorexamen bestand er mit den besten Zensuren und, nachdem er
die Übergangszeit eines Hilfsarztes im Dresdner Krankenhaus vortrefflich
erledigt, gewann er schnell in Dresden-Friedrichstadt eine gute Praxis,
konnte seine Jugendflamme, Marie geb. Reinhard (Tochter des Präsidenten
vom Landes-Medizinal-kollegium, Dr. med. Reinhard), heimführen
und war, wie wir uns oft überzeugt haben, in der Vorstadt draußen so
beliebt, daß ihm die Straßenkinder in Scharen entgegenkamen und ihm
die Hand gaben. Ich greife weit vor, wenn ich hier schon erzähle, daß
er bald nach Käthes Tod im Jahre 1903 selbst ein Kind des Todes wurde.
Während der ja auch kostspieligen Leidenszeit meiner Käthe habe ich
unter meiner Schreibmappe manchmal ein Goldstück mit dem fingierten
Rezept gefunden: davon täglich 1 Eßlöffel zu nehmen.
Kommt mein Bruder Otto, jetzt Forstmeister in Schmannewitz
bei Dahlen. Wie wir zusammen stehen, wissen die Leser. Wir haben immer
gut gestanden. Ein wenig verschieden waren wir von Anfang an innerlich
gebaut. Otto hatte sich zeitig schon die Charakteristik vom Vater her
erworben, die entweder lachend oder ernst mit aufgehobenem Finger in
der Anrede "Herr Graf, Herr Graf" ihm entgegentönte.
Und Else? Klein, rundlich, kein Muster der Schönheit,
aber mit einem so reizenden, schelmischen Lachen und Lächeln ausgestattet,
daß sie nicht nur uns und ihre Eltern, sondern die ganze Welt um den
Finger wickelte. Sie hat sich, glaub ich, buchstäblich ohne große Anstrengung
durch die Schule hindurchgelacht. Und auch zuhause war es einfach unmöglich,
ihr ernstlich zu widerstehen, sie siegte stets. Es war ihr ja auch ein
besondres, seltenes Glück auf den Lebensweg gelegt, von dem ihr in der
Kinderzeit natürlich nicht im geringsten bewußt war, wie groß es war.
Immisch liebte sie,- zuerst in kindlicher Freundschaft, rasaunte mit
ihr, wie mit uns anderen, durch die langen Gänge unserer Wohnungen und
um die Beete unserer Gärten auf der Ammon- und Sedanstraße, um endlich
nach seinem glänzenden Staatsexamen sie entgiltig an sich zu binden.
Ich weiß nicht, ob ich ihn heute mehr als Freund oder als Schwager liebe,
denn er hat meine liebe Schwester ganz glücklich gemacht. Daß auch in
dieses sonnige Frauenleben schweres Leid gekommen, und daß die Mundwinkel
jetzt manchmal schmerzlich zucken, die früher nur lachen konnten, wird
wohl später noch einmal zu erwähnen sein. ---
Zuletzt: wir vier sind Geschwister gewesen schlecht und
recht, haben uns geschlagen und vertragen und alles in allem gegenseitig
geschliffen und gefördert. Geblieben ist eine tiefgegründete, wahrhaftige
Geschwisterliebe.
Nun bin ich auf
die
Universität
gezogen. Vater hatte in Leipzig soviele gute Freunde,
daß er wohl nicht nur um meinetwillen Mitte April 1883 mit mir zur Inskription
hierher nach Leipzig fuhr. Welchem Rektor ich meinen Handschlag gegeben
habe, habe ich leider vergessen. Daß jener Augenblick in der Aula der
Universität für jeden ordentlichen Jungen bedeutungsvoll und feierlich
ist, versteht sich von selbst. Am Nachmittage fingen wir schon an, in
den Verwandten- und Freundeshäusern Besuche zu Machen. Mein Vater war
ebenso mit dem Dresdner Oberbürgermeister, Dr. Stübel, wie mit
dem Leipziger, Dr. Georgi, befreundet. Von all den lieben Häusern,
zu denen ich Zutritt bekam, will ich an anderer Stelle sprechen. Ich
habe es sehr gut gehabt dadurch, daß ich in einer großen Zahl von Häusern
der besten Leipziger Gesellschaft verkehren durfte. Nur ganz ausnahmsweise
habe ich in irgend einem Gasthause mein Mittagessen einnehmen müssen.
Die meisten Mittage in der Woche waren eben in jenen Häusern meiner
Gönner fest belegt; nur wenige blieben für außerordentliche Einladungen
frei.
Durch Onkel Kohlschütter standen mir auch die Häuser aller
theologischen Professoren offen, und besonders bei Professor Fricke
und bei Professor Woldemar Schmidt habe ich manche schöne Stunde
verlebt. Ach, was war das für ein Augenblick, und wie denke ich heute
daran mit ernster Bewegung, als ich in den ersten Tagen meines Hierseins
wohl eine ganze Stunde lang in demselben Vorzimmer wartete, in dem die
Gemeindeglieder jetzt auf mich warten, um von dem immer überlasteten
Geheimrat Fricke endlich in meine jetzige Studierstube vorgelassen zu
werden! Fricke war ein jüngerer Kollege meines Großvaters Chalybaeus
in Kiel gewesen, hatte nach dessen plötzlichem Tode über die jüngeren
Geschwister meiner Mutter die Vormundschaft übernommen und war von herzlichstem
Interesse für unsere ganze Familie erfüllt. Das habe ich von dem ersten
strahlenden Augenaufschlag an, wo er diese Beziehungen zwischen uns
bemerkte, bis zu meiner Prüfung in Leipzig von ihm und ebenso auch von
seiner guten, ihm und uns allen imponierenden Frau erfahren. Es war
ja manches komisch an dem leiblich so kleinen und zarten Manne. Wenn
er seine doppelt so ausgebildete Frau mit "mein Herzchen" anredete,
haben wir Studenten uns fröhliche Zeichen über den Tisch gemacht. Aber
das verschwand im inneren doch ganz vor dem tatsächlich großen Respekt,
den ich und wohl mancher andere vor diesem reinen, weiten und tiefschürfenden
Geiste hatten.
Geistig wohl weit weniger bedeutend als Fricke waren der
neutestamentliche Exeget, Woldemar Schmidt, und der praktische Theologe,
Rudolf Hofmann. Aber auch in deren Häusern bin ich nach liebevollstem
Empfang oft sehr angeregt worden. Dieser persönliche Verkehr der Professoren
mit einem ausgewählten Kreise ihrer Studenten scheint mir eine der wertvollsten
Wirkungen auf die akademische Jugend zu bezeichnen. Der damals weithin
berühmte Alttestamentler Franz Delitzsch, Prof. Kahnis,
der in den ersten Semestern von mir gehörte Kirchenhistoriker, und Ernst
Luthardt, der damals wie ein Halbgott verehrte, auch in seiner Erscheinung
so gewaltige Dogmatiker, den wir freilich später vielmehr nur als einen
Dogmenhistoriker als als einen selbständigen Denker erkennen konnten,
- diese 3 habe ioh auch in ihren Wohnungen besuchen dürfen, aber ich
habe weder persönlich noch auch wissenschaftlich einen tieferen Eindruck
von ihnen bewahrt. Ich glaube, daß die damalige Leipziger Fakultät,
die schon seit langem den Ruf einer kraftvollen Orthodoxie begründet
hatte, in den 80er Jahren fast durchweg überaltert war.
Universität! Wie leuchtete dieses Wort mir von dem Augenblicke
an entgegen, wo mein Maturitätszeugnis mich zu einem neuen Ausblick
berechtigte. Universitas literarum. Daß hier nicht nur ein Weltbild,
sondern eine Weltanschauung und Welterkenntnis meiner wartete, diese
Empfindung trug mich wie mit Flügeln. Und die Hochschätzung unserer
deutschen Universitäten hat mich nie verlassen, wenn auch ich wie alle
anderen heilsamerweise bald habe erfahren müssen, daß der Weg in die
Universitas, in das Studium generale doch immer auch ein sehr mühsamer,
steiniger Weg durch das Studium speciale ist. Wenn ich auch selbst über
Kniffeleien und Kleinigkeitskram in Vorlesungen und Büchern damals oft
unzufrieden war, so möchte ich heute jedem Anfänger zur Geduld raten
und zum Fleiß. Auch die ganz großen Gebäude bestehen aus lauter Sandkörnern,
und eine große, umfassende Gedankenwelt kann man nur aufbauen, wenn
man auch im kleinsten zur Klarheit gekommen ist.
Wie bin ich eigentlich Theologe geworden? Da komme ich
auf eine von den Grundtatsachen meines persönlichen Erlebens. Wir sind
eine alte Juristenfamilie, meine Eltern haben nicht entfernt auf mich
zu wirken gesucht bei der Bestimmung des zukünftigen Berufes, ebenso
wenig wie auf meine Brüder. Und dabei waren wir drei doch schon in unserem
8. oder 9. Lebensjahre so fest in unserem Willen, daß die Schmiedeberger
Kameraden oder deren Eltern meinen Bruder Hans den Doktor, mich den
Pastor und Otto den Förster nannten. Es ist eben wohl eine besondere
Bestimmtheit der Zenkerschen Seele, die uns leitet. Ich bin an meinem
so früh gefassten Entschlüsse nicht einen Augenblick irre geworden,
auch dann nicht, als mir, dem auch als Primaner noch sehr schüchternen
Jüngling, einfiel, daß ich als Pastor ja auf die Kanzel müßte. Darüber
habe ich mich getröstet mit dem Plane, vielleicht Professor zu werden,
wie mir das ja vom Großvater her schon näher lag. Aber daß ich "die
Tiefen der Gottheit erforschen" - l. Kor. 2,10 - möchte, das war wirklich
der innerste Drang meiner Seele.
Um das gleich hier noch zu sagen, der Wunsch nach einem
Gelehrtenleben ist immer in mir geblieben. Ich habe aber einsehen müssen,
daß mir die Gedächtniskräfte nicht verliehen sind, die dazu gehören.
Und da im Verlaufe des Studiums und nach der ersten Predigt es auch
nicht mehr so ganz unwahrscheinlich blieb, daß ich das Widerstreben
gegen ein öffentliches Zeugnis und das Ungeschick dazu überwinden könnte,
so bin ich eben doch ins praktische Kirchenamt gekommen. Und so möchte
ich denn hier schon darauf hinweisen, daß ich in der Tat an eine providentia
specialissima, an eine ganz persönliche Führung Gottes glaube. Ich habe
sie in wichtigsten Veränderungen meines Lebens deutlich erfahren, ob
sie nun vorausbestimmt war in der unabänderlichen, von Gott in mich
gelegten Eigenart, oder ob es sich um eine mehr oder weniger plötzliche
Entscheidung meines Gottes handelte und ebenso gleichviel, ob ich den
Sinn der Führung verstand und dankbar würdigte, oder ob ich ihr rätselnd
gegenüberstand. Die Gewinnung meiner ersten sowohl wie meiner zweiten
Frau, die Gewinnung meiner besonderen Freunde, Immisch, Hans von
Schubert und Neuberg, die Gewinnung aller meiner Amtsstellen
erkenne ich neben manchem anderen vielmehr als Gottes Geschenke wie
als Früchte des eigenen Willens.
Das Theologiestudium meiner ersten beiden Semester war
naturgemäß hauptsächlich der Exegese, daneben auch den Anfängen der
Kirchengeschichte gewidmet. Kahnis stand wie ein bronzener Götze in
den Schatten des Heiligtums und gab die Orakelsprüche von sich, die
er vor unvordenklicher Zeit in ein Heft geschrieben hatte. Von seinem
früheren feurigen Leben war rein garnichts mehr zu spüren. - Und sowohl
in der alttestamentlichen wie in der neutestamentlichen Exegese bei
Delitzsch und Schmidt gab es wohl wirklich nichts weiter als eine rein
philologisch-geschichtliche Worterklärung. Die ist sehr nötig und zweifellos
immer die Grundlage alles weiteren Bibelverständnisses. Aber wenn man
unter der jetzt eben berühmt werdenden dialektischen Bibelerklärung
Karl Barths eine Gegenüberstellung aller möglichen inhaltlichen Erklärungen
und die gläubige Stellungnahme dazu versteht, so bedaure ich sehr, daß
von einer solchen in unseren theologischen Jugendjahren kaum jemals
die Rede war. Wenn sich Delitzsch doch bei Jes. 6 über das Wesen dieser
Berufung des Propheten, und wenn sich Woldemar Schmidt doch über den
Inhalt der Wundergeschehnisse im Matthäus und der Sendung Jesu geäußert
hätten! Es war doch nicht ganz unberechtigt, wenn wir am Ausgange uns
manchmal wie Verdurstende ansahen. Mein geistliches und theologisches
Suchen fand Befriedigung damals nur in Frickes berühmten Kolleg
für alle Fakultäten über die "Gottesbeweise", wobei denn freilich auch
ein gutes Stück von Eitelkeit dabei war, daß man einem so hochfliegendem
Geiste schon glaubte folgen zu können. Und es waren Luthardts Predigten
in der alten Paulinerkirche, Frickes damals noch in der alten Peterskirche,
dort wo jetzt die Reichsbank steht, und ich glaube wohl auch schon in
jenen Semestern Panks, die mein religiöses Suchen befriedigten.
Das war mein erstes Studienjahr. Aus dem ersten Semester
kehrte ich zu den Eltern zurück in die schöne Wohnung an der Sedanstraße
1. Wir brachten noch einmal die Sommerfrische in Kundratitz zu. Nach
dem zweiten Semester durfte der Entschluß gefaßt werden, ein Jahr in
Süddeutschland, und wie das für einen evangelischen Theologen darum
selbstverständlich war, in Tübingen zuzubringen. Da kam denn nun die
Zeit heran, in welcher der werdende Mann in mir seine wichtigsten Entscheidungen
zu treffen hatte.
In Leipzig fühlte ich mich doch eigentlich noch recht
als Kind. Aller Augenblicke ein Besuch zu Hause oder von Hause aus,
jeden Tag das Mittagessen unter den beobachtenden, treuen Augen irgend
einer guten Tante, in gleichem Freundschaftskreise wie in der Schule
-, der Veranlassungen waren zu wenige, über neue Fragen nachzudenken.
Und, wie gesagt, auch die Kollegien waren mehr schulmäßig eingerichtet,
als das für den sich selbst befreienden Geist wünschenswert erschien.
Der junge Mann bewohnte ja freilich seine eigene Bude, Pfaffendorferstraße
12 IV war es bei dem Ratsbeamten Kaulisch
(dort war es ein besonderes Vergnügen, dem schönen Fräulein Neumeister,
die unter meinen Fenstern auf dem Balkon ihren Oleander pflegte, Zuckerfrösche
hinunterzuwerfen); aber auch die bewohnte im Nebenzimmer der soviel
fertigere Freund Immisch mit -, der eigenen Entschlüsse wurden zu wenige
von mir verlangt.
Da war es denn ein außerordentlicher Sprung ins Weite,
als ich nach Ostern 1884 meine kleine Bude beim Lindenmaier in
der Ammergasse in Tübingen bezog. Das war ein kleiner Weinwirt von starkem
Körperumfang und nicht gerade sehr lebendig gebliebenem Geiste, ein
guter, redlicher Mann. Der junge Theologe konnte ohne allen Anstoß in
einer Weinwirtschaft hausen. Oben über den hohen Giebeln der Gegenseite
ragte das Tübinger Schloß empor, in dem schon Eberhard der Greiner und
Herzog Ulrich gehaust. Jetzt war droben, wenn ich nicht irre neben dem
Amtsgericht, auch die Universitätsbibliothek untergebracht. Dem kleinen
Lauf der Ammer nach kam man in wenigen Minuten in die Weingärten des
Ammertales, das sich etwa bei Herrenberg unten mit dem Neckartal vereinigt,
und ebenso war es nicht weit nach der Bebenhausener Straße zu, an der
die neue Universität lag.
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Tübingen um 1900 (Quelle:
Wikipedia)
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Wir Theologen freilich hörten unsere meisten Vorlesungen
im alten berühmten Tübinger Stift oder wohl in den Räumen der alten
Universität, mit denen das Stift aufs engste verbunden war. In diesen
Räumen haben Schelling und Hegel ihre Bildung empfangen und auch gelehrt.
Dort war Möricke aus- und eingegangen, und wer weiß wie viele andere
berühmte Namen finden sich noch in die alten Bänke eingeschnitten oder
an die Wände gekritzelt.
Dort in Tübingen als 20jähriger erwachte mein eigenes
selbständiges Ich. Dort habe ich meine Weltanschauungs- und Glaubenskämpfe
durchgefochten. Von dorther schreibt sich der bewußte Besitz des Besten,
was ich in mir trage.
Nur eine kleine Begebenheit, die sich mir als Sinnbild
mancher anderen ganz wunderbar eingeprägt hat: ich stand an einer Wegsäule
eben über dem Ammertale, an die ein über und über blühender wilder Rosenbusch
sich anlehnte, und machte - vom Gedankensturm überwältigt - einen
kurzen Halt in meinem Gange. Da geschah es mir auf einmal, daß gleichsam
wie ein körperliches Bild in leuchtenden Farben vor mir die Gewißheit
aufstieg: ich glaube, daß Jesus Gottes eingeborner Sohn ist!
Das war die Folge manches ernsten Gedankenringens und
manchen religiösen Suchens. In jenem Augenblicke war es da, nicht nur
als gedankenmäßige Gewißheit, sondern als unumstößlicher Lebensgrund,
was tatsächlich von jenem Augenblicke an ohne Wandel eine Grundlage
meines inneren Lebens geblieben ist. In jenen Semestern hat meine Seele
gearbeitet, so ernstlich wie es mir nur immer möglich war. Und ich darf
es heute sagen, damals bildete sich in mir der aus hohen Überzeugungen
lebende und sein Leben bestimmende Mann. Natürlich war es nur ein Anfang.
Später im Rauhen Hause, in der Vikarszeit, ja - was sage ich - in den
Prüfungen der Mannesjahre ist's ja noch zu manchem Sturm gekommen; aber
der Baum war doch von Tübingen her so festgewurzelt, daß kein Sturm
ihn mehr aus seinem Boden reißen konnte.
Für diese innere Klärung und Kräftigung waren ja auch
die Männer, denen ich dort zu Füßen saß, weit bessere Führer als die
alten Leute von Leipzig. Vor allem der Systematiker Robert Kübel,
ein körperlich ungeheurer Mensch von breitestem Ausmaß, tiefhängenden
Hamsterbacken, Säulen als Beine -, das war schon eindrucksvoll genug,
wenn der, hinter unserem Rücken eintretend, die Tür des großen Auditoriums
im Stift hinter sich mit Donnerkrachen zuschlug und, wie aus einer Festungskanone
geschossen, auf das Katheder jagte. Aber was will dieser seltsame äußere
Eindruck besagen gegenüber der leuchtenden Kraft seiner Augen und seines
Herzens. Hier lebte ein Mann im Heiligtum eines gedankenmäßig tief durchgebildeten
Glaubens. Diese Persönlichkeit mußte einen von der überragenden Macht
des Christenglaubens überzeugen.
Der alte berühmte Kirchengeschichtler Weizsäcker,
der noch heute unübertroffene Übersetzer des Neuen Testamentes, hob
sich von dieser Erscheinung ganz eigenartig ab. Durch und durch ein
vornehmer Mann und ein stiller Gelehrter, aber auch er war in seiner
Art von einer imponierenden Weihe umflossen. - Der Sachse Emil Kautzsch,
damals ein weithin berühmter Kritiker des Alten Testaments, seine Übersetzung
davon ist uns ja heute allen ein unentbehrliches Werkzeug. Ich bin oft
in seinem Hause gewesen und habe nie einen anderen Eindruck von ihm
empfangen, als den eines mit ganzer Gewissenhaftigkeit und Treue seiner
Wissenschaft ergebenen Menschen. Viele, die ihn persönlich nicht kannten,
haben ihn für einen Zerstörer gehalten. Mich überzeugte nicht nur die
Tatsache, daß er an der "pietistischen" Fakultät so hochgeachtet war,
von einem ganz anderen, sondern noch viel mehr der Eindruck einer stillen
Ehrfurcht, die über ihm lag. Dieser Mann war fromm in seiner reinen
Hingegebenheit an die göttliche Wahrheit. - Vom Neutestamentler Buder,
der den Philliperbrief las, habe ich nur schwache Erinnerungen. - Bei
Kübel hörte ich Ethik, fürs dritte Semester wohl etwas zeitig.
Aber bei dem Manne kam's weniger auf die specielle Lehre als auf das
Zeugnis seiner Persönlichkeit an, und das trage ich für immer dankbar
in meinem Herzen. - In der neuen Universität draußen hörte ich bei Sigwart
Psychologie. Der bedeutende Mann war langezeit selbst krank gewesen.
Es ging von ihm die Rede, daß er sich selbst für eine Glasröhre gehalten
und von dieser Vorstellung die ängstlichsten Konsequenzen gezogen habe.
So hatte es etwas erschütterndes an sich, wenn dieser Mann mit imponierendem
Scharfsinn in die geheimnisvollen Gänge des menschlichen Gehirns hineinleuchtete.
Das waren meine Professoren. Ach, da fällt mir ein Ausspruch
ein von meinem schwäbischen Nachbar im Kolleg, der zugleich die ganze
Seele dieses liebenswürdigen und charaktervollen Volkes beleuchtet.
Als Kübel einmal mit seinem tiefen Ernste die Fragen besprach, die vom
Wiedersehen nach dem Tode handeln, da sagte der junge Schwabe zu mir:
"Dem Kibl ischt bang, daß er sei Weible nit widerfindt". Und da sehe
ich denn in meinem Gedächtnis dies Weible behaglich neben dem großen
Manne mit seiner Pfeife im Sofa sitzen und aus einem großen Korbe vor
ihr die wollenen Strümpfe für ihre Kinder stricken und empfinde wieder
etwas davon, wie ein hoher Geist als echter Schüler Luthers seine Kraft
gewinnt aus den einfachen, heiteren Gründen eines reinen und reichen
Familienlebens.
Ich hatte mich einer kleinen, meist aus Norddeutschen
bestehenden Wandergesellschaft angeschlossen, die aber auch regelmäßig
zum Gespräch in einer Wirtschaft zusammenkam. Hier fehlen mir die deutlichen
Erinnerungen. Am nächsten stand mir Walther Ruge, der gescheute
und reine Mensch, Sohn des Dresdner Geographen. Köstliche Wanderungen
gab es in Hülle und Fülle, und es gab ja auch den Dies academicus, sie
auszunützen. Auf der Hohenzollernburg bin ich oft gewesen. Das reizende
alte Cistercienser-Kloster Bebenhausen mitten im Schönbuch, dem großen
Wald, der uns 6 Stunden weit von Stuttgart trennte, damals ein königliches
Jagdschloß, das ganze Neckartal aufwärts und abwärts, in weiterer Entfernung
Rottweil, Ulm - das sind gar schöne Erinnerungen!
Ich habe aber auch in einem schwäbischen Pietistenkreise
manche wertvolle Stunde verlebt. In meinem Hause beim Lindenmaier versammelte
sich der studentische Missionsverein, dessen Gaben und Interessen der
Basler Mission gehörten. Außer dem Missionsinteresse empfing ich damals
Lebenswirkungen des so tief religiös orientierten schwäbischen Volksgeisten,
die sicherlich für meine ganze Weltanschauung nicht ohne Wert geblieben
sind. Dort war ja alles, und zwar ganz ungesucht und unabsichtlich,
von dem Gefühl des gegenwärtigen Gottes begleitet. Und nicht nur bei
Theologen, sondern auch bei den anderen Fakultäten, und man merkte,
daß die das aus ihrer Heimat mitgebracht hatten.
Zuletzt bin ich auch einmal nach Bad Boll gekommen und
habe ungefähr eine Woche lang bei allen Mahlzeiten und Andachten dem
jüngeren Blumhardt gegenüber gesessen. Ich gesellte mich zu den
Kindern und jungen Leuten, die ihn am Morgen droben im Kindersaal erwarteten,
und fühle noch die Weihe des Augenblicks, als Blumhardt vom einen zum
anderen ging, Kindern und Erwachsenen und so auch mir die Hand auf den
Scheitel legte und jeden beim Namen nennend, die Worte sprach: der Heiland
segne dich, mein lieber ... - Von den unzweifelhaft großen Segenswirkungen
auch des Sohnes Blumhardt habe ich eine familiäre Erinnerung. Meine
Tante Anna von Heintz hatte langezeit unter schweren seelischen
Depressionen zu leiden. Ihre einzige Hilfe war Bad Boll, von dem sie
nach monatelangem Aufenthalt jedesmal wesentlich gestärkt zurückkam.
Ein jetzt wohl schon untergegangenes Beispiel der studentischen
Freiheit in Tübingen will ich doch hier der Vergessenheit entziehen.
Vor dem südlichen Stadttore überschreitet eine weite, mit einem Nepomuk
gekrönte Bogenbrücke den Neckar nach der jetzt mit Villen überdeckten
Talebene hinüber. Und am Neckar entlang zieht sich rechts die mächtige
Allee auf der Wörth, links aber die malerische Neckarhalde mit ihren
hohen Giebeln. Oft im Frühjahr sammelte sich dort die Studentenschaft
an, wenn plötzlich aus irgend einem Fenster oder von der Brücke her
der Ruf erschallte und sich durch die ganze Stadt hin fortpflanzte:
"Jockele, spea- ea- ea- rr." Es kommen nämlich aus dem Schwarzwald herunter
mächtige Flöße aus den im Winter geschlagenen Bäumen, auf der manchmal
wilden Flut geschickt von Holzknechten geleitet und durch auf den Boden
gestoßene Sperrhölzer vor dem Zerschellen bewahrt. Die wohlgemeinte
Warnung, vor der Brücke zu sperren, ist zum Ulk geworden und was nur
schreien kann, macht es mit. Die ganze Luft hallt vom fröhlichen Warnungsrufe
wider. Aber jahrzehntelang haben die Holzknechte den Spaß noch nicht
verstehen gelernt und sie beantworten den Ruf mit aufgehobenen Fäusten
und bösen Droh- und Schimpfworten. Es kommt nur deshalb nicht zu Tätlichkeiten,
weil sie ja im rasenden Strome hinter der Brücke bald verschwinden.
Ganz heftig aber wird der Konflikt, wenn irgendwo aus einem Fenster
ein Paar Kanonenstiefel herausgehängt werden. Das sollte nämlich die
Erinnerung sein, daß einer der Flößer einst ein Paar Stiefel gestohlen
hatte. Dann wußten sie sich vor Wut nicht zu halten und der Jux der
Studenten stieg aufs höchste.
Von Tübingen aus habe ich zu Pfingsten 1884 meine erste
und dann auf lange Zeit hin einzige Reise in die Alpen gemacht. Über
Zürich und den Vierwaldstätter See gings nach dem Gotthard hinauf. Wir
wanderten durch die Schöllenen nach der Furkastraße hinüber. Als
ein besonders großer Eindruck steht mir der Galenstock in Erinnerung,
der im glänzenden Morgenlichte des 2.Pfingsttages mit seinen kleinen
Schneeflächen und seinen goldenen Spitzen wundervoll leuchtete. Dann
ging's aus dem Rhônetal über die Grimsel zu den Haslifällen hin
und nach Interlaken, und wir konnten uns nicht sattsehen an dem unvergleichlichen
Aufbau und Farbengebilde der Jungfrau, die dort wie ein Gemälde zwischen
den schroffen Wänden des Lütschinetales über dem grünen Vordergrund
aufsteigt.
Talschleichen waren wir damals. Aber das war keine Schande.
Auch daran erkenne ich den schnellen Umschwung des Zeitrades, wie er
sich gerade in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. Über uns
standen noch die Schrecken der Abgründe, von denen uns Schiller warnend
sagte, daß man sich dort "anleimen muß mit dem eigenen Blut". Wir
wagten uns noch nicht zur Eiskönigin hinauf und hätten es für vermessen
gehalten, mit den Alpenjägern und Sennen in Wettkampf zu treten.
Von Tübingen aus habe ich dann eine, glaube ich, recht
langatmige Beschreibung meiner schönen Wanderung nach Haus an meine
Eltern, aber auch nach Paris an Käthe Schumann geschickt. Ich stand
seit der Knabenzeit mit ihr in Briefwechsel, denke aber heute mit einer
gewissen Zustimmung, die ich damals freilich nicht empfand, daran, wie
ihre Briefe immer zurückhaltender, ja immer unpersönlicher und leerer
wurden, sodaß auch ich zu scheuer Vorsicht mich gezwungen sah. Es gibt
ein Bild von Hodler: ein kräftig knieender zum Leben aufspringender
Jüngling und vor ihm ein Mädchen, das die Augen schließt und beide Hände
abwehrend emporhebt. Ich glaube, dieses Bild gibt wieder, was unsere
sich suchenden und fliehenden Seelen damals unbewußt empfanden.
Ostern 1885 war nun die schöne Zeit in Tübingen und Süddeutschland
vorüber, und mit dem Eintritt des neuen Semesters fing denn nun auch
eine neue Forderung des Lebens an. Es galt, in Leipzig an das näherrückende
Examen zu denken, das ich ja zunächst in denkbar kürzester Frist zu
machen mir vorgenommen hatte, das ich aber dann mit der liebevollen
und weitschauenden Bewilligung meines Vaters bis in das 9.Semester hinausschieben
durfte. Ich meine, der Vater wünschte und gab mir einen Begriff davon,
daß man nicht nur ein Brotstudium, sondern eine wahre Vertiefung der
ganzen Erkenntnis und Weltanschauung auf der Universität zu suchen habe,
und so sind mir die nächsten vier Semester noch zu einem großen Reichtum
innerlicher Erlebnisse ausgereift.
Aber hier ist ja wohl zunächst der Ort, wo ich ein wenig
von all den lieben Menschen erzählen darf, die mich in Leipzig umgaben,
und innerlich und äußerlich so mannigfaltig gefördert haben. Ich war
nun mit meinem Bruder Hans zusammengezogen und habe mit ihm bis zu meinem
Wegzuge aus Leipzig in der Kramerstraße 6 gewohnt neben dem jetzigen
Lehrer-Vereinshaus; die Wohnung lag den medizinischen Bildungsstätten
näher und war auch für mich bequem. Mit Hans zusammen lief ich nun 5mal
in der Woche zu all den lieben Häusern hin, die uns aus Verwandtschaft
oder Elternfreundschaft Freitische gewährten. Montags saßen wir bei
Frau Wiegand im großen Kreise; der alte Freitisch der "7 Raben",
den einst Frau von Holstein um sich gesammelt hatte, war hier
erweitert fortgeführt worden. Dienstags bewirtete uns Onkel Oscar
Zenker. Mittwochs war es wohl die Familie Göring, Weststraße
11. Am Donnerstag sahen wir beiden uns bei "Tante" Ida Cichorius
liebevoll aufgenommen und Freitags oder Sonntags waren wir fast regelmäßig
entweder im Hause von "Onkel" Wachsmuth oder Geheimrat Curtius
oder auch - last not least - bei Richard Zenkers, unserer eigentlichen
Heimatstelle während der Studentenzeit.
Frau Wiegand, eine überaus ehrwürdige Matrone, evangelische
Ungarin, die Witwe Georg Wiegands, des Verlegers von Ludwig Richter,
in ihrer vornehmen Mütterlichkeit und geistigen Belebtheit ein Gottesgeschenk
für jeden, der ihr nähertreten durfte, war die Mutter von "Tante" Ida
Cichorius, die wir mit diesem Verwandtschaftsnamen bezeichneten, weil
sie eine intime Freundin meiner Mutter war. Auch sie eine außergewöhnliche
Frau, Witwe eines Leipziger Bürgermeisters, ganz erfüllt von den großen
Kulturinteressen ihrer Stadt, urteilsreich und auch denen unter uns
Studenten, welche sich besonders klug vorkamen, vollkommen überlegen.
Wenn mir kulturelle und Weltanschauungsprobleme damls fürs Leben wichtig
geworden sind, so verdanke ich dies sehr wesentlich den allwöchentlichen
Anregungen in diesem Hause. Dort war auch noch eine Tochter, angenommenes
Kind, Helene, jetzt Frau Geheimrat Professor Benecke in
Halle, der Mutter merkwürdig ähnlich, ein wenig wohl von sich selbst
eingenommen, aber für uns ihr fast gleichaltrige "Vettern" doch
auch wirklich von führender Kraft.
Ich denke hier dankbar an eine kleine Scene, die sich
so abspielte: "Walther, ich lese jetzt ein herrliches Buch - ach nein,
Du bist noch zu dumm dazu, das kannst Du noch nicht lesen", - und sie
steckte das vom Bücherbrett schon herabgeholte Buch mit entschiedener
Geringschätzung wieder weg. Ich war betrübt, und geärgert kam ich am
Nachmittage zu Frau Professor Curtius, die mir sofort ansah, daß mir
eine Laus über die Leber gelaufen war. Ich mußte mein Leid klagen, und
die Folge war, daß sie zu ihrem Bücherschrank ging, das Buch herausnahm
und mir lachend sagte: "Jetzt lesen Sie das Buch und zeigen Ihrer Kusine,
daß Sie nicht zu dumm dafür waren." Das Buch war "Charles Kingsleys
life and letters", ein Buch, das ich als einen meiner besten Lebensfreunde
bis heute lieb habe und verehre. Ich habe es in meinen ersten Mannesjahren
unendlich oft durchgelesen und schlage noch heute manche Stellen auf
in dankbarer Erinnerung für die Förderung, die sie meiner Geisteswelt
gegeben haben. Beiläufig wurde dadurch auch mein Englisch wesentlich
verbessert, - und Helene C. wurde aus einer Gönnerin zur Freundin.
Das herrliche Paar Curtius! Der bedeutende klassische
Philologe unserer Universität, weit über Leipzigs Grenzen hinaus berühmt,
ein zierlicher, zarter, feiner Mann, der mit seinem weißen Backenbärte
die Abstammung von einem hanseatischen Patrizierhause nicht verleugnete,
war der Inbegriff eines wahren Humanisten. Umhegt und gepflegt von seiner
ihm geistig ebenbürtigen Gattin, die uns Studenten, da sie kinderlos
war, mit doppelter liebe aufnahm. Immisch besonders ist dort
wie ein Kind im Hause gewesen und ist ja heute noch im Alter innerlich
erhoben, wenn er des verehrtesten Lehrers gedenkt.
Ich weiß noch von einem fröhlichen Augenblick, wo Georg
Curtius' zarter Humor uns aufging. Es geschah wohl, daß einer von
uns ein dankbar ironisches Wort über die griechische Schulgrammatik
sagte, durch die uns Curtius ja schon seit der Tertia kein Unbekannter
mehr war. Da ging er in seine Stube und brachte schmunzelnd ein Streichholzbüchschen,
das mit Papierasche gefüllt war, und über dem ein brandumrahmter Büchertitel
lag: grammatica graeca, darunter geschrieben: "al maledetto Professore
Curtio". Er hatte diese dankbare Quittung für schwere Schulzeit vor
ein paar Tagen aus Italien erhalten und schmunzelte fröhlich über diesen
Erfolg seiner Arbeit.
Auch des anderen bedeutenden Gelehrten muß ich hier gedenken,
bei dem wir oftmals waren: Friedrich Zarncke, der erste Herausgeber
des Nibelungenliedes. Er war der Schwager von Vaters älterem Bruder,
Onkel Fritz von Zenker, den Bayern wegen seiner Entdeckung der
Trichinen geadelt hatte. Zarncke, damals Witwer, hat mit seinen feinsinnigen
Gesprächen unser wissenschaftliches Interesse gefördert; seine Tochter
und Hausfrau Tilly hatten wir auch sehr gern.
Frau Wiegand und Tante Ida Cichorius wohnten Marienstraße
11, hinter dem kleinen Denkmal von der Leipziger Schlacht. Curtius'
hatten eine prächtige Wohnung neben der Universität an der Schillerstraße,
dort wo jetzt das Universitäts-Rentamt ist. Ich denke gern, wenn wir
in weitblickenden Gesprächen uns ergingen, an den weiten Blick, den
vom Balkon aus der Augustusplatz uns gab. (Zarnckes wohnten im Roten
Kolleg an der Goethestraße.)
"Onkel" Wachsmuth und seine kränkliche Frau - Freunde
meiner Eltern. Er ein herrlicher Mann, damals ein Führer der Leipziger
Großhandelswelt, der leitende Direktor der Allgemeinen Deutschen Creditanstalt,
ein Mann, vor dessen imponierendem, grauumbuschten, großen Auge ich
mich heute noch innerlich neige, gütig, ernst, scharfsinnig, ein Bild
der Gewissenhaftigkeit. Wir wußten, daß er den Posten des sächsischen
Finanzministers mehrmals ausgeschlagen hatte, weil er die eigene Aufgabe
nicht glaubte verlassen zu dürfen. In seinem Hause, das wir im Sommer
draussen in Connewitz in einer jener Gartenvillen, die von Blumen und
Bäumen umstanden waren, - dem Orte manches väterlich-freundschaftlichen
Gesprächs mit uns - und im Winter zuletzt in dem stattlichen Gebäude
am Rathausring (Nr. 9) aufsuchten, das dem Rathaus gegenüber an der
Pleiße liegt. Dort hörten wir vor oder nach dem Essen, von Frau Wachsmuth
und auch von seinen kunstvollen Händen gespielt, manchen Satz der Beethovenschen
und Mozartschen Symphonien und durften auch der geistvollen Auslegung
lauschen,die dann etwa bei Tische davon gegeben wurde.
Und nun die liebe Verwandtschaft! Da war der Justizrat
Oscar Zenker, stellvertretender Vorsitzender der Stadtverordneten,
ein hochgeachteter Mann im öffentlichen Leben der Stadt, offenbar ein
tüchtiger Jurist, auch Schriftführer des Zentralvorstands vom Gustav-Adolfverein,
voll ernster kirchlicher Interessen, mit seiner guten -und feinen Frau,
Anna geb. Wendler, und mit seinen 3 Jungen, die jünger als wir,
bei uns damals noch keine andre Beachtung fanden, als dass wir uns des
Appetits wegen vor dem Essen öfter mit ihnen prügelten. Der älteste
von diesen Vettern, Paul, steht mir ja heute noch besonders nahe.
Das Haus Königstraße, Ecke Talstraße, erinnert mich heute noch oft an
die lieben Stunden, in welchen doch auch manches große Interesse uns
aufging, wenn auch der Gesamtton mehr der einer herzlichen verwandtschaftlichen
Liebe war.
Ecke Elster- und Promenadenstraße wohnten Rudolf Zenkers.
Onkel Rudolf war der ältere Bruder von Onkel Oskar, der Älteste aus
der zweiten Ehe meines Großonkels Ludwig Zenker, der im Anfange
des Jahrhunderts von Dresden nach Leipzig übergesiedelt, dem alten Juristenstamme
abhold und Kaufmann geworden war, mit dem Erfolge eines schönen Vermögens
und des Ehrentitels als Stadtrat. - Dessen zweite Frau lebte übrigens
noch in meinen ersten Semestern auf der Auenstraße. Eine ehrwürdige,
von heiterer Güte umflossene Greisin, die uns Studenten von Zeit zu
Zeit bei sich sah und sich dann nicht genugtun konnte, uns mit reichen
Speisen zu verwöhnen. Tante Emilie Zenker geb. Baumgärtner wurde
übrigens von einer Schwester überlebt, an welcher die stille, und oft
auch laut ausgesprochene Liebe der ganzen jungen Neffen- und Nichtenschar
hing. Tante "Aujuste Boomjardin" war als junges Mädchen schon der
Schwärm unserer Väter gewesen und war es im Alter als "Tante Lomer"
auch bei uns.
Onkel Rudolf war ein eigentümlicher Herr, von einer phantastischen
Romantik erfüllt, zu gleicher Zeit von einer Vulgarität des Benehmens,
die uns für unseren Stand nicht mehr völlig angemessen erschien. Dessen
zum Beispiel nur soviel: Zwei seiner Töchter nannte er Mippe und Nulp,
und der jüngste Sohn hieß Biebig. Aber an einer Ehrenstelle des Salons
stand auf einem Tischchen ein Glaskästchen, unter dem ein echtes Gralsbrot
von Bayreuth verwahrt war, und an der Wand darüber hing in feinem Rahmen
eine Postkarte mit den Worten: "von 4 Uhr an Ihr Sklave. Richard Wagner."
Der sich selbst oft in Worten und Gesichtszügen ironisierende Onkel
pendelte eben zwischen höchster Begeisterungsfähigkeit und einer gewissen
Tieflage seines Geistes hin und her, und der Eindruck auf uns war weniger
erhebend als abkühlend. Wir haben manchmal den Onkel gefragt, was denn
das Dreierbrot dort unter Glas und Rahmen bedeute, und dann eine halb
wehmütige, halb zornige Antwort bekommen. Die Tante Elise an
seiner Seite, gutmütig und vierschrötig, war es wohl wesentlich, die
den kleinbürgerlichen Ton des Hauses bestimmte. Immerhin hat ihre große
Herzensgüte uns junge Leute erwärmt und angezogen. Das Erbe dieses eigenartigen
Paares bei seinen Kindern ist doch kein übles gewesen. Sie sind alle
tüchtige Leute geworden, und der hohe und mittelmässige Geist, der so
unvereint in den Eltern schlummerte, hat bei ihnen allen einen Ausgleich
auf einer größeren Höhenlage gefunden.
Nun bleiben noch Görings und Richards. Tante Luise
Göring, die älteste, und Richard, der Sohn aus der ersten
Ehe von Onkel Ludwig Zenker. Zwei Menschen von einer ganz außergewöhnlichen
Herzensgüte, immer nur bedacht auf die Zufriedenheit ihrer Gäste und
Mitmenschen. Onkel Richard war Wollkommissionär und schien ein recht
befriedigendes Einkommen zu haben. Von irgend welchem kaufmännischen
Egoismus und unreinem Geschäftssinn kann ich mir bei ihm durchaus nichts
denken. Er machte mit seiner kleinen Gestalt und seinem feinen, zurückhaltenden
Wesen den Eindruck, eines besseren Beamten. - Seine Art der Unterhaltung
war nicht gerade von hohem geistigen Interesse, aber eben von solch
einer Liebe, daß man unmittelbar zum höchsten Vertrauen bewogen wurde.
Ähnlich war's bei Tante Luise Göring. Die hatte nun einen Mann, Seidengroßhändler,
bei dem der Geschäftssinn schon deutlicher ausgebildet schien.
Mit seinem Bild hat sich mir in die Erinnerung eingeprägt
jene kleine Scene, als Vetter Alfred einmal beim Mittagstische
die vor ihm stehende Rotweinflasche mit unserer Karaffe verwechselte.
Da rief Onkel Göring: "Ach, nehmen Sie nicht diese Flasche, das ist
ein ganz harmloses Weinchen für meinen alten Magen, der Ihrige ist besser."
Wir hatten aber davon schon soviel gekostet, daß wir uns von da an öfter
in den Besitz dieses "harmlosen" Fläschchens zu setzen versuchten.
Es war nicht Übel, bei Görings nach einem immer reichen
Mittagsmahle auf der Veranda in den schönen Garten und darüber hinaus
auf den - damals wohl freilich noch nicht vollständig ausgebauten -
Johannapark hinauszuschauen, und den besten Kaffee zu schlürfen, den
man sich nur denken konnte. Bei Görings war ein von unendlichen Schmissen
bedeckter Vetter, der als Referendar am Gericht arbeitete, und unsere
liebe Melanie, die das Abbild ihrer guten Mutter war. Die ältere
Schwester, Ilse Süssmilch, lebte als Gattin eines österreichischen
Oberstleutnants ich glaube in Theresienstadt in Böhmen und füllte, wie
viele Gespräche uns zeigten, beinahe ganz das Herz ihrer Mutter aus.
Nun aber zuletzt noch: Lessingstraße 16, unser Studentenparadies
bei Richard Zenkers! Neben dem guten, stillen Onkel Richard seine
heitere, energievolle, stattliche Frau, unsere liebe Tante Marie.
Und neben der wieder ihre meistens mit im Hause wohnende Schwester,
kleiner, aber von ebenso feingeschnittenem Gesicht, Tante Helene
Krutzsch. Die beiden Schwestern waren Pastorstöchter aus Trautzschen
bei Pegau und wurden bei vielen ihrer Bekannten als die jungen Schweinchen
aus Pastor K.s Familie bezeichnet. So hatte nämlich einmal ein Viehhändler
in Pegau die vorzüglichen Leistungen des in der Viehzucht sachverständigen
Pastors von Trautzschen angepriesen. Aber man würde den beiden Schwestern
durchaus unrecht tun, wenn man in dem Namen irgend einem Vergleich herbeiziehen
wollte. Die denkbarste Heiterkeit der Lebensanschauung paarte sich bei
beiden mit einer so edlen, innerlichen Feinheit, daß unsere immerwährende
lachende Fröhlichkeit in diesem Hause zugleich etwas von reiner Erhobenheit
besaß, die manchem von uns einen unbewußten Segen ins Leben mitgegeben
haben mag.
Und die Erbin dieses Geistes war unsere Kusine Marthe.
Dreizehn Jahre alt war sie, als ich nach Leipzig kam und fünfzehn, als
ich mich mit meinem Bruder Hans in ihre Verehrung teilen mußte. Aber
dies von Geist und Herz sprühende Mädchen muß weit über ihr Alter reif
gewesen sein. Wir haben sie nie als Kind, sondern immer als uns emporziehende
Freundin unseres Jungmännerlebens empfunden. Wir beide waren doch schon
zu ernstlich innerlich gebunden, als daß wir zur wirklichen Liebe uns
hätten ziehen lassen; sie hat sich noch am Ende unserer Studentenjahre
mit dem Doktor Baumbach verlobt, mit dem sie eine glückliche
Ehe gefunden, und als dessen Witwe sie jetzt noch in Langensalza lebt.
Sie erfreut uns manchmal sehr durch ihren lieben Besuch und mit ihr
ihr prächtiger Junge, Friedel Baumbach, der jetzt schon ein beliebter
Arzt in der Leipziger Kinderklinik ist.
Neben Marthe verschwand die stille und weniger begabte
Lisa fast ganz, aber sie besaß auch die große Bescheidenheit
von ihrem Vater, die nichts für sich forderte und froh war, wenn die
anderen sich freuten. - Und von diesem Geiste hat auch der Bruder Walther
viel bekommen, unser lieber Vetter in der Elsterstraße.
Ja diese Sonntage in der Lessingstraße! Um 1 Uhr zu Tisch
waren wir pünktlich dort, und abends um 10 Uhr mußten wir gewaltsam
mit dem unerbittlichen Rufe: "es ist um 10" oder mit dem Scherzwort
"wenn ich wo wär', ich ginge nun" hinausgeworfen werden. Nach dem
schönen Mittagessen war obligatorisch der Spaziergang um die Rosentalwiese,
dann wurde musiziert. Auch Marthe leistete schon recht Tüchtiges auf
dem Klavier. Ich konnte mich ja damals auch noch ein wenig hören lassen
("Sie haben ein sehr schönes Stück gewählt!"), aber unser Hans schoß
den Vogel ab; ihm war es gegeben, Wagner-Motive u.a. in freier Phantasie
zu behandeln, oder auch mit Tante Marie die Beethovenschen und Mozartschen
Symphonien vierhändig zu spielen.
Noch einmal: Lessingstraße 16!- auf diesem Namen liegt
ein Glanz, der über mein ganzes Leben strahlt. Ich bin, sehr glücklich
gewesen in dieser Verbindung und wollte nur, daß ich etwas von solcher
Lebensharmonie und -Glückseligkeit auch von meinem Hause ausstrahlen
lassen könnte, wie sie mir dort geschenkt worden sind.
Zu einem ganz anderen Bilde muß ich nun übergehen. Abgekämpft
als unmittelbarer Gegner Bismarcks in der Schutzzoll- und Freihandelsfrage,
und mit einem Herzleiden, das meiner Mutter viel Sorge "bereitete, war
Vater aus Berlin zurückgekommen. ("Heute war der Alte wieder einmal
recht ungnädig!" stand manchmal in Vaters Berliner Briefen. Und das
bedeutete Herzweh für den Verehrer des großen Kanzlers!) Er war der
Leiter der Zollbehörde geworden und als solcher ganz gewiß auch noch
sehr reichlich belastet. In grosser Huld hatte ihm König Albert durch
Vermittlung des Finanzministeriums einen Sommeraufenthalt in dem Weinbergschlößchen
Hoflößnitz verliehen, das nun in den letzten Jahren seines Lebens ihm
mit seiner Zurückgezogenheit an der sonnigen Berglehne eine schöne Erholungsstätte
ward.
Das Herzleiden trat manchmal erschreckend auf. Ich erinnere
mich, mehrmals gesehen zu haben, wie Vater in Dresden auf dem Heimweg
zu unserer Wohnung in der Sedanstraße mitten auf dem Bismarckplatze
stehen blieb, den Laternenpfahl umkrampfte und viertelstundenlang den
Atem nicht fand, um weitergehen zu können. Mutter stand am Fenster betend
und wissend, daß kein Mensch dem geliebten Manne jetzt helfen könnte.
So geschah es denn am 21. Mai 1886, daß auf unserem Tische
in der Kramerstraße wir ein Telegramm vorfanden: Vater todkrank, kommt
gleich. Hans und ich wußten, daß Mutter das Schlimmste nicht auszusprechen
gewagt hatte. Und als wir um die Ecke des Schlößchens bogen, da sahen
wir schon durch das Fenster das sicher Erwartete. Mit gefalteten Händen
lag der teure Mann auf dem eisernen Feldbett, das ihm, wie uns anderen
allen, dort draußen zur Lagerstätte dienen mußte, - ein Teil seines
Gesichtes von der blauen Blutwelle des Herzschlages entstellt. Ich habe
in diesem Augenblicke ganz seltsam bis in die Tiefe meiner Seele hinein
empfunden: das ist nicht das Letzte, "ich glaube an die Auferstehung
und das Leben."
"Ach, sie haben einen guten Mann begraben, und mir war
er mehr". Diese Goetheschen Worte schrieb unser lieber Immisch
damals an uns, und sie geben in ihrer Schlichtheit auch das wieder,
was ich in tiefer Dankbarkeit gegen diesen schlichten, reinen, großdenkenden
und edlen Menschen immer empfunden habe.
Ich muß hier eine Erinnerung einschalten. Es war in den
Weihnachtsferien, etwa am 3. Januar 1886, da nahm mich in ihrer Stube
in der Sedanstraße meine Mutter plötzlich beiseite und sagte: "Ich muß
mich einmal aussprechen, Du bist mein lieber Theologe, und Dir sage
ich's am liebsten. Ich habe in dieser Nacht geträumt, ein Bahnbeamter
tritt in der Hoflößnitz zu unserer Hoftür herein und bringt mir die
Uhr und das Taschenbuch unseres Vaters. Mich bewegt nun die Angst, was
das bedeuten könne". Ich konnte damals unserer Mutter nur mit einem
Händedruck antworten, der bedeuten sollte, "bereit sein ist alles".
Wörtlich ist der Traum nicht in Erfüllung gegangen. Aber
Vater ist, nachdem er behaglich im Hofe draußen mit Mutter gefrühstückt
hatte, nach der Eisenbahnstation Weintraube geeilt, dort in den Zug
gesprungen, and hat mit einem Seufzer seinen Geist aufgegeben. Ein Eisenbahnbeamter
aber hat unserer Mutter die Nachricht wirklich überbracht.
Das Begräbnis auf dem Trinitatisfriedhofe mit den liebevollen
und gläubigen Worten unseres lieben Onkels Kühn und mit einer
überaus zahlreichen Trauergemeinde, nicht zuletzt aber auch ein Telegramm
unseres Königs aus Sibyllenort haben es uns zum Bewußtsein gebracht,
daß Vater wirklich eine außerordentliche Liebe und Verehrung genossen
hatte.
So war denn unser leben nun mächtig verändert. Die Beendigung
unserer Studien war bei der immerhin nicht hohen Pension unserer Mutter
in Zweifel gestellt, und der beste Ratgeber unsres Jugendlebens war
uns verloren. Aber Gott hat wundervoll geholfen. Mutter hat mit ihrer
Opferfreudigkeit mir durchs Examen geholfen, hat sich Hans' ganzes medizinisches
Studium und die Kosten der Ausstattung für meine Schwester Else noch
abgespart, und als dazu noch die Kosten des Forststudiums für meinen
jüngsten Bruder kamen, da hat Onkel Wachsmuth in großer Güte beigestanden.
Vater hatte übrigens noch die letzte große Freude erlebt, daß mein Bruder
Hans durch ein wirklich glänzendes Physikum alle die Schmerzen ausglich,
die seine schwere Schulentwicklung den Eltern bereitet hatte.
Ich wußte ja nun, daß ich mich mit dem Studium beeilen
mußte aber das schwere Ereignis fiel schon in mein 7. Semester. Aufs
8. war eigentlich das Examen gemünzt gewesen, die Erschütterungen dieser
Monate haben mich bis ins 9. hineingezwungen.
Nicht gleich nach der Tübinger Zeit hatte ich mich in
die besondere Aufgabe der Examensvorbereitung gestürzt, ich durfte ja
mich noch etwas ausbreiten. Das habe ich denn auch durch Anhören von
geschichtlichen und philosophischen Kollegien getan. Ob ich denn überhaupt
wohl mein Studium in der richtigen Weise durchgeführt habe? Es schwebt
mir vor, daß sowohl in den exakten wie in den spekulativen Wissenschaften
(und die ersteren stehen den letzteren nach der neuen Naturanschauung
ja gar nicht mehr fern) die Quellenforschung auch dem Studenten schon
ebenso ernstlich am Herzen liegen müßte, wie die Befolgung einer rechten
Methode. Wir Theologen müßten nicht nur im Urtext der Bibel Alten und
Neuen Testaments vollständig zu Hause sein, sondern auch die Kirchenväter
und die Reformatoren in ihren Hauptschriften genau kennen samt den Bekenntnisschriften
der Kirche. Notwendig ist ebenso auch das Studium der neuesten, für
die einzelnen Fächer bedeutenden Literatur, Ritschl's "Rechtfertigung
und Versöhnung", Harnacks "Dogmengeschichte" u.a. waren zu meiner
Zeit Bücher, die jeder hätte lesen müssen. Die Einführung ins praktische
Amt könnte meines Erachtens den Jahren zwischen den beiden Kandidatenprüfungen
überlassen bleiben. Eine Zeit im Predigerseminar müßte obligatorisch
sein.
In die Zeit des Studiums aber müßte unbedingt noch mehr,
als bisher berücksichtigt war, eine ernste Glaubenspflege aufgenommen
werden. Auch der junge Theologe darf sich nicht nur als einen Gelehrten
- als einen Theologen -, sondern er muß sich als einen Jünger Christi
betrachten lernen, dem an der Ausbildung eines innigen, unverbrüchlichen
Verhältnisses zu seinem Herrn alles gelegen ist. In dem, was ich hier
zuerst gefordert habe, bin ich wohl nicht bis zu dem Ziele gekommen,
das ich hätte erreichen sollen. Ich habe ein paar reformatorische Hauptschriften
gelesen, von den Kirchenvätern aber wohl kaum etwas mehr als Augustins
Konfessionen; das war entschieden zu wenig. Meine wissenschaftliche
Arbeit hat sich, ich sage leider, im wesentlichen auf die Durcharbeitungen
meiner Niederschriften aus dem Kolleg und auf ein möglichst eindringendes
Studium der biblischen Schriften beschränkt. Darüber hinaus bin ich
lediglich ein Grübler gewesen, der sich im eigenen Denken sein dogmatisches
und ethisches System, ebenso wie seine philosophische Weltanschauung
auszubauen suchte. Ich bedaure diese Arbeiten meiner Studentenzeit keineswegs,
sie haben mich ja schließlich zu einem innerlich ausgereiften Christen
und Theologen gemacht; aber die Früchte hätten doch eine bessere Reife
und einen kräftigeren Saft bekommen, wenn die Wurzeln des Baumes in
tieferes Erdreich gesenkt worden wären.
Vielleicht liest doch einmal ein junger Nachfolger diese
Zeilen; dem möchte ich sie zu bedenken geben. Zur Vertiefung unsres
Glaubenslebens wurden uns in meiner Studentenzeit eigentlich nur die
Predigten in der Kirche geboten. Auch die Gemeinden trieben ja damals
noch keine so ausgebreitete Seelsorgearbeit und Vereinspflege wie heute,
- und im Kolleg war der seelsorgerliche Ton doch nur ausnahmsweise zu
spüren. Das darf ich wohl ohne Überhebung sagen: ein betender Leser
und Hörer des Grotteswortes bin ich immer gewesen, und dem Streben nach
wenigstens habe ich mich unter diejenigen rechnen dürfen, die nach Jer.
29, 13 Gott "von ganzem Herzen suchen".
Nun aber "drohte" das Examen. Mit ein paar Kameraden,
von denen ich leider nur noch Weineck, jetzt Pfarrer von Groß-Erkmannsdorf,
auch ein Mitschüler in der Kreuzschule, erinnerlich ist, tat ich mich
zur Paukerei zusammen. Kirchengeschichte nach dem "Adreßbuch" von Kurtz
und systematische Theologie nach Luthardts Kompendium fragten wir uns
mit emsigen Fleiß in täglichen Stunden ab. - Hier muß ich aber doch
bemerken, daß Luthardt mir auch heute noch wertvoll ist. Diese Nebeneinanderstellung
der Meinungen von Theologen aller Zeiten über die Hauptlehren der Kirche
wurde auch für die ganz persönliche Überzeugung sehr wertvoll und hilft
mir noch heute oft zur Klärung meiner Gedanken.
So bin ich denn ins Examen gestiegen, aus dem ich am 4.
August 1887 mit der 2. Zensur ohne Minderung als "wohlehrwürdiger Kandidat
der Theologie" hervorging. Als Klausur hatte ich neben den regelmäßigen
Exegesen eine systematische Arbeit lateinisch zu schreiben, deren Thema
der verehrte D. Fricke mir zu geben hatte. Das Thema habe ich
leider vergessen. Ich erinnere mich aber mit Rührung daran, wie Fricke
mich noch nach dem Examen und der Zensurerteilung an seinen Schreibtisch
rief und Gedanken für Gedanken wie auch jede lateinische Wendung, die
ihm nicht gefiel, eingehend mit mir durchsprach. Da habe ich noch einmal
etwas von seiner väterlichen Gesinnung für mich gespürt.
Ehe ich nun mit meinen Erinnerungen in die Kandidatenzeit
hinüberwandle, sind doch noch zwei Ergänzungen nötig. Ich war ja Verbindungsstudent
gewesen. Wir nannten freilich unsre Vereinigung "Fridericiana" noch
nicht eine Verbindung, aber wir trugen unsren hellblau-silber-dunkelblauen
Bierzipfel mit demselben Stolz wie der Verbindungsmann sein Band und
sagten auch selbstbewußt jedem, der es hören wollte, daß wir satisfaktionsfähig
wären. Damit hat es für mich eine eigne Bewandtnis gehabt. Ich bin ein
paar Semester auf dem Paukboden gewesen und gab mir auch Mühe, ein guter
Fechter zu werden, als aber einmal eine Kontrahage sehr nahe kam, war
ich doch froh, daß sie sich ohne Schande für mich wieder löste. Mein
Arm war zu schwach, als daß ich die linke Wange hätte vor einem kräftigen
Durchzieher sicher schützen können. Und den mit auf die Kanzel zu nehmen,
schien mir doch schon damals sehr bedenklich. Auch da war Freund Immisch
mein Schutzengel. Wie er alles vorzüglich leistete, so auch das Fechten.
Er zog die Gegner, die etwa auftraten, auf sich und hat von seiner Mensur
nur einen kleinen, auch nicht zu schönen Haken auf der Nase behalten.
Sowohl die regelmäßige Kneipe, die bei uns Fridericianern
einmal in der Woche mit einem literarischen Abend mit Vortrag verbunden
war, als auch den Fechtboden stelle ich in meiner Erinnerung doch recht
hoch. Eine gewisse Selbstüberwindung in gesellschaftlicher und leiblicher
Beziehung, Mut, Anspannung und Verachtung kleiner Unbequemlichkeiten
werden geübt und bringen für die spätere Lebenshaltung einen wertvollen
Besitz. Den Fridericianern von damals haben mich die Verhältnisse später
leider ferngerückt. Die mir freundschaftlich nahestehenden auch aus
jener Schar sind mir durch andere gemeinsame Schicksale verbunden worden.
Aber kein Vorkommnis etwa hat grundsätzlich eine Entfremdung zwischen
uns hervorgerufen. Ich grüße die Turnerschaft Fridericiana, wie sie
heute durch Leipzigs Straßen zieht, und nächstens ihr 45jähriges Stiftungsfest
feiert, in treuer Gesinnung.
Endlich möchte ich auch auf die kulturellen Einflüsse
Leipzigs für mich noch einen Blick werfen. Mein Wechsel war allenfalls
genügend, um doch dann und wann im Theater oder im Gewandhaus mir einen
Hohen Kunstgenuß zu verschaffen. Auf das Theater sahen wir in Dresden
Verwöhnten ein wenig hochmütig herab; aber Gewandhauskonzerte habe ich
manche mit heller Begeisterung genossen. Und wenn mir heute noch trotz
aller langen Entbehrung Beethovens Eroica und die Fünfte und Neunte
Sinfonie oft wieder auftauchende, sehr geläufige Klänge sind, Schuberts
Unvollendete H-moll mich bis in die Tiefe bewegt, so danke ich das jenen
herrlichen Abenden. Sehr oft bin ich auch durchs Museum gegangen; es
wurde mir genau vertraut. Ich habe zwischen der bildenden Kunst und
dem Bekenntnis der Kirche immer eine enge Verbindungslinie gezogen,
auch einmal einen Vortrag drucken lassen über "Kunstgeschichte als bekennende
Kirchengeschichte". Zu diesen, jetzt von Preuß in Erlangen
gepflegten Gedanken habe ich immer geneigt. Wenn ich Professor geworden
wäre, dann hätte ich ihm dieses Arbeitsgebiet vorweggenommen.
Alma mater! Du bist mir wahrhaftig immer eine gütige Mutter
gewesen. Das gefühl, als "bemooster" Bursche auszuziehen, habe ich nicht
gehabt. Viel näher lag mir die Empfindung, als ich in den Dresdner Zug
stieg, um zu meiner Mutter ins stille, anmutige Witwenheim - Bienertstr.17
in Dresden-Plauen - zurückzukehren, daß das eigentliche Leben erst noch
kommen sollte. Aber daß dieses Leben der Manneskraft jetzt vorbereitet
war durch die hohe Schule mit all ihrer Verwandtenliebe und Freundschaft,
das habe ich damals und immer dankbaren Herzens empfunden.
Die
Kandidatenzeit
Das Witwenheim meiner Mutter war anziehend genug, um sich
gern dort lange aufzuhalten. Mutter, mit 54 Jahren zur Witwe geworden,
trug ihre tiefe Trauer - denn ihre Ehe war überaus glücklich gewesen
- mit gläubiger Ergebung und mit einer Liebe, die dem Verklärten nur
immer gern in allen Handlungen nachfolgen wollte, sodaß wir alle die
Heimat nicht entbehrten. Auch in viel höherem Alter waren wir Kinder
noch immer gewöhnt, mit all unseren wichtigen Erlebnissen zur Mutter
zu gehen, und uns an ihre Schulter zu lehnen. Wie oft hat mich aus ihrem
Munde und unter ihren streichelnden Händen das Wort aus einem ihrer
Lieblingslieder getröstet: "Bist du doch nicht Regente, der alles führen
soll; Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl". .. .
Aber der Kandidat war durchaus nicht gewillt, sich schon
zur Ruhe zu setzen, und strebte ins Weite. Was Gott mir zuweisen würde,
das wollte ich gerne annehmen. Es bangte mir wohl ein wenig vor einer
Hauslehrerstelle; aber ich wäre auch damit zufrieden gewesen. Noch hatte
sich keine Türe aufgetan, und ich mußte ernstlich anfangen, mich umzutun.
Allerdings hatte mir Onkel Kühn einmal gesagt, daß er im Rauhen
Hause für mich um eine Oberhelferstelle gebeten habe; seine Bitte aber
sei ihm abgelehnt worden, weil ich doch noch gar keine Unterrichtserfahrung
hätte.
Da erlebte ich vielleicht nicht die erste, aber eine der
mächtigsten von jenen wunderbaren Führungen, die mir der liebe Gott
so oft hat zuteilwerden lassen. Ende August, also noch nicht 4 Wochen
nach meinem Examen, lagen auf dem runden Tisch in Mutters Stube zwei
Telegramme. Das eine, offene, hatte Onkel Kühn gebracht. Es enthielt
die seltsamen Worte: "Heißt Ihr Neffe Zenker, dann veranlassen Sie ihn,
sich hier sofort vorzustellen. Wichern. " Das andere war an mich gerichtet
und lautete: "Bitte um baldmögliche Vorstellung im Rauhen Hause" mit
derselben Unterschrift. Die geheimnisvolle Gedankenverbindung der beiden
Depeschen war damals nicht zu deuten. Daß die Möglichkeit sehr naherückte,
trotz der vorherigen Ablehnung doch noch eine Oberhelferstelle im Rauhen
Hause zu bekommen, erfüllte den jungen Theologen mit freudigstem Schreck.
Ich packte meinen Koffer, fuhr über Nacht nach Hamburg
und stand am anderen Vormittage vor Herrn Johannes Wichern in
der berühmten "grünen Tanne" im Rauhen Hause. Wichern sprach mit mir
freundlich, gab mir dann einen Führer, der mir alle die Häuser der Anstalt
zeigen sollte. Ich aß in einem nahen Gasthaus. Und als ich dann gegen
Abend ermüdet von all dem Erlebten und Gesehenen wieder zu Herrn Wichern
kam, sagte er, der von einer Anstellung bis dahin nicht gesprochen hatte,
ich möchte nun am nächsten Tage eine Probelektion ablegen, er habe wohl
Lust, mich zu berufen.
Ich kam nach einer im Hospiz in Hamburg tiefdurchschlafenen
Nacht erst kurz vor der angesetzten Stunde in das Schulhaus der Anstalt;
von einer Vorbereitung war bei meiner großen Müdigkeit kaum die Rede
gewesen, nur eilig hatte ich mir die Hauptgedanken der Geschichte vom
Verlorenen Sohn - ein prekäres Thema im Rauhen Hause! - zusammengelesen.
Zu meinem Schrecken waren auch 2 andere Kandidaten zum Wettbewerb berufen
worden. Mit etwa 12 Knaben hielt ich meine Lektion, während der ich
die strengen Augen Herrn Wicherns und etwa noch 4 anderer Lehrer auf
mich gerichtet sah. Das erhöhte natürlich nicht des Anfängers Freudigkeit.
Mit dem sicheren Gefühle, meine Sache recht schlecht gemacht
zu haben, ging ich die Treppe hinab ins Freie. Ich war ja sicher, daß
die Konkurrenten viel besser abschneiden würden; aber siehe, da legte
mir Herr Wichern von hinten her schon die Hand auf die Schulter und
sagte mir: "Wenn Sie wollen, so sind Sie von heute an Oberhelfer des
Rauhen Hauses".
Es war ein Augenblick von überwältigender Freude! Natürlich
mußte ich noch wieder nach Hause reisen, und mein Dienst mußte erst
nach den Michaelisferien beginnen. Ich werde gleich zu erzählen haben,
welches neue große Geschenk auf der Heimreise mir mein Gott geben wollte.
Zunächst aber noch eine Aufklärung über die seltsame Art, wie es zu
meiner Berufung gekommen war. Wie konnte Herr Wichern in dem einen Telegramm
erst nach meines Namen fragen und in dem anderen zu gleicher Zeit schon
mich berufen?
Um das zu erklären, gibts eine neue wunderbare Erinnerung,
zu der ich ein wenig zurückgreifen muß. Bei unserem Besuche 1882 in
Kiel hatten wir einen prächtigen, bildschönen Studenten in Onkel Heinrichs
Hause kennen gelernt, der Julius Wassner hieß, aus dem obersten
Norden von Schleswig-Holstein gebürtig war und Philologie studierte.
Wir drei Schüler waren sterblich in Wassner verliebt, umsomehr als dieser
frische Mensch von geistreichen Scherzen und lustigen Liedern überquoll.
Der nun hatte bei seinen schönsten Liedern mir manchmal als Dichter
seinen Freund Hans von Schubert, den Sohn eines Dresdner Generals,
genannt. Er hatte in Bonn mit ihm zusammen einem Freundeskreise angehört,
zu welchem sich auch die mir später bekannt gewordenen Krug von Nidda
aus Sachsen, Simons aus Elberfeld, Prinz Ernst von Sachsen-Meiningen
aus Saalfeld zählten. Von jenen Erzählungen 1882 an hatte sich in mir
wie ein goldener Traum der Wunsch ausgebildet, Hans von Schubert kennen
und lieben zu dürfen. Seltsam, als ich 1884 in Tübingen in jenem Missionsverein
zu Gast war, sagte mein schwäbischer Nachbar: "Wären Sie das vorige
Mal dabei gewesen, da hätten Sie einen glänzenden Menschen kennen gelernt:
Hans von Schubert." Und noch an mancher anderen Stelle wurde ich von
den besonderen Eigenschaften Schuberts überzeugt. Ihn aber zu sehen,
war mir noch nie gelungen. In seinem Vaterhaus ihn aufzusuchen, wagte
der jüngere und schüchterne Student eben nicht.
Welches Erstaunen nun, als Herr Wichern mir jetzt sagte:
"Nun machen Sie gleich Ihre Antrittsbesuche, wenigstens bei den führenden
Lehrern. Mein Stellvertreter ist Pastor Röhricht, der ist aber verreist.
Und da gehen Sie zu allererst einmal zu Herrn von Schubert." So hatte
Hans von Schubert unter meinen Kritikern gesessen bei der Probe, - und
war der Langgesuchte mein Kollege geworden. Als ich im Schulhause oben
in seine Wohnung trat, und seine liebe Frau - Bertha geb. Köppern
- zum ersten Male sah, wußte ich, daß meine Sehnsucht sich nicht getäuscht
hatte. - Und nun nach 40 Jahren darf ich mit tiefem Dank gegen Gott
bezeugen, daß über unsere Freundschaft niemals ein Schatten gekommen
ist. Sie ist mir von unendlichem Segen gewesen!
Mit den Telegrammen wars nun so gekommen: Man hatte für
die Kandidatur an Wassners jüngeren Bruder gedacht und sich deshalb
an Julius Wassner gewendet. Der hatte abgeschrieben, aber zugleich gemeldet,
es würde sich wohl ein gewisser Walther Zenker in Dresden für die Stelle
eignen. Da war dem Dresdner Schubert das Blatt geschossen, - wenn Konsistorialrat
Kühn in Dresden einen Neffen empfiehlt, dessen Namen er nicht nennt,
und Wassner später auch auf einen Dresdner hinweist, - dies wahrscheinlich
mit einigen näheren Winken -, so ist es sehr möglich, daß die beidenen
Empfohlenen identisch sind. Herr Wichern mit seinem frommen Glauben
an Gottesfügungen und mit seiner stets leidenschaftlichen Entschiedenheit
macht die Vermutung zur Tat und sendet gleichzeitig die beiden Fragen
ab und hat sich, wie ich auch heute noch glaube, in dem Bewußtsein der
Gottesfügung auch durch die Enttäuschung nicht irre machen lassen, die
ihm meine mißglückte Probestunde bereiten mußte.
So fuhr ich denn nun nach ein paar Tagen der ersten Bekanntschaft
mit dem Rauhen Hause und der neuen Heimat Hamburg als wohlbestallter
Mann wieder heim. Am 5. September machte ich Rast in der Kommandantenstraße
42 II in Berlin. Onkel Schumann hatte
in den letzten Jahren geschäftlich Unglück gehabt und eine Wohnung nehmen
müssen, welche gegen die vorherigen in der Friedrich- und Schützenstraße
sehr ungünstig abstach. Dort fand ich aber doch ein kleines Gaststübchen,
oder schlief ich im Kontor, ich weiß es nicht mehr. Und nun mit dem
so plötzlich veränderten Gefühle eigenen Wertes stand ich vor Käthe
Schumann. Die durch manches Jahr gereifte Liebe drängte hervor,
- und nach einer durchbeteten Nacht faßte ich am 6. September früh sie
im Salon beim Staubwischen ab, und unsere Herzen senkten sich ineinander.
In jener Woche hat Gott an mir Wunder über Wunder getan. Der größte
Segen meines ganzen Lebens ist damals über mich gekommen.
Es war ein Gemisch von stolzer Freude und bescheidenem
Bangen, mit welchem ich Ende September meine Reise ins erste Amt antrat.
Nach einem kurzen Beisammensein mit meiner Braut zog ich denn in die
Kandidatenstube ein, die 2 Treppen hoch im "Adler" für einen solchen
bereit steht, wenn er noch nicht zu einer Familienleitung berufen ist.
Mein Amt sollte zunächst nur Unterricht und Hilfeleistung bei der Aufsicht
sein.
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Johann Hinrich Wichern 1808 - 1881
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Das Rauhe
Haus! Johann Hinrich Wicherns herrliche Schöpfung. 1833 hatte
er die "grüne Tanne" dort am Teiche bezogen, und ein Strom von Segen
war seit 55 Jahren von dort ausgegangen. Wie erfüllte mich bald die
Größe der Aufgaben, welche mit dem Worte Innere Mission umschrieben
werden. Wie bin ich dankbar, daß mir diese Worte, die für viele Christen
doch nur ein leerer Schall bleiben, an ihrer Heimatquelle lebendig geworden
sind. Weit über die Grenzen des Rauhen Hauses hinaus hatte D. Wichern
den neuen Grundsatz des Glaubens, der in der Liebe tätig ist, verkündet
und vorgelebt. Seine Berufung in den preußischen Oberkirchenrat war
nicht nur eine Dekoration gewesen, sondern hatte die Ehe zwischen Kirche
und Innerer Mission, die unbedingt bestehen muß, endgiltig befestigt.
Jetzt wohnte Johannes Wichern mit seiner lebensvollen,
energischen Frau, der Schwester des berühmten naturwissenschaftlichen
Geleherten, Du Bois-Reymond, in dem eigenartigen Hause, dessen
spitzes Dach auf beiden Seiten bis zum Erdboden herunterreichte, von
den Fenstern nur durchbrochen, sodaß die Front mit ihrer roten Ziegelfläche
und ihrer weit offenstehenden weißen Türe einen doppelt einladenden
Eindruck machte. In einem großen Rosenbeete auf runder Wiese stand eine
Tanne mit weiten Ästen, ihre Vorgängerin mochte dem Hause den Namen
gegeben haben: die "grüne Tanne". Es war etwas Sinnbildliches in diesem
mütterlichen Baume; die "grüne Tanne" ist wirklich ein Mutterhaus für
uns Rauhhäusler alle in des Wortes höchster Bedeutung.
Amtliche Gänge zu "Herrn Wichern" und Freundschaftsgänge
in das liebe Damenzimmer unserer "Mutter" waren gleich freudig und gleich
bewegt. Nicht immer freilich freudig, denn Herr Wichern stand in hohem
Respekt, und wenn man etwas zu beichten hatte, so kam sein mildes Verzeihen
erst dann zuwege, wenn er einem gehörig den Kopf gewaschen hatte.
Aber ein Beispiel, das freilich meine Person nicht angeht,
mag statt vieler die Erinnerung festhalten, mit der seine echte Jüngerpersönlichkeit
in mir lebt. Wir waren zu einer Lehrerkonferenz versammelt, und herein
schlürft auf schweren Stiefeln der alte Sievers, unser Bote,
eine halbe Kraft, die das Gnadenbrot aß und eben zu leichten Gängen
allein noch benutzbar war. Herr Wichern, in einer seiner interessanten
Darlegungen gestört, braust auf und schreit, in solchem Augenblicke
sich selbst nicht kennend, Herrn Sievers an, daß er so schnell wie möglich
das Zimmer verlassen möchte. In demselben Augenblicke aber krampft er
sich förmlich zusammen, blickt sekundenlang ernst und traurig vor sich
hin, läuft dem alten Manne nach, führt ihn wieder zu uns hinein, ergreift
seine beiden Hände und sagt: "Entschuldigen Sie bitte, meine Herren,
ich habe mich vergessen gehabt. Verzeihen Sie, lieber Herr Sievers,
mir mein unchristliches Verhalten. " Man wird verstehen, daß ein solcher
Augenblick aus dem Leben des Meisters dem nachstrebenden Kandidaten
unvergeßlich bleiben mußte.
Jene schweren Gänge ins Mutterhaus waren aber doch nur
seltene Ausnahmen. Für gewöhnlich klopfte das Herz gar hoch, wenn
man im ersten Stockwerk in das geräumige Amtszimmer eintreten durfte,
in welchem der große Wichern seine Schöpfungen durchdacht und bearbeitet
hatte, und das nun als ein echtes Gelehrtenzimmer mit vielen, vielen
Büchern Johannes Wichern benutzte. Von der "grünen Tanne" aus trat ich
nun diesmal den ersten Rundgang durch den Gottesgarten an, wie man das
liebe Rauhe Haus mit seinen Rosen und Georginen, mit seinen kleinen
Wäldchen, Spielplätzen und 20 verschiedenen Familiengärten wirklich
nennen darf. Zuerst gings ins "weiße Haus". Dort wohnte damals
noch die Mutter, Johann Hinrich Wicherns Witwe, Amanda geb. Böhme,
nicht bloß von der Familie, sondern von allen Brüdern und Kandidaten
innerlich verehrt. Ich bin der letzte Kandidat gewesen, der das Glück
hatte, die ehrwürdige Greisin besuchen zu dürfen. Von da an hat sie
sich wegen ihrer zunehmenden Schwäche ganz fernhalten müssen. Aber die,
welche sie einmal angenommen hatte, umfaßte die ehrwürdige Greisin mit
der kleinen Gestalt und der großen liebe in immer neu bewiesener Treue.
Um das Wirtschaftsgebäude, in dem der große Speisesaal
war, herum zogen sich nun die Familienhäuser des Paulinum oder Pensionats.
Unsere Jungen waren ja alle in "Familien" eingeteilt, an deren Spitze
als Mutter ein Bruder und als Vater der Oberhelfer stand. Der "Köcher"
- Psalm 127, 4-5 - hatte 2 Familien, links und rechts zu ebener Erde
mit reizenden Veranden, die von blauen und roten Winden übersponnen
waren. Dort waren die Großen, die Sekundaner; denn bis zum Freiwilligen-Zeugnis
und allenfalls noch darüber hinaus führten wir unsere Jungen. -- Dann
kam der "Weinberg". Dieses auch vom Stellvertreter Herrn Wicherns, Pastor
Röhricht, bewohnte Haus enthielt einige Oberhelfer-Wohnungen
und eine Knabenfamilie, die nächste Altersklasse. - Zwischen dem Köcher
und dem Weinberg lag unser herrlicher Spielplatz, eine Talmulde zwischen
hohen, alten Eichen und Buchen, deren Fläche groß genug war, um kräftig
Fußball- und Croquetspiele auszuführen. - Auf Familie Röhricht komme
ich wohl an andrer Stelle zurück.
Nun mein "Adler" - "die auf den Herren harren, kriegen
neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler" - Jes. 40, 31.
Unten die Turnhalle, auf mächtigen Eisenträgern darüber Schlafsaal und
Wohnraum der Adler-Jungen, und oben im 2.Stock wohnt einstweilen der
Oberhelfer Zenker, bis er nach einem halben Jahr als Familienleiter
in die Mittelzimmer zwischen den Knabenräumen hinunterziehen darf. Das
Adlerhaus ist 2 1/2 Jahre lang meine Heimat gewesen, solange ich im
Rauhen Hause war.
Folgt die "Eiche", die für die Jungen von Sexta bis Quarta
war, während der Adler die Zwischenstufe der Tertianer beherbergte.
Dort war der Eingang in unseren großen Gartenkomptex, der von der Horner
Landstraße aus hineinführte. — Jenseits ging nun die Knaben- und Brüderanstalt
an, das eigentliche Rauhe Haus; denn mit der Sammlung von kleinen Volksschülern
hatte Wichern ja begonnen, und die Brüderanstalt war daraus entwickelt
worden, längst ehe das Pensionat der höheren Schüler sich auftat. Erst
der Ökonomiehof; seltsam, um den habe ich mich eigentlich nie gekümmert.
Das Stadtkind hatte eine törichte Abneigung gegen die "Schweinewirtschaft".
— Der "goldene Boden" war ein großes Gebäude, in welchem die Lehrlinge,
die zumeist wohl in der "Fischerhütte" wohnten, ihr Handwerk lernten.
Dort waltete der prächtige Bruder Uhlig - wenn ich nicht irre
nach seiner handwerklichen Ausbildung Schlossermeister - seines Amtes.
Ihm waren all die jungen Lehrlinge auf die Seele gebunden; und dieser
jugendlich frische, schöne, bärtige Mann, der auch vor der Welt mit
seiner Erscheinung wohl bestehen konnte, war ein Jünger unseres Herrn,
von dem ich zum ersten Male in meinem Leben den Eindruck empfangen habe,
wie ein Mann des Volkes zu einem ehrwürdigen Mann Gottes zu werden vermag.
In dem Hause waren grosse Schlosser-, Tischler- und Schneiderwerkstätten,
vielleicht auch noch andere -, eine Buchbinderei gab es jedenfalls auch
in der Anstalt.
Wie die anderen Häuser hießen, ist mir doch nur teilweise
noch in Erinnerung, "Schönburg" der eine Name. Dort tollten, wenn sie
nicht in der Schule waren, kleine Kerle in grauen Hosen und blauen Jacken.
Die Uniform ergab sich ja von selbst, weil die Jungen auch in der Kleidung
von der Anstalt versorgt werden mußten. - Die "Brüder", welche für alle
Zweige der Inneren Mission im Rauhen Hause ihre Ausbildung empfingen
- und zwar war dies die Hauptarbeit unsres lieben Herrn Wichern und
der "Brüder" P. P. Röhricht und Hans von Schubert, aber auch wir Kandidaten
wurden nach dem Maße von Zeit und Kraft daran beteiligt - wohnten wohl
alle an der Stätte ihrer besondren Tätigkeit, also meistens in den Knabenfamilien,
wo sie ein Wohnzimmer für sich hatten, aber mit den Jungen gemeinsam
schliefen. Sie waren also Tag und Nacht in dem schweren Dienste, dessen
Bürde nur durch die Liebe wesentlich gemildert wurde, mit welcher das
ganze Haus sie trug, und ebenso durch die sonnige Gartenwelt, in welcher
dort alle selbst wie die Blumen gedeihen durften. Dieser sehöne Garten,
in dem ich ja noch das Schulhaus mit seinen auf 2 Stockwerke verteilten
Klassenzimmern und seiner im 3. Stock gelegenen Direktorwohnung, die
jetzt meine lieben Schuberts bewohnten, und - wahrhaftig nicht als geringstes
- unseren Betsaal mit seinen 400 Plätzen zu erwähnen vergessen hatte,
lag im Nordwesten Hamburgs zwischen der Hammer- und der Horner-Landstraße.Von
der ersteren mußte man zu ihm ziemlich hoch emporsteigen. Die Hornerstraße
trennte unser Gelände von einer weiten Hochfläche, an derem Horizont
zwischen Baumwipfeln die Kirchspitze von Altrahlstett herübergrüßte,
wo damals schon mein lieber Onkel Walther Chalybaeus als Pfarrer
und Propst von Stormarn wirkte. Die Hamburger Rennbahn war auch von
unseren Fenstern aus zu übersehen, sodaß wir an manchem Rennen lebhaften
Anteil nahmen.
Von unseren Jungen ist bisher nur beiläufig die Rede gewesen.
Aber dieser große Gegenstand meiner nunmehrigen Arbeit bedarf doch einer
besonderen Berücksichtigung. Rauh-Häusler-Jungen! Das Rauhe Haus ist,
wie man weiß, ein Rettungshaus ursprünglich und hauptsächlich für Kinder
aus dem Volke. Es war ja früher einmal die Einbildung da, als ob nur
für solche an eine Rettung gedacht werden müßte. Bei den Kindern höherer
Stände verbirgt die Not der Seelen und ihre große Gefahr sich ja soviel
leichter hinter den Wänden der wohlhabenden Häuser. Meine Arbeit gehörte
aber im wesentlichen den Söhnen gebildeter Stände, die in besonderen
"Familien" des Paulinum erzogen wurden und einen Flügel des Schulhauses
für sich hatten.
Ich kann mich deutlich nicht mehr an sehr viele der Knaben
erinnern und will im folgenden nur einige Beispiele der inneren Nöte
geben, an deren überwindung wir zu arbeiten hatten. Eine meiner
ersten Religionsstunden in Untertertia galt der Geographie des Heiligen
Landes. Ich sprach von den Nebenflüssen des Jordan und vom Jabbok. Da
höre ich, wie das Wort "Schafkopf" als Reim empfunden von Munde zu Munde
geht, so laut, daß die Jungen sich ihrer Herausforderung bewußt werden.
Ich fühlte sofort, daß ein entscheidender Augenblick für mich gekommen
war. Wenn ich jetzt nicht Ernst machte, war es um meine Autorität für
immer geschehen. Es galt, den Urheber zu erraten. Ich blicke die kleine
Schar einige Sekunden lang mit ernstem Auge an, rufe zwei aus der Bank
und schlage ihnen mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, - es waren
sehr stämmige Knaben - einige Ohrfeigen hinein. Mit gesuchter Ruhe erkläre
ich der Klasse dann den Grund meines Mißfallens und meines Verhaltens
und fahre nach einer Pause kurzen Schweigens freundlich mit dem Unterricht
fort.
Ich bin heute noch glücklich darüber, daß es mir mit dieser
instinktiven Entschiedenheit meines Auftretens gelungen ist, meine Autorität
im Rauhen Hause ein für allemal zu sichern. Ich halte es für geboten,
daß der Lehrer mit denkbarer Güte und fühlbarem Verständnis sich seinen
Schülern hingibt, sodaß eine Herzensverbindung entsteht, aber daß in
Augenblicken des Widerstandes oder innerlich empfundener Gegensätzlichkeit
mit fester Härte das richtige Verhältnis wieder hergestellt wird.
Einer von den beiden etwa 14jährigen Jungen (die Jungen
erreichten die Klassen infolge ihres Vorlebens meistens viel später
als es normal war) war Friedrich. (Sie wurden bei uns nur mit
ihren Vornamen genannt.) Dieser - als Sohn eines Baumeisters in Helsingfors
(Finnland) - hatte schon vor 2 Jahren, also im 13. Lebensjahre, die
Räuberlaufbahn betreten. Im tiefen Walde nahe seiner Vaterstadt hatte
er sich unter Baumwurzeln eine Wohnung gegraben, war seinen Eltern davongelaufen,
und nach 6 Wochen wurde er diesen von der Polizei wieder zugeführt.
Er hatte die ganze Zeit über in jenem Versteck gewohnt, mit dem Revolver
in der Hand sich seine Nahrung dadurch verschaffend, daß er die durch
den Wald kommenden Landfrauen bedrohte, die auf den Markt nach Helsingfors
Brot, Eier und andre Lebensmittel trugen. Ein psychologisches Rätsel!
Dieser Friedrich, den ich mir mit meiner Festigkeit gewann, wurde während
meiner Zeit ein wirklicher Freund des Lehrerkollegiums, ein wahrhaft
gutmütiges Herz offenbarte sich je mehr und mehr, und wir konnten den
schon vollkommen mannbaren Jungen mit vollstem Vertrauen zu ernsthaften
Aufträgen verwenden. Er hat manchmal während der Pausen in der Laube
zwischen uns Lehrern gesessen und dann zur Laute uns finnische Volkslieder
vorgetragen, deren wehmütiger Ton noch in mir klingt. Dann geschah es
wieder, daß er sein Hauptkunststück im Winter uns vormachte. Er entblößte
seinen kräftigen Körper bis zur Hüfte, der tätowierte russische Adler
zeigte sich auf Brust und Armen, und er warf sich bei 10 Grad Kälte
in den Schnee und schlug mit Armen und Beinen und mit dem Kopfe hin
und her, und als er aufstand, zeigte sich im Schnee das deutliche Bild
des zweiköpfigen russischen Adlerwappens. Dieser unser liebe Friedrich
ist dann in die Seemannslaufbahn getreten. Ich war schon lange fort
aus dem Rauhen Hause, als ich die Nachricht bekam, daß der in allerlei
Sport so tüchtige Mensch, dessen Charakter sich auch auf dem Schiffe
völlig bewährt hatte, bei einem seiner Kunststücke, nämlich beim Tauchen
unter dem Kiel des Schiffes hinweg, zu zeitig aufgetaucht war und seinen
Kopf an der Schiffswand zerschmettert hatte.
Da war ein ganz anderer, Henning v. d. O., ein
unglückliches Kind mit versteckten Mienen, scheuem Auge, immer in stiller
Opposition, niemals heiter, hämisch gegen seine Kameraden, schadenfroh,
auch als Tertianer schon über seine Jahre entwickelt, aber mit seiner
unreinen Haut und seiner gelben Blässe ein unheimlicher Anblick. An
ihm habe ich zum ersten Male in meinem Leben die deutliche Erscheinung
der sinnlichen Gemeinheit und Verdorbenheit gesehen. — Erich M.,
Sohn eines wohlbestellten Kaufmanns aus Berlin, ein Tunichtgut geworden,
weil er den Versuchungen der Großstadt haltlos überlassen war. Der Vater
bringt ihn zu mir als Familienleiter - ich war das nun geworden - und
schildert mir die Ursachen von seines Kindes Verirrungen. Ich bitte
ihn dringend, da er ihn vor dem Abschied noch einmal mit nach Hamburg
nehmen will, an diesem Nachmittag nur noch einen stillen Spaziergang
an der Alster zu machen, und ihn dann beizeiten wieder herauszubringen.
Lange warte ich am Abend, bis endlich um 10 etwa eine Droschke vorfahrt,
Erich, mein neuer Zögling, herausspringt und der Vater, ohne noch etwas
zu sagen, im Wagen davoneilt. Der Junge gestand mir, daß er noch einmal
mit seinem Vater im Zirkus gewesen war. Da wußte man also, woher die
Leichtfertigkeit des Jungen stammte. Es war doch auch sehr bezeichnend,
daß in Erichs, mit der Fracht ankommendem großen Korbkoffer ein leibhaftiges
Präriemesser, Spielkarten und ein großes Paket von Räubergeschichten
zu oberst lagen. Die regelmäßige Stille und gleichmäßige Ordnung in
der Anstalt haben unserem Erich dann bald sehr gut getan.
Eine eigentümliche Nummer war Kurt N. Ich glaube,
er war nicht geringer Verfehlungen zu uns gekommen, der Leichtsinn hatte
diesen 14-Jährigen schon sehr verdorben. Mit flotter Kleidung, die aber
nicht mehr propre war, trat er bei uns ein, ohne Hut, das eine Hosenbein
zerrissen, mit vollständig niedergetretenen Schuhen. Man sah es schon,
ohne davon gehört zu haben, der Junge war auf der Walze aufgegriffen
worden - tatsächlich, von zwei Vettern, die ihn suchten, schließlich
gefunden, auf die Eisenbahn gesetzt und in einem Wagen dem Rauhen Hause
zugeführt. Aber noch vor dem Eingang war er herausgesprungen, mit dem
Rufe "ich soll hier ins Zuchthaus" war er durch die Hecken, und erst
nach stundenlanger Jagd hat man ihn uns zuführen können. Während ich
mit meinen "Brüdern" beriet, in welches Bett wir ihn legten und welchen
Schrank wir ihm gäben, war ich eine Weile abwesend - da finde ich ihn
beim Wiederhineinkommen am Klavier sitzend und einen Berliner Gassenhauer
nach dem anderen höchst fingerfertig und mit Gesang dem staunenden Chore
vortragen. Auch das war kein geringes Erziehungsproblem.
Kurt N. kam übrigens zwei Tage nach seiner Ankunft gravitätisch
auf mein Zimmer: "Herr Zenker, ich erlaube mir eine Erklärung: ich wollte
eigentlich wieder fortlaufen, aber es gefällt mir doch ganz gut. Ich
werde dableiben!"
Weiter scheint mir von der Art unsrer Jungen noch das
folgende Bild charakteristisch. Eines Tages kam in unsere Arbeitsstube
ein langer Jüngling, schwarzäugig und gut gekleidet, dem man die besondere
Vornehmheit auf den ersten Blick ansah. Es war der etwa 15jährige Alexander
Prinz von Hohenlohe-Oehringen, der von nun an unsere Kameradschaft
teilen sollte und von seinem Vormund, dem Fürsten von Hohenlohe,
Herzog von Ujest, zu uns gebracht wurde. Alexander war ein guter
Kerl, aber der Sohn eines in Paris verbummelten Magnaten und selbst
zu schwach, um den Verführungen zu widerstehen, welche solch einem jungen
Herrn sich massenhaft entgegendrängen. Das zeigte sich denn auch in
meiner Jungenstube schon. Fünf Minuten nachdem der Herzog uns verlassen
hatte - die Jungen hatten natürlich weder seinen noch des Knaben Namen
erfahren, - umstanden sie ihn staunend, und zu mir kamen die kühnsten
und fragten: Herr Zenker, auf dessen Koffer steht A. z. H., und es ist
eine Krone darüber. Des Prinzen Stand sickerte natürlich trotz aller
Vorsicht zu ihnen durch, und wenigstens die Hälfte seiner Kameraden
klebten an ihm wie die Fliegen an der Honigtüte.
Welche Verschiedenheiten der Charakteranlagen wurden dem
jungen Pädagogen damals offenbar. Der weinerkiche, ängstliche kleine
Werni in der "Eiche", der vor lauter Lebensfurcht niemals zurecht
kam. Der hochmütige Henny von A., dessen schöne prächtige Mutter
jedesmal, wenn sie zu Besuch kam, etwas wie Sonnenstrahlen in meinem
Zimmer zurückließ, der aber mit einer unsäglichen Verachtung auf alles
Durchschnittsmenschentum herabsah und sich durch seinen alten Adel vor
jeder Niedrigkeit und Verirrungsmöglichkeit gefeit glaubte. Er war aber
zwar kein schlechter jedoch sehr schwächlicher Charakter, der jedem
schlechten Einfluß hilflos nachgab. Da waren Jungen, denen die Schularbeit
sehr schwer fiel, und die darunter sichtlich litten, wenn sie auch ihre
Schwachheit schweigend zu verbergen suchten. Da waren andere, die spielend
fertig wurden und auch gute Zeugnisse erhielten, aber in ihrer Oberflächlichkeit
zu keinerlei ernstem geistigen Besitz kamen. Da waren höfliche und aufmerksame,
offene und verschlossene Gemüter; und der Kandidat hatte Zeit und Pflicht,
mit jedem Einzelnen sich zu beschäftigen und fühlte sich so - mehr als
daß es ein Studium war - in die Tiefen der Erziehungskunst ein.
Der alte D. Wichern hatte über jeden seiner Zöglinge ein
alltägliches Tagebuch geführt. Ich habe zu dieser Treue mich leider
nicht erzogen; aber es ist wohl selten die letzte Abendstunde gekommen,
ohne daß ich den Tag noch einmal überdachte, zu besserem Verständnis
meiner Jungen durchzudringen versuchte und sie fürbittend vor Gott brachte.
Mehrmals habe ich auch auf meinen Knien und mit Tränen Gott um Licht
und Lösung in den ungeheuren Rätseln gebeten, die die Erlebnisse mir
auferlegten.
So habe ich mit dieser Erzählung von meinen Jungen - und
ich habe nie aufgehört, mit Liebe mich ihrer zu erinnern - denn auch
schon einiges von den pädagogischen Grundsätzen berichtet, die wir uns
selbst aufstellten, aber zu denen unser unvergleichlicher Johannes Wichern
uns doch auch die Richtung gegeben hatte, indem er uns beobachtete und
mit zarter, zurückhaltender Achtung uns auf häufigen Spaziergängen durch
den Garten die nötigen Winke gab. Monatliche Lehrerkonferenzen brachten
auch einen Austausch über unsere pädagogischen Meinungen zuwege. Man
darf das Prinzip des Rauhen Hauses wohl kurz mit dem Satze bezeichnen:
"Eingehendes Verständnis durch Liebe; die Liebe aber darf nicht weich,
sie muß zielbewußt und ernst sein; und Liebe ist nichts anderes, als
volles Hingegebensein der Seele an den anvertrauten Menschen". Dieses
Erbe meines "Herrn Wichern" trage ich dankbar - aber auch beschämt
durch mein Leben, denn ich habe es nicht immer genügend verwirklicht.
Vielleicht interessiert es, nun von unserem Lehrerkollegium
und von unserer Brüderschaft noch etwas zu hören. Auch zwischen uns
Oberhelfern sollte eine wahrhaft christliche Gemeinschaft das Band sein.
Wir waren zur Hälfte wohl Theologen und schon durch diese Vorbildung
zu einem gewissen Bewußtsein des christlichen Ideals gekommen, die andere
Hälfte waren klassische und Neuphilologen, und auch ein Mathematiker
war da. Diese Sorte Menschen habe ich immer mit einem gewissen verständnislosen
Staunen betrachtet, obgleich ich ja selbst in der Schule kein schlechter
Mathematiker gewesen war. Heute ist mir noch in der Erinnerung, als
seien die Nichttheologen manchmal geradezu verwundert in die christliche
Lebensluft hineingezogen, vor der sie aber dann mit deutlicher Ehrfurcht,
oft sogar mit begeisterter Hingabe kapitulierten.
Aber was wüßte ich von dem allen, wenn nicht eben Herr
Wichern das Ideal eines wahrhaften Christenmenschen gewesen wäre.
Diese schlanke, ja hagere Erscheinung mit dem gepflegten grauen Vollbart
erinnerte mehr an einen alten Reitersoldaten als an einen Pastor. Aber
was auch von seinem Munde oder von seinen Handlungen ausging, war Christusliebe
und demütiger Christusdienst. Das mußte auf uns wirken und hat es getan.
Pastor Röhricht mit seiner kleinen Frau, geb. Rosenlöcher,
- Frau Wicherns Tochter aus deren erster Ehe - waren etwas eigentümliche
Leute. Er fühlte sich wohl mehr als Gelehrtennatur und deshalb in der
praktischen Arbeit nicht völlig am Platze. Es lag ihm eine gewisse Sehnsucht
nach Zurückgezogenheit auf dem Antlitz, und oft gelang es auch bei längerem
Zusammensein kaum, sein Schweigen zu durchbrechen. Und seine Frau hatte
zuviel von dieser Eigenart in sich aufgenommen, um die Brücke zu unserem
starken Leben in der Anstalt immer schlagen zu können. Doch hatte auch
das sein Gutes, wenigstens für uns theologische Kandidaten. Pastor Röhricht
hat zweifellos in uns die Gefahr überwunden, daß wir über der Praxis
zu zeitig die Wissenschaft verloren. Seine Anregungen in Bezug auf die
damals im Aufsteigen begriffene Ritschl'sche Theologie und über die
historisch-kritische Einstellung zur Bibel waren unbedingt wertvoll.
Dann kam Hans von Schubert. Nach Frau D. Wicherns
Tode war er mit Frau und Kindern der Bewohner des "weißen Hauses", und
heute noch fühle ich, wie wohl mir wurde, wenn ich den Klingelzug an
der Glastür anfaßte, die dort hineinführte. Im weißen Hause sind Schuberts
ältere Töchter geboren worden, ich weiß jetzt wirklich nicht mehr, ob
auch noch die jüngsten Kinder, mein Patenkind Erika ist doch
wohl schon in Heidelberg geboren. Schubert, der kleine Mann mit dem
dünnen Vollbart, ohne jede äußere Schönheit, ist ein leuchtender Mensch.
Ich habe kaum jemals sonst einen Menschen kennen gelernt, der so ganz
von dem Bewußtsein einer hohen, heiligen Pflicht und Aufgabe erfüllt
wäre. Darin streng gegen sich selbst und gegen andere steht er immer
vor Gott. Aber eben weil er das tut, und weil er ein bewußter Christ
- d.h. ein in der Gnade lebender Mensch - ist, umleuchtet ihn auch eine
derartige Fröhlichkeit, daß man selten aus seinem Hause kommt, ohne
tüchtig mit ihm gelacht zu haben.
Mir fällt eine niedliche Begebenheit aus Lockwitz ein.
Nach einem Mittagessen biete ich ihm zur Ruhe mein Sofa an. Er wirft
sich drauf, strampelt mit Händen und Füßen in die luft und ruft immer
wieder: "Das ganze Sofa soll mein sein!" Da war der große Gelehrte,
der jetzt ein dreifacher Doktor und Geheimer Rat ist, wahrhaftig nichts
anderes als ein fröhliches Gotteskind.
Schubert versammelte im Bewußtsein einer gewissen Führerpflicht
die ganze "Kandidatur" zu regelmäßigen Monatsabenden in seinem Hause.
Dann saß Bertha würdig in einer Sofaecke mit einer Handarbeit,
sie war selbst auch Lehrerin gewesen und wohl imstande, anregende Bemerkungen
in unsere Debatte hineinzuwerfen, und ihr Mann warf eine Frage nach
der andern auf, die der Besprechung und Klärung wert erschien,philosophische
und theologische, politische und geschichtliche, und hatte eine glückliche
Gabe, aus jedem von uns das Beste herauszuholen, was in ihm war. Auch
die, die ihm nicht so nahe standen wie ich, fühlten sich immer gehoben,
wenn sie das Haus verließen.
Und nun unsere Kandidatur. Manchmal gab's doch eine Stunde,
wo wir uns von unseren Jungen trennen und mit gleichaltrigen und gleichgesinnten
Kollegen Zusammensein durften. Paul Bornhak, mein lieber Freund,
Du bist nun auch schon droben in der Vollendung, nach der Du Dich von
jenen Jünglingsjahren her so innig gesehnt hast, Du frommer Mensch mit
Deinem reinen, pietistischen Herzen. Aber Du lebst in der Erinnerung
Deiner Freunde auch hienieden mit großem Segen! Paul Bornhak hat sich
damals aus der Nachbarschaft unserer Anstalt seine liebe feine Frau
geholt, ist später Pastor in Barmen geworden; ich bin zur Taufe seiner
ersten Tochter Erika, die mein Patchen ist, im dortigen Hause
gewesen. Später aber ist unser Verkehr leider ganz auf den Briefwechsel
beschränkt worden, der nicht allzu häufig sich vollzog, weil wir beide
nach unsrer Art uns dem augenblicklichen Dienste vollständig hingeben
mußten. Bornhak war auch wie Schubert ein Pflichtmensch, aber ebenso
wie er nicht etwa im pedantischen Sinne sondern einer, der seine Pflicht
von oben empfing und mit leuchtenden Augen als einen Gottesdienst erfüllte.
Nach des Philologen Hauschild Abgang wurde er Familienleiter
im "Köcher" und damit ein ganz vorzüglicher Berater der im schwierigsten
Alter stehenden ältesten Zöglinge unseres Hauses.
Ernst Bunke - ein Kraftmensch, sein Name scheint
mir manchmal noch ein Klangsymbol zu sein. Wenn der auf dem Spielplatz
den Faustball von sich stieß, dann hatte man das Gefühl, man möchte
in ein Mauseloch kriechen. Und so war sein Regiment in der "Eiche" von
solcher Energie, daß man wohl hätte die Jungen bedauern können, wenn
jene nicht von einer gleichen Kraft des Glaubens und der Liebe wäre
gebändigt worden. Bunke war zweifellos schon mit seinen 22 oder 23 Jahren
damals unter uns der ausgereifteste Charakter.
Nicht lange nach dieser Zeit trat Martin Hennig
unter uns auf. Von Bunke hingezogen, war er auch von gleichem Wert und
Wesen. Wir besitzen jetzt seine Lebensbeschreibung aus der Hand seiner
Witwe; es bleibt mir nur das Recht, eine Blume der eigenen Erinnerung
auf sein Grab zu legen. Martin Hennig - stattlicher junger Mann mit
hoch erhobenem Haupte und mächtig emporquellendem, blonden Haar - ging
vom ersten Tage an durch unsre Mitte wie ein König. Es lag wohl ein
auffällig starkes Selbstbewußtsein in seinem Wesen, doch war dies mit
so viel Güte, Aufopferungsfreude und persönlichstem Interesse verbunden,
daß es viel mehr zu wahrhaftem Respekt als zur Abneigung hinführte.
Von Hennig gingen immer nur anfeuernde Kräfte aus. Als er meinen Freund
Bornhak in der Leitung des "Köcher" ablöste, da gab es trotz Bornhaks
nie versiegender Treue, und obgleich auch dieser ein Mann von starkem
Leben gewesen war, einen unverkennbaren Aufschwung. Hennig ist als Direktor
des Rauhen Hauses gestorben, sicherlich Wicherns würdigster Nachfolger.
Von den anderen Kollegen nur noch wenige Worte. Da war
der biedere Altphilologe Kausch, der hochgewachsene Kahlkopf
Lepzien aus Mecklenburg; da war ein Mathematiker, dessen Namen
ich jetzt vergessen habe. Ich denke mit komischer Erinnerung daran,
daß Herr Wichern mich, als er meine gute Mathematikzensur im Abiturientenzeugnis
gesehen hatte, zum 2. Mathematiker ernannte. Ich habe ein Jahr in großer
Hilflosigkeit dieses Amtes gewaltet.
So denn noch ein Wort von meinem Unterricht. Religionsstunden
in fast allen Klassen, Deutsch, Geschichte und eben auch Mathematik
mußten in wohl 19 Wochenstunden bearbeitet werden. Daneben gingen die
"Brüder"-Stunden; wöchentlich zweimal habeich während der ganzen Zeit
biblische Bücher mit den Brüdern durchgesprochen, selbst von dieser
Beschäftigung wahrscheinlich mehr erhoben als die Schüler, die meistens
älter waren als ich. Diese frommen Handwerker aus allen Gegenden Deutschlands
waren dem jungen Theologen wie ein Geländer, an dem er seinen Weg nach
oben sicherer finden konnte. Ihr ernstes Suchen und Fragen hat mir manches
religiöses Problem zunächst gezeigt, dann aber auch aufgeschlossen,
und ich kann nur tief dankbar sein, wie diese Männer, ohne jemals die
dem Lehrer schuldige Achtung zu vergessen, mit ihrer manchmal tiefen
Erfahrung mich vorwärtsführten. Diese "Brüder" hatten tagsüber schweren
Dienst. Manche waren Familienleiter in der "Knabenanstalt" und gaben
selbst in der Volksschule drüben Unterricht, manche leiteten die Lehrlinge
im "goldenen Boden" an, der Rest waren unsere Gehilfen in den Familien
des Pensionats. Sie hatten alle ihren Mann zu stehen und kaum eine Minute
der Ruhe am ganzen Tag.
Unser Tageslauf begann mit dem Geläute zur Andacht, welche
täglich um 7 Uhr morgens meist von Herrn Wichern, oft aber auch von
uns Kandidaten im Betsaal gehalten wurde. Da kam denn das ganze Rauhe
Haus mit mehr als 400 Einwohnern zusammen. Es ward gesungen, ein Abschnitt
der Heiligen Schrift verlesen und dieser in einem freien Gebete betrachtet
und angewendet. Ich weiß von damals her, daß solche Andachten nicht
nur eine fromme Übung sind. Sie heiligen den Tag und stellen das Leben
unter Gottes Urteil. Und die Gebete unseres Herrn Wichern zu erleben,
war immer eine Gottesgnade.
Dann kam das Frühstück, nach der Schule das Mittagessen
im Speisehause, dem unser Bruder Hartmann mit seiner Familie
großartig vorstand. Nach einer kurzen Mittagsruhe, die die Knaben an
ihrem Tisch, der Oberhelfer wohl manchmal auf seinem Sofa zubringen
durften, ging's ans Spiel im Garten oder an einen Spaziergang. Dann
kamen die Schularbeitsstunden, die der Familienleiter auch zu seiner
Schulvorbereitung brauchte.
Nach dem Abendbrot gab es Spiele am Tisch und auch wohl
ein stilles Lesen in den Lieblingsbüchern, die bei mir doch meistens
theologischer Art waren, und dann sank man, oft recht müde, ins wohlverdiente
Bett.
Einmal im Jahre um die Pfingstzeit machten wir unsern
3 - 4tägigen Übungsmarsch. Da zog das ganze Paulinum in der Turnerkleidung
nach kurzer Bahnfahrt in die schöne ostholsteinsche Schweiz hinaus,
ein Trommler- und Pfeiferzug voran. In Scheunen wurde übernachtet auf
der Streu, alle "unsere Lieder" erschallten und am Ukleysee oder einem
der anderen ostholsteinschen Seen zwischen den wundervollen Buchen führten
wir unsere Schlachten aus, die manchmal die Nachahmung irgend einer
wirklichen historischen Schlacht sein sollten. Wir kamen über die Maßen
fröhlich heim. Auf diese Wanderung hat man sich das ganze Jahr gefreut.
Ein- oder zweimal ist meine Käthe bei Wicherns auf eine
Woche zu Gaste gewesen, auch das ist ein Zeichen der wahrhaften Liebe,
mit der das Mutterhaus uns Oberhelfer und Brüder umfaßte. Ich weiß aber
auch mit tiefer Dankbarkeit, wie Käthe sich damals die Herzen unserer
lieben Hauseltern erwarb, und nach ihrer Abreise habe ich viel gutes
Lob von diesen wertvollen Lippen über sie gehört.
Natürlich hatte ich selbst auch manchmal Urlaub; die Schulferien
konnten als solcher nicht ganz uns gegönnt werden, denn es gab ja immer
Jungen, die nicht in ihre Heimat konnten und betreut werden mußten.
Aber vier Wochen im ganzen Jahre waren auch mir verbürgt, und die teilte
ich dann redlich zwischen Mutter und Braut.
So denke ich denn heute an die Weihnachts- und Neujahrstage
1887/88. Es war das letzte Neujahr, das unser alter Kaiser Wilhelm
- in seinem 91. Jahre - erlebte. Bebenden Herzens stand ich mit meiner
Braut drüben an der Bibliothek, dem historischen Eckfenster gegenüber.
Da kam das klingende Spiel des Garderegiments, der ehrwürdige Greis
trat ans Fenster, dessen Scheibengardinen er beiseite schob, und schaute
gütig zu seinen Soldaten hinüber. Aber das nach Zehntausenden zählende
Volk ließ sich von den Schutzleuten nicht mehr halten, sie turnten an
dem Denkmal Friedrichs des Großen in die Höhe, auf dessen Armen und
Kopfe sie saßen, wir alle liefen dem Fenster unaufhaltsam zu und brausender
Jubel füllte minutenlang die Luft. Mich selbst hatte das Erlebnis im
ersten Augenblick so ganz ergriffen, daß ich von meiner Braut erst noch
erinnert werden mußte, den Hut vom Kopfe zu nehmen. Ich war doch völlig
außer mir selbst, und heute noch überrieselt mich die Ehrfurcht bei
der Erinnerung dieser herrlichen Augenblicke.
Ich hatte den alten Kaiser 1882 als Primaner schon einmal
ganz nahe gesehen, als er zum Manöver in Dresden war. Da stand ich am
Schloßtor und sah, wie der kaiserliche Wagen an einer der Wachen zu
nahe vorbeifuhr, als daß diese ihre Haltung hätte bewahren können, der
Mann fiel zurück und ließ das Gewehr fallen. Da war es ergreifend, wie
der alte Kaiser sich weit zurückbeugte und immer der Schildwache bedauernd
zuwinkte.
Hier denke ich noch einmal daran, was auch mein Vater
von diesem Fürsten gehabt hat. Er war unter, den ersten gewesen,
die 1878 nach dem Nobilingschen Attentat den Kaiser hatten begrüßen
dürfen, und hatte die unendlich gütigen Worte gehört, mit denen der
Kaiser seinem Volk das unverminderte Vertrauen bezeugte. Vaters persönliches
Schicksal war eine Zeit lang merkwürdig eng mit den höchsten Schicksalen
des Vaterlandes verbunden, ist er doch schließlich selbst ein Opfer
von Bismarcks hoher Politik geworden, mit dem er in der Frage des Schutzzolles
und Freihandels in Opposition stand, und hat sich daher sein Herzleiden
geholt. Um so tiefer wirkte auf uns die unsägliche Verehrung, die Vater
wie ein bescheidenes Kind dem großen Kanzler entgegenbrachte.
Nur noch ein paar Erinnerungen. Wie schön waren unsere
Osterfeiern an den Wichernschen Gräbern auf dem lieben Hammer Friedhof,
wo unter dem Kreuz mit seiner Inschrift "unser Glaube ist der Sieg,
der die Welt überwunden hat" auf einfachem Steine zwischen Efeublättern
der große Name D. Wicherns feierlich grüßte, und wo wir dann auch Amanda
Wichern bestattet haben. Früh zur Stunde des Sonnenaufgangs am Ostertage
wanderte das ganze Haus hinüber, und Herrn Wicherns Andacht wurde unter
unseres Posaunenmeisters - Bruder Winter - Leitung von den mächtigen
Klängen der beiden Choräle "Jesus, meine Zuversicht" und "Jerusalem,
du hochgebaute Stadt" umrahmt. Diese in großer Vollendung vorgetragenen
Lieder haben jedesmal einen gewaltigen Eindruck auf uns ausgeübt, und
das letztere Lied, das ich damals erst kennen lernte, ist mir seitdem
eines der schönsten geworden, die ich im Innersten besitze.
Meine freien Sonntage führten mich an den Vormittagen
oft in die mächtige Große Michaeliskirche in Hamburg, deren feiner Turm
im klassizistischen Stile so malerisch über die Masten und Schornsteine
des Hamburger Hafens hinausragt, und deren weites Schiff die Spannung
der Frauenkirche in Dresden noch übertrifft. Dort hat mir Senior Behrmann
mit seiner wundervollen Stimme, aber auch mit seinem reichen Glauben
das Herz geweitet und erhoben. - Am Nachmittage wanderte ich dann wohl
nach Altrahlstett zu Onkel Walthers. Einmal bin ich mit Käthe an einem
schlimmen Nachwintertage so gewandert, und an einer tüchtigen Frostbeulennarbe
trage ich heute noch die Erinnerung von jenem schönen Tage am Fuß.
Die Rauh-Häuslerzeit hat Ostern 1890 ihr Ende gefunden.
Nicht leichten Herzens habe ich von Wichern und meiner bisherigen Heimat
und Hamburg Abschied genommen; aber es wartete meiner nun doch auch
wieder eine schöne Zeit. Erst sollte ich nach den großen Anstrengungen
der bisherigen Arbeit wieder zu Kräften kommen, dann galt es, die letzten
Vorbereitungen für das 2. theologische Examen zu treffen. Und dazu bot
sich mir die liebe Mutterheimat in Plauen, wo ich mit meinen Büchern
tagsüber im Garten und abends bei der traulichen Petroleumlampe am großen
runden Tisch mich sehr wohlfühlen durfte.
Es kam das Examen pro ministerio wohl Anfang Mai. Oben
im alten Ministerpalais an der Seestraße, dessen 2. und 3. Stockwerk
das Komsistorium innehatte, saß der vornehme Herr von Berlepsch
als Präsident. In feierlicher Reihenfolge als Neutestamentler D. Ackermann,
dann das Alte Testament in Händen meines lieben Onkels Kühn.
- An dieser Stelle sah die Liebe freilich sehr nach Strenge aus. - Die
Systematik folgte mit den frohen Augen meines teuren Oberhofpredigers
D. Meier, von der Kirchengeschichte kann ich mich nicht besinnen,
wer sie mir abgehorcht hat, in der praktischen Theologie war wohl Hofprediger
Löber der prüfende Mann. Das Kreuzfeuer ging gnädig vorüber;
am nächsten Morgen hatte ich eine lateinische Karte meines lieben Onkels
Kühn in der Hand, die mir mitteilte, daß ich die Zensur II erhalten
hätte.
Nun war denn der Flug freigegeben ins schöne romantische
Land des Amtes!, und die Augen wanderten im Lande und in den Zeitungen
herum, um irgendeine Stelle zu finden, auf der ich mich - womöglich
gleich mit meiner Käthe - niederlassen könnte. Doch hat mein treuer
Gott auch hier wieder es gefügt, wie Er es haben wollte. Ich hatte als
Student ein einziges Mal in einem Gottesdienst gepredigt - im lieben
Priesteblich, das mir jetzt so nahe steht, hat meine Fuchskanzel gestanden
und dann natürlich auch in der Filiale Frankenheim. Auch das war aber
nur die Ausarbeitung einer homiletischen Übung im Seminar gewesen. Ich
fürchtete mich ja tatsächlich vor der öffentlichen Rede.
Nun
mußte es aber endlich Ernst werden. Ich bot mich deshalb an verschiedenen
Stellen zur Aushilfspredigt an und kam so auch einmal nach Rothschönberg
bei Meissen. Nicht lange darauf bekomme ich vom Konsistorium die Weisung,
als Vikar nach
Taubenheim
bei Meißen
zu gehen. So war's also zunächst noch nichts mit der Heirat;
aber das war auch gut so, denn nun erst merkte ich, wieviel es noch
fürs praktische Amt zu lernen gab.
Mein liebes Taubenheim! 1 ½ Stunde von der Bahnstation
Miltitz gelegen, nach der anderen Seite ebenso weit von Wilsdruff entfernt,
war es ein richtiges Bauerndorf, eine kleine Chamottewarenfabrik veränderte
seinen Charakter nicht. Malerisch von dem alten Schlosse überragt, in
dem die Kirchenpatronin, Madame Roßberg, hauste, bot der etwa 1000 Seelen
umfassende Ort besonders im Frühling einen lieblichen Anblick. Und dort
nun im hochgelegenen, geräumigen Pfarrhaus das eigenartige, kinderlose,
alte Pfarrehepaar Crusius. Er war als Sohn und Enkel längst verstorbener
Landpfarrer der rechte Typus eines solchen; 60jährig, aber schon so
greisenhaft, daß er nicht mehr allein durchkommen konnte und einen Vikar
vom Konsistorium erbeten hatte. Dabei hatte er meinen Namen genannt,
er hatte in Rothschönberg mir zugehört und, warum soll ich's nicht sagen,
einen Narren an mir gefressen.
Ich
bin dieses 3/4 Jahr meines
Aufenthaltes in Taubenheim der nur zu sehr verzogene Liebling der alten
Leute gewesen. Frau Pfarrer Crusius war aber keineswegs alt, sie hatte
wohl damals ihre 54 Jahre; eine geradezu leuchtende, vornehme Schönheit
voller Geist und Leben, war sie nur durch die Weltentfremdung ihres
hypochondrischen Mannes zu gleicher Gewöhnung und Neigung gekommen.
Aber sie bedurfte ja auch der Gesellschaft nicht, denn ihr reicher Geist
hatte soviel mehr als alle anderen zu geben, daß diese nur bettelnd
vor ihr standen.
Ich will gleich hier auch ihre Schwester, Frau Wassermann
aus Paris, erwähnen, - als Erscheinung nicht gleich bedeutend, aber
ebenso wie sie eine höchst interessante Persönlichkeit. Sie hatte einen
jüdischen Bankier geheiratet, ohne selbst Jüdin zu werden, war aber
nun selbstverständlich zum Freigeist geworden und brachte in unser stilles
Pfarrhaus eine Note hinein, wenn sie da war, die jedenfalls für die
sächsischen Christen doch eine gewisse Dissonanz gab.
Man kann sich aber denken, daß das "Vikärle", wie es von
der Crusia genannt wurde, oftmals Mund und Augen aufriß in dieser Gesellschaft;
zwischen dem zweifellos recht engen Horizont des alten Pfarrers und
der Weltweite, die in den beiden Frauen sich offenbarte, pendelte sein
junges Gemüt oft hilflos hin und her, und es wäre vielleicht nicht gut
gegangen, wenn Frau Pfarrer Crusius nicht doch zugleich ein überaus
warmes Herz besessen hätte, das alle Gegensätze ausglich und alle trüben
Stunden durchgoldete. Dies reiche Leben hatte sich ja auch mit der engen
Armut ihres Lebensgefährten zurecht zu finden gewußt. Sie war eine arme
Lehrerin auf einem Schloß gewesen und hatte sich von dem immerhin stattlichen
jungen Pfarrer aus ihrer gedrückten Lage gern befreien lassen — aber
Freiheit ist ein recht dehnbarer Begriff.
Dort in Taubenheim bin ich denn am 17. August 1890 von
meinem Onkel Johannes Kohlschütter, dem Nachfolger meines späteren
Schwiegervaters - D. Ackermann - im Meißner Ephoralamte, ordiniert worden.
Wenn ich jetzt als Superintendent junge Geistliche ordiniere, dann steigt
jene feierliche Stunde jedesmal, mich tief bewegend, in meiner Erinnerung
auf. Kann jemand solche Stunde unberührt erleben? Das geistliche Amt,
die Verkündigung des Evangeliums, der Bau des Reiches Gottes auf Erden,
die Sorge um das ewige Heil von 1000 Seelen legt sich einem aufs Herz,
ein gewaltiger göttlicher Ruf durchschauert einen und zwingt wohl uns
alle im Kämmerlein auf die Kniee: "Ich bin nicht wert, daß Du unter
mein Dach gehst; aber sprich nur ein Wort, so wird Dein Knecht gesund!"
Von jener ersten starken Bewegung meines Innenlebens her klingt mir
bis heute immer wieder in der Seele: " Laß dir an meiner Gnade genügen,
dann meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" - 2. Kor.12, 9.
So galt es denn nun, jeden Tag aufs neue tastende Schritte
in das unbekannte Land zu tun. Es hatte mich gestärkt, daß Onkel Johannes
auf meine bange Frage mir die Antwort gab: tue nur immer treu, was jeder
Augenblick dir nahelegt. Aber das ist ja eben im Pfarramte so ganz anders
als wohl in den meisten anderen Berufen. Es gibt sehr viel freie Entschließungen.
Es ist nicht immer selbstverständlich, daß man in der Stunde
persönliche Seelsorge und in jener die Vorbereitung einer Rede zu vollbringen
hat. Es ist erst recht nicht selbstverständlich, was man einem Trauernden
oder einem zerbrochenen Gewissen sagen muß, wenn man erst nämlich es
soweit brachte, das Herz des anderen Menschen zum Vertrauen sich zu
öffnen. Ich habe mich da immer als ein tastender und wenig fähiger Pastor
gefühlt. Aber gerade dies gestehe ich auch hier in meinen Erinnerungen
gern, weil ich auch heute noch glaube, daß eben diese Stimmung die einzig
rechte Grundlage für einen einigermaßen befriedigenden Dienst gibt.
Des Herrn Kraft muß alles tun, und die will aus der Tiefe erbeten sein.
Mein alter Crusius predigte manchmal mit zerstörter Stimme,
und ich glaube auch, daß seine Predigten inhaltlich nicht mehr viel
boten. Im übrigen führte er seine Kirchenbücher mit feiner Schrift sehr
peinlich, in dem Aktenschranke sah es schon weniger großartig aus. Das
Wesentliche des Pastorenamtes war auf mich gelegt; es war doch gut,
daß der Fisch eben schwimmen lernen mußte, der ja davon in seinem bisherigen
Arbeitsleben noch vieles versäumt hatte. Ich machte regelmäßige Besuche
bei einem Alten, der dauernd bettlägerig war; ich suchte auch die zeitweilig
Kranken auf, die in einem solchen Dorfe gewöhnt sind, nach dem Pfarrer
zu verlangen. Das ist das Schöne in einer Gemeinde mit mittlerer Seelenzahl,
daß sie einen alle brauchen und man sie auch alle erreichen kann. Für
den Anfänger war's doch manchmal ein bißchen viel, nicht an Zeit- aber
an Gedankenbelastung. Vereinsarbeit gab's so gut wie keine. Dann und
wann, aber selten genug ward ein Familienabend gehalten im Gasthof unten,
und ich habe dieses eigenartige Vergnügen, in rauchüberfüllten Sälen
mit klappernden Biergläsern die Sammlung der Gemeinde vorzunehmen, nicht
gerade als sehr wohltuend schätzen gelernt; dennoch wird diese so eigenartiger
Krücken in manchen Orten nicht ganz entraten können.
Meine Hauptarbeit war natürlich in der Woche die Vorbereitung
der Predigt, vor der ich mich jedesmal sehr geängstigt habe, und ich
will es nur gestehen, ich bin in den ersten Monaten nicht selten stecken
geblieben. Meine Konzepte arbeitete ich sehr genau aus und habe lange
Jahre dabei auch großen Wert auf eine ästhetisch schöne Durchbildung
des Stiles gelegt. Crusius schenkte mir damals 2 Bände von Rudolf Kögels
Predigten. Ihn nicht abzuschreiben, aber doch auch fast über das Erlaubte
nachzuahmen, habe ich mir lange angelegen sein lassen. Das ist wohl
doch ganz gut für meine Ausbildung gewesen. Etwa in meinem 15. Amtsjahre
habe ich mit diesem Ideale bewußt gebrochen. Aber meine Stilistik hatte
ja wohl nur gewonnen. Mein alter Crusius hat in dieser Hinsicht mir
auch manches aus guter Erfahrung heraus gebotene Wort der nützlichen
Kritik gesagt.
Ein eigenes Kapitel waren unsere Kirchenvorstandssitzungen.
Oft brauchte ich sie nicht mitzumachen, denn Crusius fühlte sich da
noch ganz als Herr. Aber wie war das seltsam, wenn er dann aus dem Gasthof
heraufkam in später Abendstunde und grimmig in der Stube auf und ab
wandelte und über den engen und wohl wirklich oft hämischen Geist seiner
Bauern schalt. Ich hatte mir die Arbeit am Kirchbau so ganz anders gedacht
und habe mich damals im Blick sowohl auf das Ehrenamt der Kirchvorsteher
als auf die pfarramtliche Gesinnung in gar manches hineinfinden müssen.
Dann und wann bin ich ja auch dabei gewesen, dann aber nur als ein stiller
Hörer und oft sehr zweifelhaft, welcher von beiden Parteien ich innerlich
rechtgeben sollte. Die Heimkehr des lieben "Chefs" aus solchen Abenden
unterbrach dann unerfreulich die schönsten Stunden, die mir als Vikar
beschieden waren. Mit meiner geistvollen Frau Pfarrer Goethes oder Shakespeares
Dramen zu lesen und zu besprechen oder irgend eine von Schillers Prosaschriften,
oder auch mit ihr geistliche Gespräche zu führen - denn auch hier hinein
reichte das Interesse der weltoffenen, hochgebildeten Frau -, das war
stets eine Erhebung und Bereicherung meines eigenen geistigen Lebens.
Ich will die Erinnerungen an jene Zeit abschließen mit
der dankbaren Freude, daß ich mit Frau Pfarrer Crusius noch lange Jahre
hindurch - auch nach dem Tode ihres müden Mannes - in innigster Verbindung
geblieben bin, und daß meine Frau sie ebenso hat lieben und verehren
lernen wie ich selbst. Sie kam von ihrer Witwenwohnung in der Wilsdruffer
Vorstadt oftmals in unser Lockwitzer Pfarrhaus und ist die Patin meiner
Tochter Marianne geworden. - In einem schweren Krebsleiden hat sie ihre
Charakterfestigkeit und Freudigkeit dann bis zum Ende wundervoll bewährt.
Da steht denn der Name
Lockwitz
plötzlich da, das mir nun 17 Jahre lang zur Heimat werden
sollte. Der Name, in dem für mich Freuden- und Tränenbäche gleichermaßen
rauschen, aber von dem her mir sie alle zu einem Strom des Segens sich
vereinigt haben. Lockwitz ist die einzige Stelle gewesen in meinem Amtsleben,
die ich durch Bewerbung erhalten habe, in die spätren bin ich alle gegen
Wunsch oder Hoffnung wunderbar von meinem Gotte geführt worden. Aber
auch Lockwitz hab ich sicherlich einer besonders gnädigen Führung meines
Gottes zu verdanken. Es war immerhin eine schon große Gemeinde, und
daß ich vom Kirchenpatron, dem Rittmeister a.D., Freiherrn von Kap-herr,
mit zum Vorschlag gebracht worden war, geschah fast zu meiner eigenen
Überraschung. Es war bei der Wahl denn auch ein großer Zwiespalt; aber
die Stimmenmehrheit fiel auf mich, und Ende Juni hielt ich die Berufung
zum Pfarrer von Lockwitz in meiner Hand. Gerade die Kirchvorsteher,
die mir ihre Stimme verweigert hatten, sind dann später meine besten
Freunde geworden.
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Walther und Katharina Zenker
geb. Schumann.
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Also, heiraten durfte ich! Ich fuhr nach Berlin. Zum Tag
meiner Einweisung wurde von meinem Superintendenten der 9. August festgesetzt,
und wir wagten es, den 4. August zum Tag unserer Hochzeit zu bestimmen.
Dienstag den 4. August fuhr ich denn von unsrer alten Kommandantenstraße
aus mit meiner lieben Käthe Schumann zunächst aufs Standesamt,
und es berührte einen wie ein komischer Schlag, als der Lohndiener die
wieder in den Wagen Steigende als gnädige Frau anredete. Ein paar Stunden
später hat unser lieber Freund, der Konfirmator Käthes - Prediger Knauert
- uns in der Luisenstädter Kirche mit dem Paulusworte Philipper 3, 12
getraut, einem Worte, das uns beiden innerlich gehörte: "Nicht, daß
ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei; ich jage ihm
aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo
Jesu ergriffen bin". Wir waren - Gott sei Dank! - beide von Christo
Jesu ergriffen, und solange unsere kurze Ehe währte, sind wir ihm mit
ernstem Willen nachgejagt, "ob wir es auch ergreifen möchten",
und unser Ringen ist durch die Gnade nicht vergeblich gewesen.
Es gab nicht viel Geld und auch nicht viel Zeit zur Hochzeitsreise;
wir waren froh, doch wenigstens 3 Tage in Herrnskretschen an der Elbe
in der sächsisch-böhmischen Schweiz miteinander verbringen zu dürfen,
nicht weit von unserem lieben Postelwitz, das uns ja 1879 zu Freunden
hatte werden lassen.
Aber nun kam der Sonnabend, der 8.August. Da stand in
Niedersedlitz eine geschmückte Kutsche, und wie die jungen Fürsten wurden
wir an der Flurgrenze von Lockwitz unter einer Ehrenpforte empfangen.
Da standen die beiden im Kirchenvorstand befindlichen Gemeindevorstände
von Lockwitz und Nickern und sprachen mich festlich an. Da jubelte der
Kirchenchor unter der Leitung meines lieben Kantors und Freundes, des
späteren Schuldirektors Möbius ein frommes Lied. Da zogen wir
zu Fuß vom ersten Hause - an der Kirche vorbei - bis über die Brücke
und an das Pfarrhaus, das zwischen seinen zwei hohen Linden mit seinem
traulichen Giebel uns liebevoll aufnahm, mit Blumen und allerlei Gebäck
aus der Verwandtschaft und Gemeinde uns empfangend. — Mein hochverehrter
Superintendent, D. Benz, wies mich ein. (Luc. 9, 62.)
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Lockwitz-Kirche Innenansicht
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Quelle: Marburg Fotoarchiv
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Ich hielt meine Antrittspredigt. Ein festlicher Tisch
im Schlosse vereinigte die Patronatsherrschaft, den Superintendenten,
die Pfarrersleute und die Kirchenvorstände. Ich staune heute noch, wie
ich bei all den festlichen Versammlungen mich durchgeredet habe, und
denke manchmal, ich bin wohl ein wenig superklug gewesen.
Freiherr von Kap-herr
war ein echter und rechter Kirchenpatron. Damals noch kaum älter als
40 Jahre, hatte er kurz vorher den Dienst eines Rittmeisters bei dem
vornehmen Regiment der Hannoverschen Ulanen quittiert. Zwei seiner Brüder
waren noch aktiv und erschienen in seiner Uniform, die er auch selbst
bei besonderen Gelegenheiten mit berechtigtem Stolze trug. Der schlanke,
hochgewachsene Mann mit seinem schmalen Kopfe und seiner kühnen Adlernase,
unter der ein kräftiger aber fein geschnittener Schnurrbart saß, sah
in der blauen Ulanka mit dem weißen Fond ganz prächtig aus.— An seiner
Seite die stolze, stille, aber auch gütige Baronin, geb. Gräfin Bünau
aus einer verarmten Linie. Ihr Bruder mußte als Oberstleutnant mit seinem
Solde auskommen, und man sah ihm seiner Familie Armut an.
Und nun die Kinder. Meine Amélie und Margot
und Richard! Damals die Mädchen wohl 12- und 11-jährig, der Junge
so klein, daß er mich mit den Worten begrüßte: "Pascha tomm" (Pastor
komm). Amélie und die anderen habe ich dann konfirmiert, in lieben
Privatstunden sie im Schlosse unterrichtet, ich habe sie getraut und
ihre Kinder getauft, und ich habe Amélie und ihren Mann begraben.
Diese älteste Tochter der Familie, ein leuchtendes Wesen; an der - in
ihrem schönen schlanken Leibe - war alles Geist und Leben. Und eine
Herzensgüte strahlte aus ihr, die absolut keinen Unterschied zwischen
einem fürstlichen Besuche und einem Diener oder einer Waschfrau machte.
Dies Wesen habe ich geliebt und innerlich verehrt, wie nur ein Mensch
einen anderen hochhalten kann.
Ich will gleich hier erzählen, was mich jetzt noch im
Innersten bewegt, so oft ich daran denke. Graf Theodor Vitzthum,
ihr Mann, war mit seiner kleinen Familie wohl etwa 1911 nach Straßburg
versetzt worden. Seine zwei Kinder hatte ich in Döbeln getauft, wo er
als Hauptmann bei dem dortigen Infanterieregiment 139 stand. Da ward
mir die Nachricht - ich war Pfarrer in Dresden-Striesen,- daß ich Amélie,
die junge Gräfin, in Lockwitz bestatten müsse! Ich fuhr hinaus, mußte
bei dem tiefgebeugten Vater von Kap-herr lange warten, bis Graf Vitzthum
sich entschließen konnte, mich zu sehen. In einer Nacht war die
Gräfin gesund und tot gewesen, eine eitrige Mandelentzündung hatte sie
plötzlich hingerafft. Ich kam hinauf in die Gaststube, - der junge Witwer
stürzt auf mich zu, umkrampft mir beide Hände und ruft mich an: "Jetzt,
Pfarrer, sagen Sie mir Ihre wirkliche Überzeugung, vergessen Sie ganz,
daß Sie Pfarrer sind, und reden nur die Wahrheit. Lebt meine Frau oder
lebt sie nicht?" In meiner Erschütterung mußte ich mich sammeln und
meine Tränen zurückdrängen. Aber dann durfte ich - Gott sei Dank - sprechen:
"Ich glaube an die Auferstehung und an das Leben! Ich glaube, daß Amélie
bei ihrem Gott ist, sowahr sie eine echte Jüngerin ihres Heilands war."
Da ließ der Mann mich los, warf die Arme in die Höhe und rief ein über
das andremal mit froher Stimme: "Dann will ich's tragen, dann will ich's
gerne tragen." Ein Jahr darauf ist er selbst als eines der ersten Kriegsopfer
ein toter Mann gewesen - und ich habe ihn an der Seite seiner unvergeßlichen
Gattin in jener eigentümlichen Katakombe beigesetzt, die sich die Familie
von Kap-herr auf einem Berghügel oben über Lockwitz ausgebaut hatte.
Margot, die zweite, hat einen Freiherrn von
Globig geheiratet, den Sohn eines in Dresden sehr bekannten Hofmarschalls,
und ich habe auch ihr Kindchen getauft. Sie war ein eigentümlicher Gegensatz
zur Schwester, eine stille, sehr zurückhaltende Persönlichkeit, aus
der man nicht leicht klug werden konnte. Ich hoffe, daß sie wie auch
die Ihrigen in einem glücklichen Leben steht. Leider hat sich das Band
zwischen uns in der Länge der Zeit gelöst. Und ebenso stehts mit Richard,
der heute wohl bereits Patronatsherr auf Lockwitz ist, den ich aber
in meiner Erinnerung als einen höchst stattlichen, blonden Offizier
des blau-weißen Gardereiterregiments in Dresden behalte.
Baron von Kap-herr war wirklich ein guter Kirchenpatron.
Ich brauchte ihn kaum an einem einzigen Sonntag während meiner 17 Amtsjahre
in Lockwitz in der Kirche zu vermissen, und meistens saß er mir in seiner
Loge mit seiner ganzen Familie gegenüber, aufmerksam auf jedem Vorgang
und auf jedes Wort gespannt. An unseren Kirchenvorstandssitzungen nahm
er persönlich fast niemals teil; aber daß Protokoll der Sitzung mußte
ihm sofort vorgelegt werden, und es kam niemals ohne Zeichen ernster
Durcharbeitung zurück. Er war nicht immer bequem, weil er auch recht
schroff tadeln konnte; aber er war immer ein Vorbild ernster Pflichterfüllung
und wirklicher Gottestreue. Die Kap-herrs sollten die Freiherrnwürde
vor zwei Generationen etwa in Rußland erhalten und damals ein großes
Bankhaus in Petersburg besessen haben. Es war einer der erregtesten
Momente unseres Zusammenseins, als der Baron mir mit zuckenden Lippen
erklärte, es beleidige ihn, daß manche sagten, er stamme von Juden ab.
Die beiden Dörfer Lockwitz und Nickern, die meine zusammen
2500 Seelen zählende Gemeinde bildeten, waren noch deutlich erkennbare
slavische Rundlinge. In Nickern, der 700 Seelen umfassenden Filiale,
war tatsächlich nur ein Eingang ins eigentliche Dorf vorhanden. Um den
alten Dorfteich her, der aber in Lockwitz zugeschüttet und in den "Plan"
verwandelt worden war, die Häuser mit ihrem Giebel alle dem Mittelpunkt
zugewendet, ein zweiter Kranz von Häusern hinter ihnen. Die Kreisform
war nun freilich in Lockwitz schon längst zerstört. Von Niedersedlitz
her und nach dem "Grund" zu gab es lange Straßenzeilen. Das Dorf liegt
am Eingang des Lockwitztales, dessen Straße nach dem Bad Kreischa herabführt.
Dicht an die letzten Häuser treten die Hügel und Berge heran zunächst
mit einer Höhe von 50 - 100 m, die sich dann in sanftem Aufstiege immer
mehr zum Erzgebirge erhöhen. Hoch ragt dem "Plan" gegenüber das Schloß
empor, ein unschöner Kasten, zu welchem die reichen Kap-herrs, die viel
Geselligkeit pflegten und Gastzimmer brauchten, das alte, in edlem ländlichen
Stile errichtete Herrenhaus der früheren Besitzer, Familie Preusser,
umgebaut hatten. Die Kirche, unmittelbar ans Schloß angelehnt, verschwand
leider fast neben seinem riesigen Ausmaß. Hinter dem Schloßpark stiegen
die Felder zur Krähenhütte auf,- das Krähenschießen war ja eine noble
Passion der vornehmen Herren im vergangnen Jahrhundert gewesen - dort
ragte ein reizender kleiner jonischer Tempel über die jungen Bäume,
zwischen dessen Säulen hindurch man in die Tiefe des Berges hinabstieg,
um dort zu seiner Überraschung eine regelrechte römische Katakombe zu
finden. In den Felsen hineingehauen waren die loculi für die Särge der
Kap-herrschen Familie, die nach ihrer Ingebrauchnahme auf den Verschlußplatten
aus Marmor die Namen und die Elogia der Bestatteten aufwiesen.
Beide Dörfer waren früher ausgesprochene Bauerndörfer
gewesen, jetzt hatten Kap-herrs und auch die Nickernschen Rittergutsbesitzer
fast alle Güter aufgekauft. In Lockwitz gab es außer dem Rittergute
wohl nur noch 2 selbständige Bauern, ebenso in Nickern.
Von dem Nickernschen "Bauern", Herrn Wirthgen,
eine charakteristische Erinnerung. Zu irgend einer Auseinandersetzung
mit seinem dicken Bauernschädel war der geh. Regierungsrat und Amtshauptmann
Dr. Schmidt in seiner Dienstkutsche selbst herausgekommen. Dies
Amt galt damals noch sehr viel, die Amtshauptleute waren im ganzen Lande
wie kleine Könige geachtet. Der Streit war heftig geworden, und Gutsbesitzer
Wirthgen braust schließlich auf: "Wenn der Herr Amtshauptmann mir das
nicht genehmigt, dann gehe ich eben direkt zum König". Ein wenig von
oben herab antwortet der Geheimrat: "Da glauben Sie wohl sicher anzukommen?"
Und Wirthgen antwortet heiter lächelnd: "Ja, Herr Amtshauptmann, der
König und ich, mir sinn wie Brieder". - Diese Art eigenständige, stämmige
Menschen hatten etwas herzerquickendes. Ich fürchte, sie sind auch jetzt
schon seltener geworden, als sie damals noch waren.
Ein ähnlicher Charakter war auch der Rittergutsbesitzer
von Nickern, Herr Winckler, ein Bauer in grossem Ausmaße, sowohl
nach seiner landwirtschaftlichen Tüchtigkeit wie bäuerlichen Grobheit
hin. Wenn der mit seinen großen Stiefeln über die Felder Schritt, dann
fürchteten sich die Knechte, und ich glaube, auch ich habe mich manchmal
gefürchtet, wenn ich ihn unten klingeln hörte. Dieser Kraftmensch stach
seltsam ab von seiner auch recht stattlichen aber wirklich vornehmen
Frau, mit der er aber in recht guter Ehe lebte. Und noch mehr stach
er ab von unserem Rittergutsbesitzer, bei dem ja jeder Zoll etwas adliges
hatte. Die beiden standen sich denn auch wie Feuer und Wasser gegenüber.
Im wesentlichen war unser Lockwitz und auch Nickern glücklicherweise
noch nicht ein Arbeiter-, sondern ein Handwerkerdorf, die Heimat eines
kleinen, ehrsam arbeitenden Bürgertums, mit dem es sich recht wohl leben
ließ. In allen den 150 Häusern wohnten unten neben ihren Werkstätten
die Meister, während die oberen Zimmer an Kontoristen- und Arbeiterfamilien
vermietet waren. An Fabriken gab es in Lockwitz keine. Aber nach entgegengesetzter
Richtung hin war 20 Minunten entfernt im Lockwitztale die Rügersche
Schokoladefabrik und in Niedersedlitz die Tonwarenfabrik von Otto
Kaufmann. Mit dem letzteren bin ich nur wenig in Verbindung getreten.
Aber der Kommerzienrat Otto Rüger, bei meinem Anfang in Lockwitz
ein Mann von etwa 60, ist mir bald ein väterlicher Freund geworden,
von dem mit seiner ganzen Familie ich noch manches zu erzählen habe.
Hier nur soviel, daß dieser hochdenkende, fromme und sozial gesinnte
Herr den Geist der Fabrikarbeiterschaft bestimmte, die mir in meinem
Amtsleben nahe gekommen ist. Ich habe es erlebt, wie sehr viel für eine
gute Gesinnung der Arbeiterschaft vom Arbeitgeber abhängt. Selbstverständlich
gab es in Lockwitz auch nicht wenige Sozialdemokraten. Aber solche,
die sich in unfreundlichen Gegensatz zu ihren Mitbürgern oder auch zur
Kirche gestellt hätten, habe ich in den 17 Jahren meines Lockwitzer
Lebens nur wenige kennen gelernt. Es lag auch im Wort und Antlitz der
opponierenden Arbeiter dort ein stilles Eingeständnis, daß der Familie
Rüger gegenüber irgendwelche Feindseligkeit nicht möglich sei.
Noch bleibt bei dieser Schilderung der Ortseinwohner,
die ja mein Arbeitsfeld bedeuten, die eine oder andere Gruppe zu bedenken.
Eine große Bedeutung hatte Hänichens Mühle. Schon daß die alte verwitwete
Besitzerin im ganzen Orte den achtungsvollen Titel "Madame Hänichen"
trug, war ein Zeugnis für ihre herausgehobene Stellung, und sie war
sich dessen auch recht bewußt. Herzensgütig, fürsorgend, geschäftlich
wohl sehr tüchtig und energisch, von einer Weite des Blicks, wie sie
auf unseren Dörfern doch selten vorkommen mag; sie hatte einen Sohn,
der sehr jung als Reformparteiler, d.h. antisemitisch-konservativer
Abgeordneter in den Reichstag kam, und der mir mit seinem politischen
Brausekopfe nicht immer angenehm, aber ebenso wegen seines lebendigen
Geistes wie wegen seines reinen Herzens doch recht sympathisch war.
Adams Mühle im "Grunde" war damals schon in den Besitz
des Ritterguts übergegangen und hatte einen Pächter, der im Dorfe keine
Rolle spielte. Der letzte Besitzer hatte den Erlös in einem kleinen
Gasthof angelegt, den er mit seiner lieben Frau am "Plane" nun
selbst bewirtschaftete. Ein Mühlrad hatte er mitgenommen, das im Wirtsgarten
über dem vorbeirauschenden Bache traulich plätscherte. Der Pfarrer durfte
in diesem kleinen Wirtsgarten sich manchmal zu den handwerklichen Honoratioren
setzen, ja man würde es nicht verstanden haben, wenn er dies unterlassen
hätte. Es lag etwas von Hermann und Dorothea - Stimmung noch über unserer
Heimat.
Bleiben die Gasthöfe übrig. Der obere Gasthof, drüben
dem Rittergutsgarten gegenüber an der Straße nach Borthen, war der Halteplatz
für Dresdner Ausflugsfamilien, der Tanzsaal für unsere bessere Gesellschaft
und auch der Ort für unsere kirchlichen Familienabende. - Am Ausgang
des Dorfes nach der Bahn zu war der untere Gasthof. Er hatte eigentlich
immer der "niedere" geheißen; aber mit kräftigen Worten machte uns Herr
Klamt, der Besitzer, gelegentlich klar, daß dieser Titel sein
Anwesen heruntersetze und er dagegen würde klagbar werden müssen. In
Wirklichkeit war der soziale Unterschied zwischen beiden Gasthöfen aber
deutlich. Der ebenso große Tanzsaal wurde da unten nur von der proletarischen
Jugend benutzt, die damals freilich noch längst nicht so bedenkliche
Sitten hatte wie wohl heute.
Noch zuletzt die Gemeindevorstände. Im Ehrenamte Herr
Adam. Der war in seinem eigenen Gaststübchen oder Garten des
Abends von den Honoratioren umgeben, zu denen auch ich mich denn zählte.
Da war der Dr. Bamberg, der Baumeister Kirsten, der Postverwalter
und andere würdige Leute, zwischen denen die Tagespolitik mit großer
Energie und Weisheit verhandelt wurde.
Unter den führenden Männern unserres kleinen Dorfstaates
ragten drei besonders hervor, die ich doch in Erinnerung behalten möchte.
Der eine war der Baumeister Kirsten, in dessen modernem Hause,
das in geistlosestem Maurerstil gebaut war, wir unsere ersten Monate
zubringen mußten, bis die alte Pfarre eine genügende Erneuerung erlangt
hatte. Ein selbstgemachter Mann, voll großen Selbstbewußtseins, bissig
und verschlossen, aber doch von einer nicht zu verkennenden Herzensgüte,
die sich freilich nur immer versteckte. An seiner Seite eine kleine
Frau, die sich vor jedem harten Worte ihres Helden ängstigte.— Herr
Malermeister Schädel, ein Lübecker von Geburt, feines blondes
Germanengesicht, würdig und bedacht, zweifellos einer der weitblickendsten
in unserem Kreise. Diese beiden waren Kirchvorsteher und der letztere
mein eigentlicher Vertrauensmann.
Aber da war noch ein anderer Mann im Dorfe, - oben im
"Sack" besaß der Dr. med. Theile ein winziges Wirtschaftshäuschen,
das am Eingang eines großen, mit allerlei nützlichen und seltenen Pflanzen
bebauten Gartens lag. Dr.Theile, ein kleiner, gebückter Mann von etwa
70 Jahren, erlebte in meiner Zeit das 50jährige Jubiläum seiner Verurteilung
zum Tode. Er war 1849 Mitglied des sächsischen Landtages und ein Führer
in der Revolution gewesen, war zum Tode verurteilt worden und hatte
dann nach Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus 10 Jahre in Waldheim
gesessen, bis er endlich ganz befreit wurde. Dies Schicksal hatte im
Herzen und auf dem Antlitz des edlen Mannes tiefe Spuren hinterlassen.
Er war ein wahrhaftes Kind von reinstem Herzen, nur von Idealen bewegt,
über die er auch in den späteren Jahren seines Lebens noch immer grübelte,
sodaß er von der praktischen Seite des Lebens und damit auch von der
ärztlichen Praxis sich weit abgewendet hatte. - Was habe ich mit diesem
Manne disputiert! Durch und durch philosophischer Rationalist, konnte
er wohl als ein Deist und Moralist bezeichnet werden; ihm war mein Christus-
und Kreuzesglaube eine rührende, kindliche Naivität. Er hat nicht immer,
aber doch sehr oft auf der Empore meiner Kirche, mir gegenüber gesessen,
mit häufigem Kopfschütteln meine Predigten begleitet und sich dann lange
mit mir darüber ausgesprochen immer mit dem Resultat, daß er mich nicht
verstehen konnte, aber mir die Hand schüttelte mit dem Zugeständnis:
Sie meinen es so ernst wie ich, Gott wird einst entscheiden, wer von
uns recht hat.
Ich habe diesen Mann zuletzt mit dem Worte begraben: "Selig
sind, die reines Herzens sind", das war er durch und durch. Der kleine
Mann mit seiner noch kleineren Frau, Pauline geb. Binnebösel,
steht vor meinem Gedächtnis wie Philemon und Baucis, - liebe Menschen!
An denen habe ich gelernt, daß es unrecht ist, mit seiner eigenen Meinung
über die Meinung andrer sich zu Gericht zu setzen. "Wer wird auf des
Herrn Berg gehen? - der unschuldige Hände hat und reines Herzens ist."
Psalm 24,3 ff.
Was ist wohl eigentlich der Wert solcher Dörfer wie Lockwitz
eines war? Unser Gott hat uns Menschen doch wohl einen doppelten Zweck
gesetzt. Jeder Einzelne soll zu seinem Ebenbilde, zu einer vollen Persönlichkeit
werden, und die Gesamtheit soll sich zu einem Volke entwickeln mit reicher
und reiner Seele. Es will mir scheinen, als sei an die Landgemeinden
neben den Großstädten ganz unentbehrliche Werkzeuge zur Erreichung dieser
Zwecke. Sie sind ja gewillermaßen zufällig entstanden. Hier lag eine
Mühle, dort ein Bauerngut, dort war eine Poststelle, und diese ersten
Ansiedlungen wurden zur Grundlage von Dörfern und Städten. Aber was
der Zufall gebildet hat, das ist nun ein Mittel zur Erreichung der göttlichen
Zwecke, und jeder Bewohner sollte sich dessen innesein. Die menschliche
Schwachheit bringt es nun in den Dörfern ebenso wie in den Städten zuwege,
daß nur wenige die gottgewollten Ziele erkennen und noch wenigere sich
ihnen mit bewußtem Willen unterwerfen. Oberflächlichkeit und Reizsamkeit
in den Großstädten, Kleinlichkeit und Engigkeit auf dem Lande verderben
vieles. Da sieht es sich nun ein nachdenklicher junger Pfarrer zur Aufgabe
gestellt, daß er den göttlichen Willen in seinem Wirkungskreise zur
Erkenntnis und zur Durchführung bringe. Er lebt, man darf wohl so sagen,
in der Schnittlinie zwischen Himmelreich und Erdreich. Er muß den heiligen,
göttlichen Willen mit dem Willen der Menschen verknüpfen, - und wie
er dieses in jeder einzelnen Beziehung erreiche, das ist der tiefste
Sinn seiner alltäglichen Arbeit.
Ich war also in des Wortes mannigfastigster und tiefster
Bedeutung zum Seelsorger meiner Gemeinden von Lockwitz und Nickern bestellt.
Die Predigt am Sonntag ist die wichtigste von allen Arbeiten, die der
Pfarrer zu leisten hat. Und wohl dem Pastor, der das fühlt und keine
Minute in der Woche ungenutzt läßt, um seine Predigt wohl vorzubereiten.
Ich suchte die Aufgabe selbstverständlich hauptsächlich in der rechten
Erfassung und Durchdringung des mir in der Perikopenordnung vorgelegten
Textes. Seine Bedeutung für die Gegenwart und für jeden Einzelnen mußte
erkannt und verständlich gemacht werden. Nun schien mir - wie schon
gesagt - damals außerdem auch nötig, durch ästhetische Anziehungskraft
den Eindruck zu vermehren. Ich feilte an jedem Satz und an jedem Wort
und lernte sehr genau. Später ist mir dies Formale geläufig, aber auch
weniger wichtig geworden. Ich halte es heute mit dem Goetheschen Satz:
Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.
Aber vom jungen Anfänger will dieser Satz bitte recht cum grano salis
verstanden sein.
Während meiner ganzen Lockwitzer Zeit, ja glücklicherweise
auch in Dresden-Striesen, habe ich über meine Zuhörerschaft nicht klagen
dürfen. In Lockwitz habe ich doch wohl kaum jemals unter 150 Zuhörern
in der Kirche gesehen, meist waren's viel mehr, und an den Festtagen
war die Kirche immer gänzlich gefüllt. Nicht nur der Kirchenpatron mit
seinem Hause, zu dem auch nicht selten der königliche Kämmerer, General
von Criegern, sich gesellte, der Schwager des Herrn Baron, sondern
auch der ehrwürdige, weißbärtige Kommerzienrat Rüger mit Frau
und Kindern und auch die Doktorsfamilie saßen mit großer Regelmäßigkeit
unter meiner Kanzel. Neben dem vorderen Eingang saßen die Kirchvorsteher
immer fast alle. Und daneben war unser Pfarrbetstübchen, in dem meine
liebe Frau mit tiefgeneigtem Kopfe auf das gespannteste der Predigt
folgte, sodaß ich danach oft auf jeden Satz einen Widerhall hörte.
Da hat einmal eine Klatschbase im Dorfe verbreitet: unsere
Frau Pastorn schämt sich über ihren Mann, die wagt sich garnicht, in
die Höhe zu gucken. Ich wußte immer, daß das einen ganz anderen und
mich tief beglückenden Grund hatte. Eine solche Gemeinschaft am Allerheiligsten,
wie sie mir schenkte, ist wohl auch in den Pfarrhäusern nicht allzuhäufig.
Bald habe ich auch regelmäßige Abendgottesdienste in der
Schule zu Nickern eingerichtet und niemals die Predigt des Vormittags
dort wiederholt. Ich wählte dort mehr die Form der Homilie, der Bibelstunde
und brauchte auf die förmliche Ausarbeitung nicht so viel Zeit zu verwenden.
Ich hatte denn auch die Freude, daß die besten Kirchgänger aus Nickern
von ihrer alten Gewohnheit, in das Gotteshaus nach Lockwitz zu kommen,
nichts abbrachen und dennoch auch abends sich auf die Schulbänke setzten.
Kindergottesdienste habe ich wohl 1 oder 2mal im Monat
gehalten; Gruppen mit unterrichtenden Helfern konnten wir nicht bilden,
es war eine kleine Kinderpredigt; aber nach und nach fand sich doch
ein Stamm von jungen Mädchen, die wenigstens als Freundinnen und Ordnerinnen
auftraten. Recht herzlich danke ich meinem Kantor, dem Oberlehrer Möbius,
und auch den jüngeren Lehrern, daß sie die Schulkinder gern auf den
Kindergottesdienst verwiesen und auch die Lieder der Kinderharfe zu
großer Frische einübten.
Die Umwandlung der Politik hat es auch in Lockwitz nach
und nach immer mehr erschwert, das Amt des Ortsschulinspektors und Schulvorstandsvorsitzenden,
zu dem ich gewählt war, reibungslos durchzuführen; aber das persönliche
Band zwischen Herrn Möbius und mir hat niemals gelitten. Auch mit den
jüngeren Lehrern habe ich fast ausnahmslos ein freundliches Verhältnis
gehabt. Der zweite Lehrer, Herr R., war ein nicht ganz einwandfreier
Charakter, mit dem es manchmal eine amtliche Auseinandersetzung geben
mußte. Ich blicke aber doch auch darauf mit der Befriedigung zurück,
daß offene Herzlichkeit manch ein Hindernis niederlegen kann. Wir sind
als Freunde geschieden.
Unsere Schulausflüge machten die Lockwitzer in der ganzen
Gegend berühmt. Unsere Lieder konnte weit und breit kein Schulchor nachahmen,
und das war das Verdienst von Herrn Möbius, in dem eine große musikalische
Gabe mit wahrhafter Frömmigkeit sich mischte.
Die allgemeine Seelsorge muß ein Pfarrer auch durch Familienabende
und durch Vereinstätigkeit erfüllen. Es trägt wohl doch zur Stärkung
des Gemeinschaftsgefühles nicht unwesentlich bei, wenn im Gasthofssaal
bei Rauch und Bier der Pfarrer die verschiedensten Stände um sich sammelt
und ihnen irgend einen Gegenstand der christlichen Kultur ans Herz legt.
Ich kann freilich nicht leugnen daß ich in diesen Dingen immer eine
gewisse Disharmonie gefühlt habe. — Von Vereinen gab es nur den Frauenverein,
als ich hinkam. Er kam im Konfirmandenzimmer - unten im Pfarrhaus -
wohl monatlich einmal zusammen. Da waren auf Böcken Bretter gelegt,
und es wurde kräftig geschneidert für die Armenbescherung zu Weihnachten.
Unsere liebe Frau Gemeindevorstand Adam führte ein humorvolles,
freundliches und kräftiges Regiment. Da waren dann meine Aufgaben, zwischen
dem Klappern der Scheren vorzulesen oder etwas zu erzählen.
Nicht lange nach unserem Einzug schenkte Herr von Kap-herr
der Gemeinde eine Diakonisse, die in seinem Beigut eine stille, recht
anheimelnde Wohnung bekam. Schwester Marie Kretzschmar, ein älteres
Mädchen, ist ebenso wie ihre Nachfolgerin, die viel jüngere und anmutige
Schwester Frieda Tänzler, ein großer Segen für unsere Gemeinde
geworden. Die jungen Mädchen kamen bald sehr gern zum Jungfrauenverein,
besonders bei der jüngeren Schwester Frieda fühlten sie sich ganz zuhause.
So entschloß ich mich denn nun, meinerseits die Jünglinge um mich zu
versammeln. In der Konfirmandenstube wurden die Bänke aufeinander getürmt
oder in den Hof hinausgetragen, die primitiven Tische des Frauenvereins
wurden uns geliehen, und meine Jungen sind in einer doch nicht ganz
kleinen Zahl meine sonntäglichen Gäste gewesen. Damals war die Volksseele
noch nicht so zerrissen wie heute. Das Problem, in welcher Weise christliche
Jünglinge anzufassen sind, war noch nicht so schwer zu lösen. Ernste,
wirklich fromme Gespräche und Ansprachen wechselten mit heiteren Spielen
am Tisch oder im Garten ab, und ich glaube, die Jungen gingen nicht
nur befriedigt, sondern auch ein wenig erhoben nach Hause.
Daß ein Pfarrer den ganzen Sonntag bis in die letzten
Stunden der Familie entziehen und der Gemeinde opfern muß, wurde je
mehr und mehr zu einer als selbstverständlich anerkannten Pflicht. Leicht
ist es einem nicht immer gewesen.
Die sogenannte private Seelsorge halte ich bis zum heutigen
Tage für das Herzstück der geistlichen Amtsarbeit. Ich habe auch in
Lockwitz und in meinen späteren Ämtern mir möglichst viel Zeit und Kraft
dazu abgerungen; aber ich darf nicht leugnen, daß das in ihr liegende
Problem mich immer aufs neue ernstlich erschüttert. Es gibt keine psychologische
Wissenschaft, keine praktische Theologie, welche einem unfehlbare Regeln
dafür an die Hand geben könnte. Man tastet und tastet und geht sehr
oft von Krankenbetten und stillen Beichtstuben weg mit dem schmerzhaften
Gefühle, den Schlüssel zum anderen Herzen nicht gefunden zu haben.
Vielleicht spreche ich das am besten mit einem Gedicht
aus, das ich aus dem Januar 1906 in meinem Buche verzeichnet finde:
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Seelsorger?
O laßt mich allein!
Ich vermag es nicht,
Was Ihr mit stummen Mienen
Mir alle ruft ins Angesicht,
Was aus
jedem Eurer Blicke spricht:
"Unsern
Seelen sollst Du dienen!"
O laßt mich
allein! Denn Euer Herz,
Das wohnt hinter eisernen Banden,
Die sind für mich undurchdringliches Erz!
Das eben ist meinen Kräften der Schmerz,
Daß
sie's suchten und niemals fanden!
O laßt mich
allein! Ich hab's ja getan,
Ich
wollte erforschen die Tiefen
Von Euren Seelen! Sie gähnten mich an
Wie Schlünde vor Bergen den schwindelnden Mann, Darin
ewige Rätsel schliefen.
Die Kraft
ist zu schwach! O laßt mich allein,
Laßt
andere Tiefen mich schürfen!
Es kann ja des Menschen Pflicht nicht sein,
In einen Abgrund zu tauchen hinein
Und Verzagen draus zu schlürfen!
O laßt mich
allein! Und zu heiligen Höh'n
Will
mit treuem Ringen ich steigen!
Und was ich in Sonne und schwarzem Föhn,
Ein innerlich Schau'nder anbetend gesehn,
Laßt das mich zum Segen Euch zeigen!
|
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Walther Zenker 1864 - 1932
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Solche Empfindungen begleiteten mich denn auch oft in
die Kasualreden hinein. In den ersten Jahren bin ich stets nur zitternd
an die Gräber getreten. Die Herzen an dem Punkte zu treffen, wo sie
am tiefsten bewegt waren, und sie zu den Höhen emporzuheben, von welchen
uns Hilfe kommt, das ist wahrhaftig keine kleine Aufgabe. Und eine Hochzeit
oder eine Tauffeier wirklich zur gottesdienstlichen Feier einer Familie
zu gestalten, ist schwer. Doch erinnere ich mich mancher schönen Stunde
in Ernst und in der Freude, wo das dennoch gelungen schien. Und dann
war es auch ein wirkliches Fest, bei solchen Familienfeiern die weiteren
Stunden zuzubringen. Die Konfirmationen der Kap-herrschen Kinder nach
den traulich innigen Konfirmandenstunden, die Taufen im Bambergschen
Hause, die Hochzeiten in meiner lieben Familie Rüger - das waren solche
erhobenen Tage, die einen gewissen Glanz noch lange ins tägliche Leben
hineinstrahlen ließen.
Das tägliche Leben! Meine liebe Käthe war von Anfang an
sehr zart. Aber in den ersten 5-6 Jahren unsrer Ehe reichten die Kräfte
doch immer zu, um nicht nur das Haus zu verwalten, sondern auch mir
die treueste Mitarbeit im Amte zu schenken. Wir haben alles gemeinsam
durchlebt. Meine Predigtvorbereitungen ebenso wie die Gemeindeabende
und die seelsorgerlichen Fragen lagen der Lebensgefährtin genau so auf
dem Herzen wie mir. Und wie dankbar konnte ich nur immer sein, wenn
sie mich schon an der Haustür fragend empfing, wo etwa einmal ein besonders
schwerer seelsorgerlicher Gang mich geängstigt hatte.
Damals gab es noch viele ruhige Abende, wenn auch der
Tag in der immerhin nicht kleinen Gemeinde voll Arbeit war. Da haben
wir uns vorgelesen, Käthe hat an unserem Pianino gespielt, ich habe
auch wohl mal ein Schubertsches oder Mendelsohnsches Lied gesungen;
wir haben uns innerlich gemeinsam bereichert.
Ende 1893 meldete sich leise unser Junge an, der am 12.
Mai 1894 das Licht der Welt erblickte. Unser Hans wurde naturgemäß
der Mittelpunkt unseres häuslichen Lebens, und die Lebensgewohnheiten
haben sich von seinem Geburtstage an sehr geändert. Zuerst bedurfte
es langer Zeit, bis die Mutter wieder zu Kräften kam, und einen leisen
Stoß hat sie damals wohl doch so empfangen, daß er nie ganz wieder überwunden
wurde.
Der Junge kam in der 4. Morgenstunde auf die Welt. Ich
hatte die Nacht in Unruhe auf meinem Sofa zugebracht und keinen Schlaf
gefunden. So kam es denn, daß mich die Botschaft - die unser treues
Mädchen, Ida Frey, mir brachte - in verzeihlicher Verwirrung
antraf. "Herr Pastor, 's ist ein Junge da!", rief sie in die Stube hinein.
Und meine Antwort: "Was will er denn?" Ich fühlte mich durch diese Störung
zu so ungewohnter Stunde nur unangenehm in meiner Erwartung gestört,
und es mußte mir erst deutlicher gesagt werden, daß es mein eigener
Junge war. Da kam ich denn hinüber in unsere Schlafstube und sah den
langen, dürren Hecht in seinem Korbe liegen, von unserer lieben Frau
Knoch schon schön bekleidet. Aber nichts ist dem süßen Bild zu
vergleichen, das die junge Mutter nach der Geburt ihres ersten Kindes
dem Vater bot.
Hans hat den Segen einer unsäglich treuen, hingebenden
und frommen Mutterliebe 4 Jahre lang aufs allerbeste erfahren. Als sein
Gemüt aufwachte, und Mutters Geist den seinen zu befruchten beginnen
konnte, sah man sehr bald den wundervollen Einfluß.
Meine Marianne - sie hat sich selbst aber vom ersten
Lallen an nur Nanna genannt, und dieser Name ist ihr denn geblieben
- hat es darin nicht so gut gehabt; denn nachdem sie am 27. September
1898 geboren war, hat für Käthe die Leidenszeit begonnen, die wohl allerdings
gelegentlich zu neuer Hoffnung sich besserte, aber doch zu keinem guten
Ende führte. Oder doch zu einem guten Ende??
Hier muß ich ein Bekenntnis machen, das mein tiefstes
Herz bewegt, das ich naturgemäß aus den Erinnerungen anderer Menschen
nicht habe bestätigen hören, dessen Inhalt aber doch das Höchste ist,
was ich meinem Gott zu verdanken habe, und was ich als das Kleinod meines
Lebens bis in meine letzte Stunde tragen werde. Käthe wußte sehr früh,
daß ihr kein langes Leben bestimmt war. Der Tag — nicht lange nach Nannas
Geburt, dessen Datum mir freilich nicht erinnerlich geblieben ist -
an dem sie in unserer großen Stube, während Gäste bei uns waren, leise
ans Fenster hinter die Blattpflanzen trat und ihr Taschentuch vor den
Mund nahm, in dem ich dann die ersten Blutspuren fand, bleibt mir immer
vor Augen. Es war ein Tag des tiefsten Opfers!
Dennoch habe ich noch oftmals meine Hoffnung wieder hochsteigen
lassen und mich nur langsam in das klare Bewußtsein dessen eingelebt,
was mein Gott von mir verlangte. Im April 1899 habe ich z.B. ja noch
die schöne Reise nach England machen dürfen, die ich in einem besonderen
Tagebuch beschrieb, zur Hochzeit meines Schwagers Walther Schumann
mit Edith Barlow aus Little-Stanmore bei London. - Aber für Käthe
war das noch übrige Leben von einem zum andern Tage nur immer ein bewußtes
tieferes Hinabsteigen in die Krypta, in welche die Christen, die Gott
am höchsten begnadigt, dem gekreuzigten Heiland nachfolgen - Matth.16,24:
"Will mir Jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst, und nehme sein
Kreuz auf sich, und folge mir", hat Käthe Wort für Wort und mit bewußtem
Glaubenswillen 4 Jahre lang erfüllt.
Ich schaute am Schuppen vorbei von meinem Studierstubenfenster
weit über unseren großen schönen Pfarrgarten hin, in dem die Obstbäume
blühten - und fühle noch den tiefen Schnitt in mein Herz, wie ich dort
im Grase meine Frau tiefgebeugt, ins Plaid gehüllt, sitzen sah - die
Hände gefaltet und im deutlichen Ringen mit ihrem Gott. Dieses durch
Jahre hindurch sich vollendende Sterben einer Christin, die ganz mein
eigen war, ist auch für mich - wie ich schon sagte - ein unermeßlicher
Segen geworden. Wir haben's zusammen erlebt und gewollt, was der 73.Psalm
sagt: "Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet; so bist Du doch,
Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil". Und unser gekreuzigter
Herr ist uns beiden damals so nahe getreten, daß wir den lieben Strich
Seiner Hand auf unserem Scheitel zu spüren glaubten, und in heißer Liebe
- wenn auch in wehem Gehorsam - uns Ihm ganz übergaben.
Nur für wenige Tage ist Käthe bettlägerig geworden, aber
nun ging es sehr eilend zu Ende. Die Erinnerung werde ich auch nie vergessen,
wie ich ihr ihre Kinder brachte - und sie die Hände ihnen entgegenstreckte,
dann aber flehte, sie ihr nur ja nicht zu nahe kommen zu lassen - und
bald verlangte, daß sie in bessere Luft kämen. Als aber die Kinder das
Zimmer verlassen hatten, hüllte sie sich in ihre Kissen und unterdrückte
die Laute des Jammers, zu denen sie bei diesem Abschied gezwungen war.
Auch ich durfte bei ihr nicht mehr meinen Schlaf suchen, sondern ruhte
im Gastzimmer nebenan, und sie duldete nicht, daß auch nur die Türe
geöffnet bliebe.
Die letzten Nächte habe ich mich nicht mehr zu Bett gelegt
und horchte auf jeden Laut, der aus der Stube kam. Endlich war es soweit.
Ich saß an ihrem Bettrand und horchte auf das Klopfen ihres Herzens
und auf das stundenlange leise Entatmen der nun wohl zu keinem Gedanken
mehr fähigen, still zu ihrem Gott gehenden Seele. Ach, es lag ein so
seliger Ausdruck auf dem teuren Antlitz, sehr bald nachdem sie aufgeatmet
hatte - und ich weiß, daß ihr Einsegnungsspruch sich an ihr erfüllt
hat. Das reine Herz ist selig und schaut seinen Gott!
Am 11. Juni wurde mein Liebling von den treuen Männern
unserer Begräbnisgesellschaft vor mir her in die Kirche getragen, und
die gaze Gemeinde drängte herein, um an dieser Abschiedsstunde teilzunehmen.
Sie wußte, was sie an ihrer Pfarrfrau gehabt hatte, die wirklich auch
in den Leidensjahren für sie ein Segen gewesen ist. Freund Reinwarth
aus Leuben hielt über das von Käthe selbst gewählte Jeremiaswort (29,
11): "Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, Gedanken des
Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, deß ihr wartet"
eine herzenswarme Rede, die mir sehr wohlgetan hat. Und dann trugen
wir sie von der lieben Stelle, an der sie so oft mit mir gebetet, hinaus
auf den Gottesacker am Berge, wo ihr liebes Grab unter dem weißen Marmorkreuze
hinausgrüßt über die Felder und Berge unserer Heimat, - und ich zog
heim ins leergewordene Haus.
Wie mir zumute war und lange blieb, das mag das folgende
Gedicht bezeugen, das ich im Februar 1903 geschrieben habe.
|
Ich träumte
heut', ich hätte Dich verloren,
Du lägest bleich vor mir und stumm und starr,
Der einst mein Herz mit Jauchzen Treu geschworen,
Die, ach, mein ganzes Glück und Leben war!
In deren Augen
mir die Heimat blaute,
Die meinen Kindern Gottes Segen bot,
Der ich mein Innerstes so ganz vertraute -
Du lagst in Linnen still - und wärest tot!
Ich suchte
Dich mit irgend einem Wehe, -
Du hattest keine liebe Antwort mehr!
Ich sehnte mich nach Deiner süßen Nähe, -
Ein kalter Hauch nur wehte von Dir her!
O wacht' ich
auf! O wollt' der Tag nicht säumen!
Was für ein Alb in nächt'ger Dunkelheit! -
Und ich bin wach! O Gott, mein schweres Träumen
Ist mit erwacht! Es war die Wirklichkeit!
|
Jetzt erst war die schwerste Zeit und die ernsteste Prüfung
meines Lebens angebrochen. Ich habe es mir sagen müssen, daß Gott mit
mir so handeln mußte, wie Er es getan hat. Die Frau, die so demütig
sich mir unterordnete, stand doch in Wirklichkeit sehr hoch über mir,
und ich war es, der unbewußt und unwillkürlich sich anlehnte. Sollte
ich, was doch Gottes Absicht mit uns ist, eine wahrhaft freie und selbständige
Persönlichkeit werden, so mußte mir die starke Kraft genommen werden,
die ich nicht aus den Inneren, sondern von außen her erhalten hatte.
Jetzt galt es nun, allein vorwärts zu dringen und fertig zu werden.
Und seit jenen Tagen ist dies die Aufgabe geworden, nach deren Erfüllung
ich ringe bis zum heutigen Tag.
Wir sind ja nach Luthers wahrem Wort "niemals im Gewordensein,
sondern stets nur im Werden". Wer dies liest, der mag es wissen - ich
will es nicht verbergen - daß ich damals Versuchungen kennen gelernt
habe - so ernst und furchtbar, wie ich sie bis dahin nicht geahnt hatte.
Im Glück ist es leicht, Gott anzugehören. Damals kam die
Versuchung, die Fäuste gegen ihn zu ballen und bitter zu werden.
Mit frohem Herzen arbeitet man gern. Damals habe ich sehr ernstlich
darum kämpfen müssen, daß ich, ohne den augenblicklichen Lohn zu suchen,
doch im Berufe treu und fleißig bliebe.
Aber das Ernsteste kann nur angedeutet sein. Wem ein hohes
Gut - ja das beste seines Lebens - genommen wird, der kommt in Gefahr,
sich mit dem Surrogat zu trösten, und an die Stelle des wahren Lebensgutes
das unreine, ungeistige, schlechte und sinnliche zu setzen. Vor diesem
Wort: Ersatzmittel oder Surrogat erschauert mein Herz in der Tiefe.
Ich habe darin die schwerste Erschütterung meines inneren Menschen erlebt
und schäme mich der Augenblicke, wo ich dieser Erschütterung nachgegeben
habe.
Über diese Erinnerungen würde ich nicht hinwegkommen,
wenn ich nicht als den Kern und Stern des Christentums die Wahrheit
erkannt hätte: "Ich glaube an eine Vergebung der Sünden!" Wenn ich doch
manchmal in die bezeichneten Versuchungen geraten war, dann habe ich
mich zunächst einfach zu dem Vertrauen emporgerungen, daß die zentrale
Botschaft des Neuen Testaments auch für mich da ist. Und - Gott sei
Dank! - im Laufe der Jahre habe ich's erfahren, daß es nicht nur eine
Vergebung, sondern auch eine Erlösung von der Sünde gibt durch Jesum
Christum, meinen Herrn. O, daß ich diese innerste Wirklichkeit alles
Menschenlebens allen denen vererben könnte, die ich lieb habe!
Zwei Jahre lang wohl ist mein Leben entsetzlich tot und
leer gewesen. Und auch meine beiden lieben Kinder erinnerten mich wohl
an den geliebten Schatz und brachten mir manchen Sonnenstrahl in mein
Dunkel, aber im Grunde bestärkten sie ja doch nur das bittere Gefühl
des Vermissens. Es ist mir nicht leicht geworden, an die Stelle des
Gattenglücks das Vaterglück zu setzen.
Nach und nach beruhigte sich aber die Seele, und es wachte
neue Sehnsucht nach wahrem Leben auf. Ich weiß jetzt, daß solange wir
leben Gott nicht will, daß dies Leben im Nachtrauern um verlorenes Glück
bestehe. "Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber
die Liebe ist die größeste unter ihnen".
Während Käthes Krankheitsjahren hätte sie unser verehrter
Freund, der kgl. Leibarzt, Geheimrat Dr. Fiedler, der sich in
rührender Väterlichkeit um sie sorgte, auf einige Monate nach Görbersdorf
in Schlesien geschickt, wo auch ich denn in Dr. Weickerts Marienheim
einmal 3 Wochen bei ihr zu Gaste war. Während dieser mehrmonatlichen
Abwesenheit und noch lange danach hatte eine Kusine, Grete Schröder,
meinen Haushalt geführt und die Kinder behütet. Die durfte ich mir denn
jetzt auch wieder rufen. Und sie hat 4 Jahre lang mir in großer Treue
beigestanden, ich will ihr das immer herzlich danken.
Ein wesentliches Stück der Beruhigung gab aber die überaus
wertvolle Freundschaft der Familie Rüger. Unser verehrter väterlicher
Freund, der Kommerzienrat Otto Rüger, hatte meine Käthe halb im Scherz
halb aber auch in wirklicher Ehrerbietung stets nur die "regierende
Frau Pastor" genannt. Wir haben gemeinsam hinten im "Grunde" köstliche
Stunden eines ebenso liebe- wie geistvollen Verkehrs gefunden. Frau
Kommerzienrat, Amalie geb. Uhlig, war der Inbegriff einer guten
und hochgebildeten Mütterlichkeit. Und in den ersten Jahren saßen um
den großen Tisch her die Söhne Konrad, Max, Georg
und Alexander, zum Teil schon mit ihren Bräuten, die ich dann
bald zu Rügerfrauen trauen durfte. Auch eine Tochter war noch im Hause,
Elisabeth (später Frau Geh.Rat Meusel);die ältere Frida
war schon an Leutnant Aster verheiratet, eine außergewöhnlich
schöne Frau.
Was habe ich an ihren lieben jungen Häusern für Freundschaft
gewonnen! Max mit seiner Anna in der Villa im "Grunde", Konrad,
der mit seiner Johanna nach Bodenbach zog, die haben mir alle
gleich nahe gestanden und tun es noch, wenn auch die Begegnungen ja
leider recht selten geworden sind. Damals hat die ganze Familie aufs
rührendste für mich gesorgt und über meinen Kummer mich hinweggetragen,
auch meinen Kindern viel mütterliche Fürsorge ersetzt.
Eine wertvolle Stärkung meines Lebens und - ja ich möchte
sagen Wiederbelebung - verdanke ich auch meinem Kollegen Georg Liebster.
Der war als Diakonus der Dresdner Kreuzkirche in Gruna bei Dresden stationiert,
und wir kamen uns in unseren damaligen Interessen außerordentlich nahe.
Georg Liebster hat später eine nicht unbedeutende Führerstellung in
der evangelisch-sozialen Arbeit eingenommen; für diese suchten wir uns
damals, indem wir alle 14 Tage zu gemeinsamem Lesen und Besprechen in
unseren Häusern zusammenkamen, vorzubereiten. Ich habe später von dieser
Specialität mich etwas abgewendet, weil ich die eigentliche Aufgabe
des evangelischen Pastors weniger in der sozialen Fürsorge als in der
Glaubenspredigt des Evangeliums zu erkennen meinte, aber die gegenseitige
Liebe und Achtung ist uns geblieben. Ich habe Georg Liebster immer als
einen mir ganz besonders nahen Menschen geliebt und diese tapfere, soviel
angefeindete, reine Seele sehr hoch eingeschätzt. Hier in Leipzig bin
ich schließlich ja sein Superintendent geworden. Ich schätze es mir
jetzt noch zur Ehre, mit ihm gearbeitet zu haben, und zum Glück, daß
ich den wundervollen Heimgang dieses wahrhaften Gotteskindes so unmittelbar
habe miterleben dürfen. Liebster konnte im Kampfe unerbittlich sein;
aber niemals hat er die reine Linie einer unzerstörbaren Nächstenliebe
und auch des ehrfürchtigsten Christusglaubens verletzt. - Ein andres
Freundeshaus stand mir in Leuben bei Pastor Reinwarths offen,
wo ich für viel Herzlichkeit zu danken habe.
Ich hatte wohl im Anfang des Amtslebens meinen Plan darauf
gerichtet, daß ich etwa nach 5 oder 6 Jahren mich weiterbewerben wollte.
Ich halte es im wesentlichen auch heute noch für richtig, daß man auf
einer Stelle nicht einrosten soll. Gottes Fügung band aber meinen Eigenwillen.
Nach Käthes Erkrankung durfte ich selbstverständlich nicht an eine neue
Bewerbung denken, um einer fremden Gemeinde die darin gelegene Last
nicht aufzuerlegen. Und als gegen Ende meines 11. Amtsjahres in Lockwitz
der große Schmerz nun eingetreten war, habe ich die Schwungkraft noch
lange nicht wiedergefunden. Es band mich ja nun auch an Lockwitz das
teure Grab.
So kam es, daß ich noch von Lockwitz aus im lieben Kühnschen
Hause ein Mädchen kennen lernte, die bestimmt war, mir die Schwungkraft
meiner Seele wiederzubringen und mich zur frischen Inangriffnahme eines
neuen Lebens zu bestimmen. Es war eigentümlich, - in einer großen Gesellschaft
war mir mit natürlich unausgesprochener aber deutlicher Absicht eine
Tischdame gegeben worden, deren Name schon damals aber mehr noch jetzt
in der kirchlichen Welt einen sehr guten Klang hat. — Zu meiner Linken
saß aber Fräulein Elisabeth Ackermann, die Tochter des damaligen
Oberhofpredigers. Ich weiß nicht, wie es kam, aber die hat es mir angetan!
Ich bin hoffentlich nicht unhöflich gegen meine rechte Nachbarin gewesen;
aber sehr viel mehr habe ich mich damals um die linke gekümmert. Und
nach einigen Tagen trieb es mich zu meiner Tante Mathilde Kühn
mit der Bitte, mir wiederholte Zusammenkünfte zu ermöglichen. Großes
Erstaunen bei dieser lieben Tante, sie hatte sich etwas ganz anderes
gedacht. Aber in mir war es deutlich bestimmt, was ich wollte, und ich
habe nicht locker gelassen. Ich sah Elisabeth ein paar Mal im Kühnschen
Hause, sah ihre strahlende Heiterkeit, die doch einer großen Güte und
Innerlichkeit nicht entbehrte, und war entschlossen, um ihre Hand zu
werben. Daß zwischen uns der Altersunterschied so groß war, habe ich
nicht angenommen, ich hielt Elisabeth für wesentlich älter als sie tatsächlich
war, - oder mich für jünger?
Kühns hatten mir unterdes auch den Verkehr im Ackermannschen
Hause selbst vermittelt. Kein leichtes Stück, denn der Oberhofprediger
lebte in seiner Witwerschaft sehr ungesellig und war überhaupt ein sehr
zurückhaltender Mann. Genug, ich saß ein paar mal dort am Tische, -
und nun habe ich wieder einmal im meinem Leben die wunderbarste Gottesfügung
erfahren. Ich war ja garnicht sicher, ob Elisabeth mich lieben könnte,
und wollte keinesfalls sie überraschen. Deshalb gab ich in einem sehr
langen Briefe ihr Rechenschaft über alle meinen äußeren und inneren
Verhältnisse und bat sie am Schlusse, sich ruhig und langsam inne zu
werdn, ob sie meiner Werbung folgen könne.
|
Elisabeth geb. Ackermann und Walther Zenker.
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Drei Tage darauf ging ich hin, der Vater war nicht zu Hause, aber Elisabeth
empfing mich mit einer solchen Herzlichkeit, daß ich darindie Bejahung
meines Wunsches zu erkennen glaubte. Mein Benehmen führte zur Verlobung.
Als wir zusammen saßen, kommt Vater Ackermann herein und macht mir Vorwürfe,
daß ich seine Tochter überwältigt habe. Ich weise auf mein gutes Gewissen
hin, das ja aus dem Briefe erkennbar sei, den ich Elisabeth geschrieben
habe. Bei Beiden ein großes Erstaunen und Erschrecken. Meine Braut wußte
nichts von dem Briefe, und Vater Ackermann hatte vergessen, ihn ihr
zu geben, als sie von einer kurzen Reise zurückgekehrt war. Gott hat
uns zusammengefügt, ohne daß die von mir gewünschte Prüfung hätte erfolgen
können! Wahrhaftig, ich glaube fest an diese Fügung meines Gottes.
Das war am 20.April 1906, am 74. Geburtstage meiner Mutter,
und wir brachten ihr die Botschaft am Abend noch als ein liebes Geschenk.
Sie hat auch diese meine zweite Frau mit freudiger Liebe an ihr reiches
Mutterherz gekrückt. Am 29. September haben wir Hochzeit gehalten.
Grete Schröder schloß ihre Tätigkeit in meinem
Hause damit ab, daß sie während unserer 14tägigen Hochzeitsreise unsere
Kinder noch betreute. Ich bewahre der guten ernsten Seele ein dankbares
Andenken.
Vater Ackermann traute uns in seiner Hofkirche
mit einer Rede über Micha 7, 7: "Ich will auf den Herrn schauen und
des Gottes meines Heils warten; mein Gott wird mich hören." Und in Elisabeths
leider mutterlosem Elternhause wurde im Kreise ihrer und meiner nächsten
Verwandten das Hochzeitsmahl gehalten, Liebigstraße 9.
In der Nacht aber reisten wir nach Italien. Köstliche
Tage in Lugano! Die rocca di Gandria und der kleine, weit über den See
hinaus sich senkende Ölbaum davor können etwas erzählen von dem heiteren
Glück, das meine junge Frau mir dort bereitete. Mailand mit seinem wunderbaren
Dom und mit der Brera, Venedig, der Lido, die Academia haben uns erfreut.
Wundervoll waren die Tage am Comersee und auf dem Brenner.
Das war ein verheißungsvoller Anfang meines neuen Lebens.
Die Lockwitzer Freunde haben uns mit großer Liebe empfangen, Blumen
prangten überall. Leider zu spät waren unsere Kirchvorsteher und vor
allem ihr Führer, Max Rüger, sich bewußt geworden, daß mein altes
Pfarrhaus an der Erkrankung meiner Käthe wohl einen großen Teil der
Schuld trüge. Im Jahre 1904 haben sie mir deshalb das schöne neue Pfarrhaus
gebaut, in das ich nun meine Elisabeth hineinführen durfte.
Hier laß mich Dir danken, Du liebe Frau, für das große
Opfer, das Du mir willig gebracht hast, als die Fülle Deiner neuen großen
Lebensaufgaben Dir zum Bewußtsein kam. In einem freien und frohen Jugendleben
groß geworden, mußtest Du nun in wesentlich engeren Verhältnissen Dich
einrichten und Pflichten erfüllen, über deren Größe und Schwere ich
mir selbst damals erst wirklich Rechenschaft gab. Das große Haus mußte
von unten bis oben in Ordnung gehalten, der Garten versorgt werden,
die vielen ins Haus kommenden Gemeindeglieder, Händler und Bettler waren
zu befriedigen und - nicht zuletzt - zwei Kinder, von denen der 12jährige
Hans Dir eine nicht ganz leichte Eigenart entgegentrug, und das 8jährige
Mädchen eben an der Schwelle ihrer jungen Wildheit stand. Die beiden
Kinder mußtest Du als Deine eigenen ans Herz nehmen, zu verstehen und
zu erziehen suchen. Ich weiß, wie Dein gewissenhaftes Gemüt sich nicht
vor der Schwere aber vor der Größe neuer Aufgaben ängstigt, und sehe
den großen Ernst des lebens, den Du als meine treue Frau damals auf
Dich genommen. Ich danke Dir!
Es war für meine Frau auch nicht leicht, sich in alle
die eigenartigen dörflichen Verhältnisse einzuleben, die doch ganz anders
sind als die städtischen, und sie als die Nachfolgerin einer beliebten
Pfarrfrau wurde nicht selten in etwas unangenehmer Weise unter die Lupe
genommen. Aber diese Zustände haben glücklicherweise nicht allzulange
gedauert. Im Frühjahr 1908 war der 1. Pfarrer der großen Kirchgemeinde
Dresden-Striesen, Boess, gestorben, und ich sollte sein Nachfolger
werden.
Diese überraschende Tatsache kam so zustande: 1897 war
Arthur Neuberg von Döbeln aus als Diakonus an die Erlöserkirche
in Dresden-Striesen gekommen und von da aus Mitglied unserer Laubegaster
Pastorenkonferenz geworden. Zwischen ihm und mir hat sich bald ein besonderes
Band innerster geistiger Gemeinschaft gebildet. Seine lebendige Gelehrsamkeit,
die Wahl seiner Vortragsthemen, die Methode seiner Arbeit in Wissenschaft
und Amt und dabei eine große Bescheidenheit und Selbstkritik, auch sein
literarisches Wissen schlugen so viele verwandte Saiten in mir an, daß
ich mich magnetisch zu ihm hingezogen fühlte. Wir wurden Freunde, er
kam bald in unser Haus und ist sowohl meiner ersten wie meiner zweiten
Frau ein lieber, treuer Freund geworden. In den ersten Jahren unserer
Freundschaft beschäftigte uns ganz besonders eine gemeinsame Liebe zu
dem Maler Steinhausen, den wir auch einmal auf einer gemeinsamen
Reise in seiner Heimat, Frankfurt a. M., aufgesucht haben, doch leider
ohne ihn anzutreffen. Wir beide bewahren aber Briefe Steinhausens, die
zu den besten unserer Schätze gehören.
Ein Steinhausensches Bild "Christi Seepredigt" ist eine
der letzten Erhebungen meiner Käthe geworden. Als ich ihr einen Holzschnitt
von diesem Bild auf ihr Sterbebett legte, sah sie es lange an und sagte
dankbar und zuversichtlich "der bringt uns noch alle wieder zusammen
in Sein Schiff" und gab mir dann tröstend die Hand.
Einer Anregung Neubergs verdanke ich wohl auch eine wesentliche
Kraft meines mit dem Jahre 1904 wiedereinsetzenden Lebensaufschwungs.
Er hat mich gegen manchen inneren Widerstand dazu gebracht, daß wir
im April und Mai 1904 eine Reise nach Rom unternahmen. Über diese Reise
habe ich ein eingehendes Tagebuch geschrieben. Hier soll nur ganz im
allgemeinen erinnert werden, wie Florenz mit seinem wunderbar erhaltenen
und eindringlichen Bilde der Renaissancezeit, wie Rom mit seinen Altertümern
und mit seinem Vatikan und seiner Peterskirche, wie endlich auf der
Heimreise die Herrlichkeit des Gardasees im Blütenschmucke das Herz
aufjubeln machten, das so lange in dunklen Banden gelegen hatte.
Nun war es Neuberg, der in einer
mir heute noch wunderbaren Weise mich nach
Dresden-Striesen
gebracht hat. Er hatte im dortigen Kirchenvorstand so
von mir geredet, daß diese Männer mich in meiner Kirche und in Versammlungen,
in denen ich Vorträge hielt, aufsuchten. Sie haben daraufhin den Stadtrat
als Patron nach Boess' Tode um mich gebeten. Ich mußte auf die Aufforderung
eines Stadtrats hin pro forma eine Bewerbung einsenden; es stand aber
von vornherein fest, daß man mich berufen wollte. Und diese mich beglückende
Ehre wurde mir denn auch zu teil.
Im Herbst 1908 packten wir in Lockwitz unsere Sachen,
verließen das liebe neue Haus mit seinem schönen Garten ringsumher,
mit den alten Linden an der Gartenspitze und mit den seltenen, alten
Quittenbüschen, mit deren Früchten wir unsere große Verwandtschaft
oftmals hatten beglücken können, und zogen - Paul Gerhardtstraße 21
- in das Striesener Pfarrhaus ein, während Neuberg gegenüber, Nr. 19,
das Pfarrhaus der böhmischen Exulantenfamilie bewohnte; dieser gehörte
die damals noch einzige Kirche der riesigen Gemeinde.
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Paul Gerhardtstraße 21 in Striesen. (Herzlichen
Dank an Herrn Gerd Hiltscher!)
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Die Versöhnungskirche
überlebte den 2. Weltkrieg.
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Mit
Dank an Herrn Gerd Hiltscher
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Welch eine neue Welt umfing uns! Die Gemeinde Dresden-Striesen
war 45 000 Seelen groß. Wir waren 5 Pastoren, auf deren jeden denn eine
Zahl von 9 000 Menschen kam, und der 3. Pfarrer, Neuberg, hatte noch
außerdem die allerdings zahlenmäßig kleine, aber über die ganze Stadt
verstreute Gemeinde der böhmischen Exulanten zu pastorieren. Für mich
war die Verwaltungsarbeit der Riesengemeinde eine sehr große Belastung,
umsomehr als es zu meinen Hauptaufgaben gehörte, die im Bau befindliche,
als eigentliche Gemeindekirche bestimmte Versöhnungskirche
draußen in der Osthälfte zu ihrer Vollendung zu führen. Eine große aber
wunderschöne Aufgabe war das für mich. Die Kirche stand im Rohbau fertig.
Die fortwährenden Beratungen mit den Baumeistern Rumpel und Krutzsch,
zwei wahrhaft künstlerisch befähigten Architekten, und vor allem die
mit dem Bildhauer Wrba, der uns das köstliche Standbild des "guten Hirten"
gemacht hat, sind mir in glücklichster Erinnerung. Am 20. Juni 1909
haben wir sie eingeweiht. Der Stadtsuperintendent, D. Dibelius,
kam heraus und sprach Worte, wie nur er - dieser gottbegnadete Redner
- sie sprechen konnte.
D. Dibelius!, welche eigentümliche Erinnerungen
verknüpfen mich mit dem! Er hat mich von meiner Studentenzeit an gekannt.
Durch die Familie Kühn auch mit uns gut bekannt geworden, war er wohl
in der Lage, sich auch über mich ein Urteil zu bilden. Ich darf wohl
sagen: seine rasche und oft heftige Bestimmtheit verschloß ihm auch
wieder häufig die Möglichkeit zu einem objektiven Urteil. Und so denke
ich jetzt, die offensichtlich nicht sehr hohe Einschätzung, die er mir
lange zeigte, lag in dieser seiner Eigentümlichkeit und in der ganz
anderen Gemütsrichtung begründet, die ich hatte. Dibelius hat mir nach
meiner Berufung - denn so und nicht als eine Wahl darf ich mein Hinüberkommen
nach Striesen bezeichnen - ganz offen gesagt, daß er mich nicht gerufen
haben würde. Aber beim Mittagessen am Einweisungstage in seinem Hause,
als er meine Antrittspredigt gehört hatte, klang das Urteil schon wesentlich
anders. Wir haben uns in unseren Tischreden tatsächlich noch ein wenig
angegrobst - und sind dann im Laufe der nächsten 7 Jahre je mehr und
mehr wirklich zu Freunden geworden. Er hat mich ja zuletzt als Oberhofprediger
sich selber nach auf die Hofkanzel und in das Konsistorium gezogen.
Nicht unmittelbar nach der Einweihung, aber doch bald,
mußte nun auch die Trennung der großen Gemeinde Dresden-Striesen vollzogen
werden, und das halbe Jahr danach war von unendlichen Verhandlungen
zu diesem Zwecke ausgefüllt. Damals gab es für mich wahrhaftig nichts
zu lachen. Vom Kirchenpatron, dem Stadtrat, zum Konsistorium, von dort
in die Finanzbehörden und auf die Standesämter - es war eine unendliche
Lauferei und Umwälzung der Gedanken.
Für mich persönlich gab es eine schwere Entscheidung des
Herzens. Ich hatte ja natürlich das Vorrecht der Wahl, welcher von beiden
neu entstehenden Gemeinden ich als Pfarrer vorstehen wollte, - der alten,
guten, eingerichteten Gemeinde um die Exulantenkirche her, der Erlöserkirche,
oder der ganz neu einzurichtenden Versöhnungsgemeinde. Der Versöhnungsgemeinde
war die größere Seelenzahl zugefallen, etwa 23 000 Seelen. Ich habe
diese gewählt hauptsächlich, weil dadurch meinem lieben Freunde Neuberg
das Pfarramt der Erlöserkirche geöffnet wurde, zum Teil aber auch, weil
mich die Neueinrichtung lockte. Es gab da doch etwas zu schaffen! Mit
mir hinausgezogen ist der älteste Kollege, Dr. Martin, den es
selbstverständlich an der Erlöserkirche nicht litt, weil naturgemäß
Neuberg als Exulantenpfarrer auch Gemeindepfarrer werden mußte. Bei
Neuberg verblieb Freiesleben, der jetzt dort erster Pfarrer ist,
und v. Brück. Wir wählten uns draußen einen dritten, Pastor Krüger
und später Behrend.
Und unsere Versöhnungsgemeinde ist herrlich aufgeblüht!
Freudig begeisterte Kirchvorsteher - als Führer der damalige Landgerichtsdirektor
und jetzige Ministerialdirektor im Justizministerium Nitsche
- halfen an allen Seiten. Frauenverein und Jugendvereine wachten auf.
Einen idealen Kantor und Organisten haben wir in Alfred Stier
gefunden, den Mann, der jetzt auch in den Umwälzungen der liturgischen
und kirchenmusikalischen Fragen an führender Stelle steht, und mit seiner
kraftvollen, feinen, blonden Frau uns zu einem rechten Hausfreunde geworden
ist. (Wie denk ich so gern der halben Stunden, die mitten in der großen
Arbeit ich im Ofeneckchen bei Stier sitzen durfte, um seinem wundervollen
Klavierspiel zuzuhören.) Die Gemeinde aber ging mit, wie irgend eine
Gemeinde nur mitgehen kann.
Amtlich gesprochen sind die 7 Jahre in Striesen meine
besten Jahre gewesen. Die Kirche war allsonntäglich ganz oder wenigstens
fast ganz gefüllt. Auf den ersten drei Bänken saßen oft bis zu 30 Emeriti,
deren Altersheimat das östliche Striesen geworden war, und die durch
ihr regelmäßiges Wiederkommen doch zeigten, daß ihre selbstverständlich
scharfe Kritik nicht nur negative Erfolge hatte. Damals gab es oft nicht
mehr die Zeit, um die Predigten, so wie ich es in Lockwitz gewohnt war,
bis aufs letzte Wort zu feilen. Ich bin aber auch aus innerstem Triebe
und aus kontrollierter Überzeugung zu der Ansicht gekommen, daß ein
Prediger, der nach langer Übung das Wort in der Gewalt hat, die augenblickliche,
freie Formung der Rede nicht mehr zu fürchten braucht. - Die Gedanken
müssen natürlich aufs gründlichste durchdacht sein. - Mir wenigstens
wäre es heute ganz unmöglich, mich wieder in das schwere und enge Geschirr
der vorher fest geformten Rede zu binden. Und wenn meine Reden gelegentlich
den gewollten Eindruck verfehlt haben, so - glaube ich - liegt das mehr
daran, daß ich wie ein Seiltänzer die vorbestimmte Bahn suchte und deshalb
mit dem Herzen abirrte, als daß ich etwa ein nicht ganz zutreffendes
Wort in der freien Rede gebraucht hätte.
Bald nachdem ich in der Versöhnungskirche angetreten war,
besuchte auch unser Vater Ackermann mich einmal in der Kirche. Ich hatte
über die eben bezeichnete Frage manchmal mit ihm gesprochen und seine
Zustimmung für meine Ideen nicht voll erreicht. Nachdem er mich damals
gehört hatte, kam er aber in die Sakristei und sagte, indem er mir herzlich
die Hand drückte: "Wenn Du immer so predigst, dann habe ich nichts mehr
einzuwenden". Das war mir aus dem Munde dieses strengen Richters ein
überaus wertvolles Urteil.
Neben all der äußeren Einrichtungsarbeit galt es natürlich
in Striesen, die großen Prinzipien der Großstadtarbeit immer wieder
durchzudenken. Ohne klare Richtung darf ein leitender Großstadtpfarrer
jedenfalls nicht arbeiten. Zu den allgemeinen Fragen, welche mit der
Kirchenleitung überall verbunden sind, gesellen sich in der Großstadt
zwei besondere. Die erste lautet: Wie durchdringe ich mit den geringen
mir zur Verfügung stehenden Kräften die riesigen Massen, die hier Seelsorge
fordern? Es war eine fast selbstverständliche Folgerung aus dieser Frage,
daß mein Herz sich geradezu jubelnd der neuen Idee geöffnet hat, welche
der damals einsetzende evgl.Gemeindetag verkündigte, - der Idee der
Helferverbände! Ich darf mich nicht rühmen, diesen Gedanken zuerst gefasst
zu haben; aber daß ich als einer der ersten ihn in die Praxis eingeführt
habe, das darf ich wohl in aller Bescheidenheit behaupten.
Im Jahre 1912 sammelten sich in der Versöhnungsgemeinde
eine Anzahl lebendiger Gemeindeglieder, die monatlich im Sitzungszimmer
des Gemeindehauses bei der Kirche zusammenkamen, um über die praktischen
Aufgaben zu beraten und diese, zu verteilen, welche die Versorgung aller
einzelnen Straßen und Häuser uns stellte. 1 Pfarrer kann 8 000 Seelen
unmöglich allein bedienen. Hier standen ihm nun Hände und Herzen zur
Verfügung, die bereit waren, zu allen kirchlichen Unternehmungen einzuladen,
sich um die Armen zu kümmern, wichtige Fragen in engeren Kreisen im
kirchlichen Sinne zu besprechen, Flugblätter auszuteilen und Sammlungen
zu organisieren. Die Helferarbeit ist zweifellos unter allen Organisationen
der kirchlichen Gegenwart die allerwertvollste. Der Pfarrer, der überwältigenden
Aufgaben gegenübersteht, fühlt sich von starken Armen getragen und seine
Freudigkeit mächtig belebt. Und die Gemeinde tritt nicht nur in den
Gottesdiensten am Sonntag und in den Vereinen mit ihren besonderen Zwecken,
sondern auch in einer Anzahl von Christen in Erscheinung, deren Glaube
in der Liebe tätig ist. Die unsichtbare Kirche wird zur sichtbaren Wirklichkeit.
Auch in dieser Sache ging ich mit meinem Freunde Neuberg, der gleiches
in seiner Erlösergemeinde organisierte, fröhlich Hand in Hand.
Die andere Frage allgemein kirchlicher Art ist die unerschöpfliche
und ich möchte fast sagen unlösbare: Wie behauptet sich die Kirche als
Kulturmacht gegenüber all den Kulturerscheinungen und Kräften, die sonst
in einer Großstadt die Geister beherrschen? Das war in der Tat eine
neue Frage, die sich mit großem Gewicht auf meine Seele legte. Auf dem
Lande war und ist auch heute noch die Kirche fast die einzige geistige
Macht, gleichviel ob sie anerkannt oder abgelehnt wird. In der Stadt
drängen sich die starken Mächte von Kunst und Wissenschaft, von Industrie
und Handel und von Verkehr und organisiertem Vergnügen und vom Sport
so wirksam an die Seelen heran, daß sie deren Fassungskraft nur allzusehr
in Anspruch nehmen und die unmoderne Macht der kirchlichen Gedanken
verdrängen.
Ich habe mir Geduld und Energie von Gott erbeten. Ich
habe mir gesagt, daß die Hauptaufgabe dieser Frage gegenüber eine vertiefte
Predigtleistung ist. Das ewige, gottesmächtige Evangelium muß denen,
die es noch immer hören wollen, so ans Herz getragen werden, daß auch
alle ihre zeitlichen, irdischen und augenblicklichen Interessen sich
damit getroffen und durchdrungen fühlen. Der Prediger muß ein durchgebildeter
Mann sein, muß die größte Weitherzigkeit mit einem engen Gewissen und
lebendigen Christusglauben vereinigen. Er muß alles verstehen, ohne
doch alles zu entschuldigen, aber so, daß er alles unter die vergebende
und neubelebende Gnade stellt. Mit dieser Botschaft der Kirche möglichst
viele Menschen und insbesondere diejenigen, welche sich der Kirche längst
entfremdet haben, zu erreichen, ist eben die Aufgabe, welche im wesentlichen
durch die Helfer erfüllt wird. Die kirchlichen Vereine - die ich mir
in den beiden Jugend-Vereinen und in einem Männer- und einem Frauenverbande
konzentriert denke, - sind außerdem noch berufen, die nötigen Brücken
zu bauen.
Gott sei gedankt: an wirklich erfreulichen Fruchten unserer
Arbeit hat es nicht gefehlt. Nein, vielmehr hat Gott uns über Bitten
und Verstehen und über alles Verdienst und Würdigkeit gesegnet! Es hat
sich wirklich eine lebendige und wenigstens eine ringende Gemeinde gefunden.
Wir machten die schöne Erfahrung, daß in einem Stadtteil, der schon
längst von Zehntausenden bewohnt war, ohne daß irgend gläubiges Leben
wäre zu bemerken gewesen, eine bewußte Kirchlichkeit zum bestimmenden
Faktor wurde. Unsere stählernen Versöhnungs-Glocken wurden tatsächlich
weithin so verstanden, wie sie gemeint waren: "Lasset euch versöhnen
mit Gott", - 2.Kor.5, 20. -
Nun ist's wohl Zeit, einmal wieder von der Familie und
der Freundschaft zu reden. Auf die Paul Gerhardtstraße Nr.21 hatten
wir außer Hans und Nanna auch unsere Agnes Helene mitgebracht,
die ihre beiden Namen nach ihren Großmüttern trägt. Sie war am 2. November
1907 in dem sonnigen Südzimmer unserer Lockwitzer Pfarre zur Welt gekommen,
ohne der Mutter allzugroße Beschwerden zu machen, - und ist der liebe
Mensch geblieben, der um sich eine friedliche, frohe Harmonie verbreitet.
Auf der Paul Gerhardtstraße erschien am 11. Juli 1909
unser Ernst Gerhard Oscar, den aber Elisabeth durchaus
nicht Gerhard genannt haben wollte, sondern nur Gert, womöglich mit
hartem t, er sollte wie eine Gerte schlank und kräftig ins Leben wachsen.
Im täglichen Leben ist's nun beim Gerd geblieben, was denn wohl
seinem Wesen auch am deutlichsten entspricht. Unser lieber Junge ist
mit großer Wortkargheit, ja, wohl mit einer allzu reichlichen Dosis
von Schüchternheit, aber auch mit einer inneren Ruhe und Freudigkeit
bis zur jetzigen Unterprima seinen Weg gegangen, daß wir ohne Sorge
auf seine Zukunft blicken. Es ist ja seltsam, daß der so ganz aufs idealistische
und humanistische Ziel gerichtete Vater an seinen Söhnen die allgemeine
Abkehr zum Realismus und Aktivismus so mächtig erlebt. Gerd ist in Fragen
des Autobaues und des Radio für uns Autorität - und lächelt milde, wenn
von Schiller und Goethe die Rede ist.
Ich will nicht unterlassen, ein charakteristisches Wort
von ihm hier festzuhalten. In unserer schönen Sommerfrische in Müllers
Gut oberhalb Stadt Wehlen findet ihn die "Oma" eines Tages unter einem
Birnbaum sitzen, still und mit den Händen im Schoß. Sie fragt, was er
denn da tue. Er: "ich Warte". "Worauf wartest denn Du?" "Auf den Wind!"
"Warum wartest denn Du auf den Wind?" "Daß der mir ein paar Birnen 'runterwirft."
Ganz unser Gerd. Oder eine andere schöne Geschichte: Im Walde soll er
einige Meter an der steilen Böschung in die Höhe klettern, um einen
schönen Steinpilz von dort oben herunterzuholen. Da sagt er treuherzig
zum Vater: "Wenn ich doch Swinegel wäre -, dann hätte ich eine Frau,
die gerade so aussieht wie ich. Die würde ich dann dort 'nauf schicken,
und ihr würdet das garnicht merken."
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Helene, Großmutter Agnes und Gerd um 1912
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Helene und Gerd ("Mieze u. Männe")
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1913 am 4. Juli kam zu dem Geschwisterpaar noch unsere
Hertha Margarete hinzu, aufdaß in jedem unserer
Pfarrhäuser ein Kindchen seinen ersten Schrei täte. Helene war in Lockwitz,
Gerd auf der Paul Gerhardtstraße geboren, und Hertha kam nun auf der
Glasewaldtstraße 49 an. Dies Kind hat uns wieder neue Erziehungsfragen
gebracht. Sie haben alle ihre Eigenart, aber bei Hertha ist das eigene
Wesen doch am meisten ausgeprägt. Mit großen Augen und mit ernster Frage
schaut sie ins Leben, liebesbedürftig und erkenntnishungrig; und wenn
dann die Tatsachen hart und schwer, wie das Leben einmal ist, an sie
herantreten, dann ballt sie ihre kleinen Fäuste und sprüht von Leidenschaft
und lehnt sie heftig ab und findet sich nur sehr mühsam zwischen ihnen
hindurch. Mein Gebet für meine Hertha ist, daß sie das Göttlich-Heilige
und Gute in den Tatsachen des Lebens erkennen möchte, nicht an das Schicksal,
sondern an die Schickung glauben lerne, und so sich freudig beuge und
ihren Lebensweg im Frieden und in Dankbarkeit gehen lerne.
Ach, ich möchte ja so gerne glauben dürfen, daß meine
Kinder glücklich werden und bleiben, wenn sie herangereift sind und
ich längst die Augen geschlossen habe.
Hans war schon von Lockwitz aus nach Dresden auf
die Kreuzschule gegangen, in unerfreulichem Maße durch die tägliche
Bahnfahrt beschwert, von Dresden aus war das dann leichter. Er ist schlecht
und recht durch die Schule gegangen, ein Durchschnittsschüler, der mit
seinem etwas träumerischen und grübelnden Geiste, dem auch ein Zug von
Frömmigkeit nicht fehlte, ganz wie von selbst sich zur Theologie bestimmte.
Daß er zum Einjährig-Freiwilligen-Jahre angenommen würde, war bei seiner
zarten Konstitution, die er leider von der Mutter geerbt hatte, ganz
unwahrscheinlich. Er ist denn auch als 19jähriger nicht zum Militär,
sondern als Theologe im 1. und 2. Semester auf die Universität Leipzig
und im 3. Semester zu seinem Patenonkel, Hans von Schubert, nach
Heidelberg gezogen. Doch das eilt weit voraus.
Nanna war beim Umzug gerade so weit, um von der
Volksschule auf die höhere Schule überzugehen, und kam von Striesen
aus auf die sogenannte Ratstöchterschule, die 1. Höhere Mädchenschule
in der Zinsendorfstraße, wo ein uns durch unsere Schwester Marga
freundschaftlich verbundener Direktor, Dr. Wuttig, sich ihrer
mit überaus dankenswertem Interesse annahm. Sie war ein kleiner Windhund,
und Freund Wuttig hat manchmal über sie den Kopf geschüttelt. Nanna
aber hat sich, wie ein rechtes Gotteskind, durch alle Schwierigkeiten
hindurchgelacht, ist doch zu einer befriedigenden Abgangszensur gekommen
und hat auf der Gartenbau-Hochschule in Pillnitz, ebenso wie in den
praktischen Lehrlingsjahren der Gärtnerei ihre Sache gut gemacht.
Ihre öffentliche Laufbahn schloß auf folgende Weise ab:
Sie zeigt mir hier in Leipzig ein Gruppenbild ihrer Studienkameraden
von Pillnitz. Ich lobe das Antlitz des einen jungen Kameraden. Tief
errötend sagt sie "also der gefällt Dir" - und fällt mir um den Hals
und gesteht "mit dem hab ich mich vorgestern verlobt." - Wir haben am
18. Juni 1927 das Paar mit herzlich freudiger Zuversicht zusammengetan,
und Otto Schweitzer genießt das volle Vertrauen seines nunmehrigen
Schwiegervaters.
Helenchen kam Ostern 1914 auf die Seminar-Vorschule
in der Marschnerstraße und mußte von ihrer Mutter täglich dorthin gebracht
und von dort abgeholt werden. Damals schien uns der Plan recht hoffnungsreich,
daß sie durch die Vorschule hindurch ins Seminar emporwachsen und einmal
selbst eine gute Lehrerin werden könnte. Das Mädchenseminar und die
Vorschule standen in hoher Achtung in Dresden, und die erste Klassenlehrerin,
Fräulein Judeich, war offenbar eine wirklich begnadete Erzieherin.
Helenchen hat an ihr wie an einer Mutter gehangen.
Auch Gerd hat Glück gehabt mit seinen Anfangsschuljahren.
Er ist von der Blasewitzerstraße aus in die Volksschule am Trinitatisfriedhof
gekommen, und dort führten ihn Lehrerhände, wie man sie sich nicht besser
wünschen kann, in die ersten Gründe der Wissenschaft ein. Herr Kobes
war, das soll das dankbarste Lob sein, vielmehr ein Vater als ein Lehrer.
Aber damit wird nicht gesagt, daß seine Lehrfähigkeit nichts gälte.
- Die alten Seminare, vielfach auf einen lebendigen Christenglauben
gegründet, haben Persönlichleiten erzogen, nach denen unsre Zeit wohl
noch lange wird hungern müssen.
Meine Striesener Arbeit war so groß, daß von irgend welcher
Anteilnahme am Familienleben bei mir kaum die Rede sein konnte. Ich
habe meine Kinder - außer ein paar mal in der Sommerfrische in Wehlen
- kaum anders als bei den Mahlzeiten gesehen. Sie waren ganz der Mutter
anvertraut. Einflüsse empfingen sie auch von meinen und von den Verwandten,
welche nun durch meine zweite Verheiratung zur Familie gehörten.
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Schwiegervater Oscar Ackermann 1836 - 1913
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Vater Ackermann hat sich um uns alle mit einem
sehr gütigen Interesse gekümmert. Er hatte die Eigenart, immer nur auf
ganz kurze Stunden in unser Haus zu kommen. Dann ging er durch alle
Räume, setzte sich oft überhaupt nicht, aber beobachtete scharf und
brachte das, was ihm auffiel, zur Sprache. Nach einer halben Stunde
war er schon wieder auf der Elektrischen, die ihn an seinen Schreibtisch
brachte.
Sein Haus wurde nach Elisabeths Wegzug von unserem lieben
Fräulein Fischer verwaltet, der überaus tüchtigen, an Herz und
Geist gebildeten Tochter eines Chemnitzer Polizeiwachtmeisters, mit
der uns bald eine warme Freundschaft verbunden hat. Nach Vaters Tode
hat sie sich mit dem Studiendirektor Professor Dr. Bassenge verheiratet,
und wir erfreuen uns auch in diesem neuen Verhältnis ihrer Freundschaft.
Unser Vater Ackermann starb 1913. Er war erst kurze Zeit
vorher in den Ruhestand gegangen, und mein verehrter Dr. Dibelius war
sein Nachfolger im ersten Amte der sächsischen Kirche geworden. Ich
will hier nur kurz von seinem Ende sprechen.
Ein schmerzhaftes Krebsleiden hat ihn für einige Wochen
aufs schwere Krankenlager geworfen. Da hat sich das, was ich als Sohn
in den letzten Jahren je mehr und mehr lieben und bewundern gelernt
hatte, in seinem Charakter noch einmal herrlich bewährt. Vater Ackermann
war eine - ich möchte fast sagen titanische Natur, voll heißer Leidenschaft;
alle Urkräfte des menschlichen Wesens waren in ihm überaus lebendig.
Von Glück und Schmerz, von bösen wie von guten Eindrücken wurde er gleicherweise
ergriffen und mächtig hin und her gerissen. Die Erde hielt ihn fest
mit klammernden Organen; aber mit seinem überaus scharfsinnigen Geiste
und mit seinen - dagegen freilich zurücktretenden - Herzenskräften war
er in seiner zeitigen Mannesjugend ein überzeugter Christ geworden.
Nachdem ich das verstehen gelernt hatte, habe ich manchmal geradezu
mit staunender Ehrfurcht dem siegreichen Kampfe zugesehen, den sein
Glaube regelmäßig gegen seine starke Erdennatur bestand. "Unser Glaube
ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" - 1. Joh.5, 4 - das Wort
paßte durchaus auf ihn. Und wenn ich nicht irre, hat sein von ihm sehr
hochgeschätzter - und mein verehrter späterer Kollege und Freund, der
1. Hofprediger Geheimrat Dr. Friedrich über dieses Wort seine
Grabrede gehalten.
Mir bleibt es in feierlicher Erinnerung, wie Vater von
uns auf seinem Sterbebette bewußten Abschied nahm und eins seiner letzten
Worte der Vers war: "An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd';
was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert".
Die beiden Geschwister meiner Elisabeth - Marga,
die 12 Jahre ältere Schwester, mit ihrem Mann, dem Geh. Justizrat Schultzky,
und Rudi mit seiner lieben Hertha, Tochter des Vizeadmirals
Ehrlich, - haben leider immer zu ferne von uns gewohnt, als daß
mein Verhältnis zu ihnen bis zur Innigkeit hätte gedeihen können. Geheimrat
Schultzkys wohnen in Aschersleben und kamen selten nach Dresden
und nach Leipzig. Das tut mir umsomehr leid, als Elisabeth mit dieser
ihrer älteren Schwester von jeher fast töchterlich verbunden ist.
Rudolf Ackermann hatte eine überaus aussichtsreiche
Laufbahn vor sich, damals als Kapitänleutnant in Kiel. Er hat im Weltkrieg
mehrere ausgezeichnete Stellungen verwaltet, zuletzt die deutschen und
österreichischen U-Boote im Mittelmeer von seiner Station Cattaro aus
kommandiert - und ist derjenige deutsche Offizier gewesen, der unter
den feindlichen Schiffen weg in einem U-Boot dem König von Spanien ein
Handschreiben des Kaisers zu überbringen hatte. Von dem schmerzlichen
Zusammenbruch seiner Hoffnungen erzähle ich wohl noch später.
Hertha Ackermann ist eine Mutter und Tante, wie
die jungen Glieder der Familie sie sich nur Wünschen können. Klug, klaren
Blickes, von einer eigenen Lebensweisheit; sie hat auf alle meine Kinder
trotz seltener Begegnung einen wertvollen Einfluß ausgeübt, und meine
Nanna verehrt in ihr eine wahrhafte ältere Freundin.
So lebten wir denn - ich darf sagen in frohem Behagen
unser Leben. Für mich war es köstlich, von der Liebe einer zahlreichen
Gemeinde mich getragen zu fühlen. Wir hatten keine Sorgen. Vater zahlte
an Elisabeth die Zinsen des mütterlichen Vermögens als Taschengeld aus,
und nach seinem Tode wurde ihr dann auch ihr Anteil an dem seinigen
gegeben. Es war ein schönes Leben.
Da - zuckte der Strahl des Weltkrieges hernieder! Die
schwüle Temperatur der Politik war wohl schon längst fühlbar gewesen;
aber von der plötzlichen Kriegsnotwendigkeit wurden wir doch alle überrascht.
Ich war ahnungslos mit meiner Nanna in den Urlaub nach Königsberg gefahren,
wo Immisch damals Professor war. Ich hatte einige Wochen in der
interessanten Stadt und in der eigenartigen ostpreußischen Welt verlebt
und hatte den Plan gehabt, meine liebe Mutter, die bald nach ihrem 83.
Geburtstage fröhlich und mutig nach Königsberg gefahren war, in die
Heimat zurückzugeleiten — da verkündigten die Extrablätter den Kriegsanfang.
Die Stadt war wie ein Ameisenhaufen. Jetzt mit Mutter
zu reisen, war unmöglich. Ich aber mußte selbstverständlich sobald als
möglich wieder in meiner Gemeinde sein. Ich fuhr mit Nanna am Abend
und denke noch jetzt mit Erzittern an den Augenblick, der uns das Grauen
des Krieges sofort fühlbar machte. Kurz ehe wir über die Weichselbrücke
fuhren, stellt sich ein schwer bewaffneter Soldat an der Tür unsres
Abteils auf, richtet der Reihe nach auf jeden von uns seinen Revolver
und ruft mit barscher Stimme: "wer sich jetzt rührt, ist des Todes".
Das war durch die naheliegende Möglichkeit veranlaßt, daß verkappte
Feinde die strategisch ungeheuer wichtige Brücke zu sprengen versuchen
würden, sodaß jede etwa aus den Fenstern geworfene Bombe hätte gewaltigen
Schaden bringen müssen. Wir wurden eben alle als Spione behandelt.
Meine liebe Mutter ist dann bald unser erstes großes Kriegsopfer
geworden. Immischs hatten eben in diesen Tagen eine Berufung nach Freiburg
bekommen, die sie mit Freuden annahmen. Aber so hörte die Gehaltszahlung
in Königsberg auf, und ihres Bleibens dort konnte nicht mehr lange sein.
Da kam die Wahrscheinlichkeit, daß Königsberg vom russischen General
Rennenkampf würde eingeschlossen werden. So mußten Immischs denn fliehen,
weil sie in ihrer bisherigen Heimat nichts mehr zu essen gehabt hätten.
Sie entschlossen sich zur eiligen Abreise, und unsere Mutter mußte jetzt
unter unendlich viel schwereren Bedingungen mitreisen, als sie noch
vor 14 Tagen gewesen waren. Dicht am Schlachtfeld von Tannenberg vorbei,
von dem die Verwundeten zurückströmten und alle Züge überfüllten, fuhren
die lieben Drei in 40stündiger Fahrt nach Berlin. Mutter mußte froh
sein, daß sie nur sitzen konnte; an jeder Haltestelle drohte die Ausleerung
des Zuges zu Gunsten der Verwundeten.
Von Berlin aus sind die Geschwister dann nach zweitägiger
Ruhe mit Mutter nach Dresden-Plauen gekommen, wo wir sie an ihrer Tür
empfingen. Aber wir sahen eine Sterbende kommen. Die vor 4 Monaten so
fröhlich und jugendlich abgereist war, schleppte sich jetzt zwischen
den Armen ihrer Kinder gesenkten Hauptes und mit zuckenden Mundwinkeln
durch das Gärtchen herein. Ihr Bett war ihr in ihrer Wohnstube bereitet,
und sie hat es bis zu ihrem lieben, stillen Sterbestündchen am 6. September
1914 nicht wieder verlassen. Wir waren manchmal um sie versammelt und
erbauten uns an ihrem kindlichen Gottvertrauen und an ihrer reichen
großen Mutterliebe, die je länger je mehr nur immer kindlichere Ausdrücke
fanden. Ein reiches, schönes, reines Leben war dahin. Am 9. September
haben wir die Mutter zum Vater auf den Trinitatisfriedhof gebettet.
Dort hatte sie selbst schon den Spruch hinsetzen lassen: "Gott ist Liebe"
- l. Joh.4, 9 - und welcher andere hätte so gut wie dieser unsere beiden
Elternherzen bezeichnet.
Von Immischs Kindern will ich gleich hier noch berichten.
Kläre war damals wohl in der Ausbildung im Kaiserin Augusta-Victoria
Haus begriffen. Sie ist jetzt Oberin eines Säuglingheimes und Pflegerinnen-Seminars
in Freiburg und so recht die Stütze ihrer Eltern. Heinz war am
Kriegsanfang eben Unterleutnant z. S. geworden, ein stattlicher Junge,
von ausgezeichneten Gaben! Er wurde schließlich als Leutnant z. S. in
Macedonien stationiert, und meine armen Geschwister haben den großen
Schmerz zu tragen, daß seine große Zukunftshoffnung nicht in der Schlacht
sondern durch einen Unglücksfall abgebrochen wurde. Er ist durch einen
Kopfsprung in seichtem Gewässer beim Baden verunglückt.
Ich hatte mich kaum mit den ganz neuen und doppelt bedeutenden
Aufgaben meines Pfarramts wieder eingerichtet, als unser Hans
aus Heidelberg ankam, der dort sein 3. Semester unter seines Patenonkels
Hans von Schuberts Augen froh und frei durchlebt hatte. Ihm war es selbstverständlich,
obgleich er ja bei seiner Musterung als untauglich befunden worden war,
daß er seine vaterländische Pflicht erfüllte. Er ist in Dresden von
Regiment zu Regiment gelaufen; überall Überfüllung wegen des begeisterten
Andrangs zu den Fahnen, überall Abweisung, bis er endlich nach etwa
einer Woche mir meldete: das 19. Fußartillerie-Bataillon hat mich angenommen!
Also die schwerste Form der Artillerie! Während der Ausbildung bin ich
einmal mit ihm über seinen Exerzierplatz gegangen, da standen Granaten
von halber Mannesgröße, und Hans sagte stolz: die tragen wir jetzt manchmal
zur Übung über den Platz hin und her. Da waren am Rande hohe Silberpappeln,
Hans zeigte zu den obersten Ästen und sagte: "dort oben habe ich schon
manchmal gesessen, wir lernen dort den beobachtungsdienst. So etwas
hatte ich meinem zarten, überschlanken Jungen wahrhaftig nicht zugetraut.
Es war wohl in der ersten Septemberhälfte, daß das nun
genügend ausgebildete Bataillon seinen Standort verließ, um in Belgien
mit eingesetzt zu werden. Auf dem Loschwitzer Marktplatze stellte die
Truppe. Ich stand an der Seite unter zahlreichem Publikum. Da hörte
ich neben mir eine Dame zu ihrem Manne sagen: "Sieh mal den zarten Jungen
dort in der 4. Reihe, ob der es wohl aushält?" Das war der Abschiedsruf,
mit dem ich meinen Jungen in den Krieg hinausziehen lassen mußte. -
Und er hat es doch ausgehalten durch Gottes Gnade und ist trotz seiner
Verwundung kräftiger wiedergekommen, als er ausgezogen war.
Ich stand denn am 1. Augustsonntage nach vorschnell abgebrochenem
Urlaub wieder auf meiner Kanzel in der Versöhnungskirche und predigte
einer aufgeregten Gemeinde über den Text: "Ist Gott für uns, wer mag
wider uns sein?" - Rom.8, 31 mit dem ernstgemeinten entweder : oder
- wir können siegen und doch unterliegen : wir können unterliegen und
doch siegen. Ich wurde nachher mehrmals gefragt, ob ich diesen Ton des
Zweifels wirklich hätte anschlagen dürfen; aber ich blieb damals klar,
daß nur so gesprochen werden durfte, und ich bin mir heute nur zu schmerzlich
bewußt, daß wir diesen Ton noch viel ernster hätten anschlagen müssen.
Unser Volk ist an seinem Gottesmangel gescheitert!
Eben in jenen Tagen zeigte sich ja auch, daß der Prediger
und "Pastor" vor allem mit den ungeheuren Fragen innerlich fertig werden
mußte, die ein solcher Krieg in einem entfesselte: Ist Krieg überhaupt
dem Christen erlaubt? Soll sich der Christ im Volke den etwa unchristlichen
Ordnungen, die von der Obrigkeit kommen, fügen? Ist dieser Krieg
erlaubt? Walten hier göttliche oder satanische Mächte? Wie findest Du
Dich in Deiner Seele zwischen den Plichten und Empfindungen der Liebe
und des Hasses hindurch? In bin in jener Woche wenigstens auf zwei Tage
in die Einsamkeit gegangen und in der Sächsischen Schweiz gewandert
und habe denkend und betend mit diesen Fragen gerungen. Zurückgekehrt
bin ich mit einer Bestimmtheit, die im Grunde doch als ein heiliges
Gott will es! erklang, und auf diesem Boden habe ich freudig meine Pflicht
zu tun versucht. Daß die Fragen immer wieder kamen, war nicht zu vermeiden.
Und so ist der Weltkrieg für sehr viele von uns eine hohe Schule geworden,
für die wir unserem Gott doch dankbar sein müssen, wenn wir auch das
Examen darin nur schlecht bestanden haben. Ganz deutlich war nur das
eine, daß wir mit allen Mitteln unserem Volke mußten klar zu machen
suchen, daß dieser Krieg eine Gottesfrage an uns war, und daß wir ihn
nur dann zu gewinnen, oder Segen aus ihm zu ziehen nur dann hoffen durften,
wenn wir fest dabei blieben: Gottes Wille soll geschehen! Ich glaube
und fürchte: daß unser Vaterland im ganzen nicht bei Gott geblieben
ist, das ist der Anfang geworden einer neuen Erziehungs- und Prüfungszeit
durch den ewigen Gott, der "sich nicht spotten läßt", welche uns und
unseren Kindern noch viele Schmerzen auferlegen wird. Möchten wir immer
nur uns an die Zuversicht halten, die der Ewige uns zusagt: "Der Herr
ist nun und nimmer nicht von seinem Volk geschieden!"
Aber nun galt es, einfach die tägliche, so ganz veränderte
praktische Pflicht zu tun. Die Arbeit der Frauenvereine wurde in Permanenz
erklärt. Fast täglich kamen die Frauen zusammen, um für die Kämpfer
sowohl wie für die zurückbleibenden Familien Wäsche und Lebensmittel
zu versorgen. Ich erinnere mich, einmal mit Staunen in unserem Vereinszimmer
im schönen Versöhnungsgemeindehaus den riesigen Stapel von Paketen gesehen
zu haben, der für die nächste Versendung fertig dalag. Auch meine Frau
verwendete ihr ganzes Taschengeld auf die Anfertigung von Feldpaketen,
deren jede Woche wohl 10 bis 20 von ihr hinausgingen. Ich muß hier meine
beiden Frauenvereins-Vorsitzenden in Dresden-Striesen ein Denkmal der
Dankbarkeit setzen. Bei uns war Frau Justizrat Petri durch liebevolle
und denkende Fürsorge eine außerordentlich wertvolle Kraft. Sie beherrschte
die große Aufgabe vollkommen und verstand es auch, wertvolle Mitarbeiterinnen
an sich zu binden. Wir haben es glücklicherweise nicht nötig gehabt,
mit äußerlichen Lockmitteln, mit jenen kitschigen Vereinsvergnügen und
Lotterien das Geld herbeizuziehen, was wir für die Liebestätigkeit brauchten.
Aber uns kam dabei ja natürlich auch die Hochstimmung des Kriegsanfanges
entgegen, die solche Dinge selbstverständlich verachtete.
Drüben in der von uns verlassenen Erlösergemeinde waltete
unsere überaus verehrte und geliebte Frau Höffer. Meine Frau
und ich denken heute noch mit dankbarer Freude an die Freundschaft dieser
nun auch längst heimgegangenen edlen Frau. Als Gattin eines erzgebirgischen
Fabrikbesitzers war sie das Muster einer Führerin zur sozialen Versöhnung
gewesen. In Dresden lebte sie als Witwe; aber mit einem sprühenden,
jugendlichen, humorvollen Geiste betätigte sie sich in ihrer Striesener
Gemeinde in einer Weise, die uns die höchste Bewunderung abnötigte.
Ich schätze es mir zur Ehre, daß sie mich ihrer achtungsvollen Freundschaft
würdigte. Sie hat oftmals ausgesprochen, daß sie mit "ihrem Pastor"
durch dick und dünn gehe, und ist mir, dem so viele Neueinrichtungs-Arbeiten
in großen Gemeinden oblagen, eine außerordentliche Stütze geworden,
ohne die ich vieles, was ich wünschen mußte, garnicht hätte erreichen
können. Meine Frau, der sie eine rührende Freundschaft widmete, und
ich legen die Palme der Dankbarkeit auf ihr Grab.
Ich habe in den späteren Kriegsjahren
in Freiburg mehrere wirkliche Fliegerangriffe und Bombenwürfe miterlebt.
Aber jetzt fiel eine Bombe in mein Leben, die nicht so blutig war, aber
mich und meine Angehörigen doch bis ins tiefste bewegte. Im Februar
1915 empfing ich einen Brief von Sr. Magnificenz: ich solle nicht erschrecken
- und er bitte um Entschuldigung, daß er ohne vorherige Anfrage mich
den Herren in evangelicis beauftragten Staatsministern zum
zweiten
Hofprediger
vorgeschlagen habe. Ich sollte also mein Gemeinde-Paradies
verlassen, ich sollte an so exponierter Stelle eine gänzlich veränderte
kirchliche Arbeit übernehmen!
Ich wankte geradezu in das Konsistorium, hielt mich am
Treppengeländer krampfhaft fest, ehe ich zu D. Dibelius hineinkam
und wagte, ihm zu sagen, ich wolle die notwendige Vorstellungspredigt
wohl gern halten, könne mich aber für den Fall, daß die Herren Minister
mich annähmen, noch nicht entgiltig entscheiden, ob ich dem Rufe Folge
leisten würde.
Man merkt, ich hoffte, daß meine Predigt da oben nicht
gefallen und man mich schließlich doch in meinem verborgenem Amte belassen
würde. D. Dibelius legte seine Hand auf meine und sagte lächelnd, eine
derartige Freiheit sei, ihm noch nicht vorgekommen, aber er könne sie
auch nicht gelten lassen. Wenn ich mich einmal zur Predigt entschlösse,
müßte ich dann eine auf mich fallende Wahl auch annehmen. Ich erfuhr
dabei, daß schon 5 Herren von den Ministern zurückgewiesen worden wären;
ich also als der sechste die Wahlkanzel bestieg.. Da habe ich mir gesagt,
daß ich mein ganzes Leben lang und mit immer festerer Überzeugung mich
den Führungen meines Gottes überlassen habe und auch dies nun ganz in
die Entscheidung Gottes stellen müsse. Im stillen fragte ich mich freilich,
ob nicht die Minister nun auch noch würden den sechsten abfallen lassen,
und ich hoffte dies wirklich.
Aber nein, ich wurde berufen. Da drüben, der Kanzel gegenüber,
im Excellenzenstübchen saßen 4 Minister und wer weiß wieviele Geheimräte
und alte Generäle, und ich predigte zu den Bänken hin, auf denen ich
selbst mit meinen Eltern und Verwandten so oft gesessen, und durfte
mich kaum für würdig halten, ein Nachfolger der Männer zu werden, die
ich damals von Herzen hatte verehren lernen: Rüling, Löber,
Kohlschütter, Ackermann und Meier. Wie ernst es
die Herren Staatsminister nahmen, das habe ich unmittelbar danach noch
erfahren. Unter meinen Zuhörern war der Minister des Inneren, Graf Ernst
von Vitzthum, nicht gewesen; er ließ durch den Oberhofprediger meine
Predigt herbeiziehen und gab sie mir selbst nach 14 Tagen, als ich meine
Antrittsbesuche bei den Ministern machte, mit den herzlichsten Worten
zurück; er hatte sie genau gelesen.
Wieder stand ich denn vor einer Gemeinde ganz anderer
Art, als ich sie bisher gehabt hatte. Im alten Statut der Dresdner Hofkirche
befand sich der Satz, daß den Hofpredigern die Seelsorge an allen "schriftsässigen"-
d. h. akademisch gebildeten - Familien der Stadt erlaubt sei. Wir bedurften
keines Dimissorials von Seiten der zuständigen Pfarrämter, wenn wir
in irgend einer dieser Familien um eine Amtshandlung gebeten wurden.
Aus den Kreisen der akademisch Gebildeten setzte sich
denn auch an jedem Sonntag unsere Gemeinde zusammen. Da waren die Bänke
der einzelnen Ministerien, der Justizbehörden, der Kreishauptmannschaften
und der Amtshauptmannschaften, da waren auf der Empore die gemieteten
Betstübchen, deren eines auch unsere Kohlschüttersche Familie von alters
her besaß, und alle diese Plätze waren stets gut besetzt.
Da stand an der ersten Säule, halb dem Altar und halb
der Kanzel zugewandt, seit mindestens 30 Jahren die hohe Gestalt des
alten Grafen Otto Vitzthum, des Vaters von unserem Minister und
Führers des Landesvereins für Innere Mission. (Beiläufig: den hat meine
liebe Frau wegen seines festen Standortes in der Kinderzeit für den
1. Kirchendiener gehalten.) Mir hat Graf Otto Vitzthum mein Amt in ganz
besonderem Sinne zur Freude gemacht. Er wurde mein Beichtkind, hat mich
oft in meiner Wohnung besucht und war wohl 4mal im Jahre mein regelmäßiger
Abendmahlsgast. In das Gemüt dieses edlen Mannes geschaut zu haben,
gehört zu den Heiligtümern meiner Erinnerung.
Ich muß überhaupt hier ein Zeugnis ablegen; in unserer
Hofkirchengemeinde ist mir bewußt geworden, wer tatsächlich die Führung
im Vaterlande ausüben soll und darf: die hohen Staatsbeamten des alten
Regimes waren doch zum großen Teil Menschen von einem ganz anderen Ausmaß,
als wir ihnen wohl heute unter den Führern unseres Volkes begegnen.
Höchste Bildung, höchste Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, ein unbedingtes
Bewußtsein, den Mitmenschen dienen zu wollen und dadurch auch Gott recht
zu dienen, ein ernstes Streben, die große und wichtige Berufsarbeit
in der Woche am Sonntag durch ernsten Gottesdienst zu heiligen, - das
war diesen Männern eigen. Vor Menschen mit erhobenem Haupte, vor Gott
in Demut zu stehen, das war ihre Lebensregel. Enger Sinn hat solche
Männer oft verkleinert, nach meiner Erfahrung ganz unverdientermassen.
Unser Vaterland wird wieder aufwärtsgehen und glücklich zu preisen sein,
erst wenn solche Gesinnung bei uns wieder die Führung erlangt.
Mein Hofpredigeramt forderte von mir nicht meine ganze
Zeit. Seelsorgerlich war ich natürlich wenig in Anspruch genommen, da
muß man ja erst mit der Gemeinde zusammenwachsen, und als dies einigermaßen
geschehen war, bin ich schon wieder abgerufen worden. Meine Hauptarbeit
war eine gründliche Vorbereitung für die Predigt, die mir etwa 14tägig
oblag -, und ich kann es nicht leugnen, daß es mir heute eine glückliche
Erinnerung ist, wie D. Dibelius nach einer Predigt über die Auferweckung
des Lazarus einmal in die Sakristei kam, mit Tränen in den Augen meine
beiden Hände ergriff und mir für die Predigt dankte. Einige Grabreden,
- einige Hochzeiten galt's zu feiern und die dabei auftretenden Familienverbindungen
weiter zu pflegen. Ein besondre Aufgabe waren die Bibelstunden, die
wir beiden Hofprediger abwechselnd in der Sakristei gehalten haben,
und ebenso auch die Bibelstunden, zu denen Frau Generaloberst d'Elsa
in ihre Dienstwohnung in der Feldgasse viele adelige Damen zusammenrief.
In diesem Kreise, wenn ich auch nicht ohne Zagen hinging, habe ich oft
große Erhebung gefunden. Es gibt nichts schöneres als eine lebendige,
gleicherweise geistig wie geistlich hochstehende Christengemeinde.
Ich mußte nicht nur freie Zeit ausfüllen, sondern auch
die gegen Striesen zurückbleibende Besoldung erhöhen, und es war mir
deshalb sehr willkommen,daß ich nach dem Herkommen als Hofprediger zugleich
auch das Amt als außerordentliches Mitglied des Evangelisch-lutherischen
Landeskonsistoriums mit dem Titel eines Konsistorialrats erhielt. Als
solcher habe ich nun zunächst um Audienz bei seiner Majestät nachsuchen
müssen und eines Tages im Kreise von 8 Herren vor ihm im königlichen
Schlosse gestanden.
Unser König Friedrich August! Ich war schon im
Lockwitzer Schlosse einmal sein Gegenüber bei Tische gewesen und Zeuge
seiner überaus populären Gesprächsführung geworden. Aber ich lache darüber
nicht. Unser Land hat durch die Verbindung von Gemütlichkeit und königlicher
Würde einen Ausgleichsfaktor in der immer schärfer werdenden Zerrissenheit
der Stände besessen, der heute, glaube ich, kaum von irgend einer andren
Stelle ersetzt wird. Der König, als er an mich kam, sagte: "Na, Sie
sollen so schön gepredigt haben." Ich antwortete darauf: "Es beglückt
mich, aus Euer Majestät Munde diese Beurteilung zu hören." Und er: "Nu
ja, der Beck und der Nagel, (Kultus- und Justizminister)
die haben's mir alle beide gesagt."
Minister Nagel hat mir noch oft sehr freundliche
Worte über meine Predigten und auch über meinen liturgischen Gesang
gesprochen, was mich natürlich erfreut hat. Bei dem Kultusminister Beck
bin ich ein wenig ins Fettnäpfchen getreten mit einer Schwäche, die
leider in meinem Wesen liegt, und die ich trotz guter Vorsätze nie ganz
habe überwinden können. Es geschieht mir manchmal, daß ich Dinge, die
auf der Hand liegen, nicht sehe. So war es mit dem 200jährigen Geburtstag
Gellerts. An diesem Erinnerungstage hatte ich unglücklicherweise die
Predigt, die gewiß sehr schön war, aber mit keinem Atemzuge des frommen
Liederdichters gedachte. Ich war kaum von der Kanzel herunter, als mir
das schon bewußt wurde. Und ein paar Tage darauf ließ mir der Kultusminister
durch den Oberhofprediger sein Mißfallen aussprechen. Er habe alle Gellertschen
Lieder vorher im Gesangbuch gelesen und sich gefreut, das eine oder
andre davon zu singen; mir hätte dies Übersehen nicht passieren dürfen.
Im Konsistorium wurde ich von dem von mir überaus verehrten
Präsidenten Dr. D. Franz Böhme eingewiesen. Das war auch ein
Beamter nach dem Herzen Gottes, von tiefem Ernste und dadurch von einer
persönlichen Würde, vor welcher wir alle uns gebeugt haben. Man sah
ihm den heiligen Willen zum Gottesdienst in seiner Berufsarbeit täglich
an und wurde durch sein Beispiel zu eigener Höchstanspannung getrieben.
Selbstverständlich hatte ich im Konsistorium keine laufenden Referate
und den regelmäßigen Dienstags- und Freitagssitzungen nur ausnahmsweise
beizuwohnen. Hier und da bestellte der Präsident bei den außerordentlichen
Räten ein Gutachten in einer Sonderfrage, das man dann in der Sitzung
zu vertreten hatte.
In einigen Disciplinarfällen war ich Beisitzer, und es
war mir in Nachfolge meines lieben Onkels Kühn die geistliche Inspektion
der Gerichtsgefängnisse übertragen. In diesem Amte bin ich im Lande
umhergereist - 1. Klasse natürlich - und habe das Gefängnis in der Moltkestraße
in Leipzig, die Gefängnisse von Zwickau und Bautzen u.a. besucht. So
gab es denn auch Veranlassung, juristische Fragen in den Kreis theoretischer
Betrachtung zu ziehen. Wenn ich als erster mit dem Gefängnisgeistlichen
in die Gefängniskapelle eingetreten war, und dann nach lautem Schlüsselrasseln
die Korridore verschiedenen Stockwerke sich auftaten und in Abständen
die Gefangenen in die Kirche traten, hinter jedem 5. Manne etwa ein
Aufseher, und jeder einzelne in ein Schilderhaus gesetzt, das nur gegen
Altar und Kanzel hin offen war, - dann faßte der Menschheit Jammer einen
an, und man fühlte sich zu der Frage getrieben, ob diese Form der Gefängnisstrafen
die gottgewollte sein könne, die solche unglücklichen Menschen wieder
auf guten und glücklichen Weg zu führen imstande sei. Besprechung der
Predigt und der seelsorgerlichen Tagebücher mit dem Gefängnisgeistlichen
und danach ein eingehender Bericht im Konsistorium war hier dann meine
Aufgabe.
Aber die Hauptarbeit des außerordentlichen Konsistorialrats
bestand in seinem Auftrag, an den Prüfungen pro ministerio teilzunehmen.
Und es geschah mir wegen der vielen Sonderprüfungen mit Kriegsteilnehmern,
daß ich in der kurzen Zeit meines Amtes wohl mindestens 8mal mit geprüft
habe. Seltsam die Empfindung beim 1. Male, daß ich mich mit meinem Onkel
Kühn zusammen auf dieselbe Seite des Prüfungstisches setzte, an dem
ich vor 25 Jahren als sein Prüfling ihm gegenüber gesessen hatte. Die
Examinierenden saßen nach der Anciennität, und so nahm denn der Neuling
bescheiden den letzten Platz ein. Das war aber in der Regel auch das
Richtige wegen des Prüfungsfaches. Die praktische Theologie, die ich
als Anfänger zunächst fast regelmäßig übernahm, rangiert ja am Ende
der einzelnen theologischen Disciplinen. Ich habe aber auch 2mal in
der Kirchengeschichte und 1mal im Neuen Testament geprüft. Und wenn
mir ein längeres Leben im Konsistorium beschieden gewesen wäre, so hätte
ich mich auch noch nach Onkel Kühns Abgang an das Hebräisch gewagt;
ich hatte es schon angemeldet. So mußte denn viel Energie und Zeit darauf
verwendet werden, daß ich mich in jenen Disciplinen wieder fest in den
wissenschaftlichen Sattel setzte. Eine Mühe, die mich aber tatsächlich
verjüngte und mir für meine weiteren Amtsjahre sicher recht gut bekommen
ist.
Nicht ohne Rührung verweile ich auch bei der Erinnerung,
wieviel doch auch für das Glück oder Unglück der Examinanden auf die
Art und Weise des Prüfenden ankam. Einer meiner älteren Kollegen prüfte
in der Kirchengeschichte einmal so, daß er nach dem Namen des gegenwärtigen
Papstes fragte - Benedikt XIV - und nun unnachsichtlich alle Benedikte
durchging, die auf dem heiligen Stuhl gesessen haben, und von denen
weder die Kandidaten noch die Konsistorialräte irgend etwas wußten;
nur der brave Prüfende hatte natürlich sich befriedigend vorbereitet.
Mit solcher Art stürzt man die jungen Männer in arge Verlegenheit.
Es gehört zum Geschick und zur Freundlichkeit des Examinators, daß er
ein Thema wählt, welches den Prüflingen bekannt sein muß und auch bekannt
ist. Und weiter hat es mir Freude gemacht, daß ich bald jene freundliche
Erscheinung entdeckte, die ich das Aufleuchten der Signallaterne nannte.
Der Examinator merkt, wenn er die Reihe der Kandidaten betrachtet, bei
dieser oder jener Frage ganz deutlich: hier sitzt etwas und dort sitzt
nichts. Er sollte auf dieses Aufblitzen immer freundlich eingehen.
Harte Arbeitswochen wurden uns dann zuteil, wenn eine
große Zahl sich zur Prüfung eingefunden hatte, wir mußten sämtliche
Prüfungsarbeiten lesen, nicht nur die, die in unsrer Disciplin geschrieben
waren. So liefen einmal 96 Arbeiten von 10 - 20 Seiten von Haus zu Haus,
und in wenigen Tagen mußten sie mit unsrer Meinungsäußerung weitergegeben
werden. Das war ohne Anstrengung durch Tag und Nacht nicht möglich.
In solchen Wochen war an irgend eine andere Arbeit natürlich nicht zu
denken.
Aber trotzdem - zu normalen Zeiten war ich nicht überlastet
und durfte ruhig dem vertrauensvollen Angebote folgen, das mir der Landesverband
für christlichen Frauendienst durch seine beiden Vorsitzenden, Frau
verw. Oberst Marie von Carlowitz und Frau verw. Kreishauptmann
von Welck, sehr bald nach meinem Antritt entgegenbrachte. Ich
sollte Schriftführer des Verbandes werden und dafür jährlich 1000 Mark
erhalten. Die Aufgabe bestad in der Bearbeitung sämtlicher grundsätzlichen
Fragen, die an den Verband herantraten und in den Vorstandssitzungen
vorzutragen waren, in der schriftlichen Erledigung der Beschlüsse, in
Vorträgen, die hier und da im Lande gehalten werden mußte, in der Vertretung
des Verstandes bei Festfeiern der örtlichen Verbände und - was fast
das Schönste war - in Religionsstunden, die in der sozialen Schule für
christlichen Frauendienst zu halten waren. Mit den 2 Klassen, die ich
da regelmäßig mit unterrichtet habe - es waren wohl etwa je 15 junge
Damen - hat mich bald das herzlichste Band verbunden, das sich nur denken
läßt, und heute noch erfreue ich mich zahlreicher Grüße von den damaligen
Schülerinnen, die nun längst Berufsarbeiterinnen oder auch junge glückliche
Frauen sind. Den beiden Vorsitzenden Damen bewahre ich ebenfalls dankbarste
freundschaftliche Verehrung.
O was ist es doch um das heilige Feuer in einem gläubigen
Christenherzen, das arbeiten und wirken muß, ganz gleich welcher irdische
Lohn dabei herauskommt! Durch böse Gerüchte und gute Gerüchte hat Frau
Marie von Carlowitz auf dem Posten gestanden; an ihrer Freudigkeit und
ihrem reinen Gewissen, dasimmer den Ausschlag gab, habe ich mich oft
erbaut.
So war ich denn ein glücklicher Mann in meiner dreifachen
und nun auch vollkommen ausgefüllten Amtsarbeit. (Frau von Carlowitz
hat manchmal telefoniert, ob die Examenswoche nur nicht bald zu Ende
sei oder so etwas.) In unserer schönen Wohnung, Blasewitzer Straße 39
II, ließ sich's gut leben, und von
unserem Hans kamen aus dem Felde immer wieder beruhigende, ja manchmal
begeisternde Nachrichten. Das Leben war ernst, aber schön.
Da trat eines Tages Herr Amtsgerichtsrat
Dr. Goetz bei mir ein und brachte fast schüchtern seine Frage
vor:
In
Leipzig in der Petersgemeinde
war man auf mich aufmerksam geworden - wohl hauptsächlich
durch eine freundschaftliche Verbindung, die zwischen eben jenem Doktor
Goetz und dem damaligen Kirchenvorstandsvorsitzenden, Oberjustizrat
Kranichfeld, bestand -, und ließ mir nun die Frage vorlegen,
ob ich in Nachfolge des Geheimen Kirchenrats D. Hartung ihr Pfarrer
werden wollte.
Das brachte mein und unser aller Blut in gewaltige Aufregung.
Wieder ins praktische Pfarramt, aus meiner so geliebten Vaterstadt Dresden
fort nach Leipzig mit seiner unschönen Umgebung und mit seiner berüchtigten
Unkirchlichkeit - es waren wohl Fragen, die das Gemüt des 52jährigen
bedrücken konnten. Die Verpflanzung von Mutter und Kindern aus ihren
Freundeskreisen war auch keine Kleinigkeit. Ich glaube, ich hätte nicht
Ja gesagt, wenn ich nicht seit langer Zeit mich ganz dem Grundsatz aufgeschlossen
hätte: "Wie Gott mich führt, so will ich gehn ohn alles Eigenwählen."
Und so bin ich denn nach 14 schweren Tagen der Selbstprüfung auf das
Angebot eingegangen. Mein teurer Präsident Böhme und D. Dibelius
waren ein wenig überrascht davon, obgleich in Oberkirchenrat Kretzschmar,
dessen Nachfolger ich an der Hofkirche geworden war, schon ein Präcedenzfall
vorlag. Sie ließen mich aber ziehen; es war ihnen selbstverständlich,
daß ich Hartungs Nachfolge auch in der Superintendentur von Leipzig-Land
zu übernehmen hatte.
|
Die Albertstraße 38 heißt heute
Riemannstraße 38 und ist immer noch Pfarrbüro. Das
Bild wurde 2007 von meiner Kusine Karin Zahn aufgenommen. /SZ
|
Und so wurden denn am 13. Oktober 1916 die Zelte in Dresden
abgebrochen und in Leipzig aufgeschlagen - Albertstraße 38 I.
Am 15. Oktober habe ich in der Peterskirche meine Antrittspredigt gehalten,
Matth.16, 13-20. "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen
meine Gemeinde!" Der Altarraum war von zahlreichen Vertretern der Landgeistlichkeit
sowie der städtischen Gemeinden gefüllt. Mein bisheriger Kollege, Geheimrat
von Zimmermann, wies mich ein, und ich war nun der Führer einer
wertvollen Theologenschar, die in den Pfarrhäusern rings um Leipzig
her wohnt und wirkt, und 33 000 Seelen einer Großstadtgemeinde waren
wieder auf meine arme Seele gelegt.
Von den mir damit wieder nahegebrachten Problemen denn
das erste Wort. Die Petersgemeinde in Leipzig unterscheidet sich von
meiner Dresdner Versöhnungsgemeinde insofern, als jene eine vorstädtische
und diese eine innerstädtische Gemeinde ist. Die Bedeutung dieses Unterschiedes
begegnet dem kirchlichen Arbeiter immer aufs neue. Auch hier in Leipzig
haben die Vorstädte von ihrem früheren Dorfcharakter soviel behalten,
daß sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der gegenseitigen Verpflichtung
überall mit hinbringen. Trotz ihrer Zehntausende bleiben sie deshalb
übersichtlich und in ihren einzelnen Organisationen für die Kirche erreichbar.
Im Inneren der Stadt ist eine große Kirchgemeinde so gut wie keine Gemeinde
mehr. Kulturell und wirtschaftlich läuft alles durcheinander. Man, sucht
seine Erholung und Anregung an den großen Kulturstätten - wie im Gewandhaus,
Museum und in den Vortragssälen - und versorgt sich wirtschaftlich in
der Markthalle und in den Kaufhäusern. Auch wenn man etwas von der Kirche
haben will, sucht man sich die Kirche aus und den Prediger, der einem
gerade zusagt, und weiß garnichts davon, zu welcher Kirche man eigentlich
gehört. Es war uns Petersgeistlichen doch sehr interessant, daß Herr
Landgerichtspräsident von Weber, als er von Plauen nach Leipzig
übersiedelte, seinen Sohn zur Konfirmation ohne weiteres in der Thomaskirche
anmeldete, und, als er uns kennen lernte, sich ganz verwundert damit
entschuldigte, er habe in seiner bisherigen Heimat immer nur gehört,
daß man in Leipzig in die Thomaskirche gehe. Jetzt ist er mit seiner
Familie eins unserer treuesten Gemeindeglieder. Der Pfarrer, der seine
Aufgabe grundsätzlich zu erfassen sucht, muß es sich bei diesen Verhältnissen
angelegen sein lassen, Gemeindegefühl zu wecken. Darauf habe ich denn
meine ganze Aufmerksamkeit gerichtet.
Unter den mannigfaltigen Interessen, welche die Kirche
neben ihrer Hauptaufgabe, der Verkündigung des göttlichen Wortes und
der Verwaltung der Sakramente, zu verfolgen hat, (Vereine für Liebestätigkeit,
Evangelischer Bund, Sittlichkeitsfragen usw. usw.) ist es von zentraler
Bedeutung, daß sich eine Kerngemeinde bildet, die alle jene Aufgaben
als ihr befohlene Arbeiten erkennt und ausübt. Ich halte es deshalb
für gegeben, daß ein Gemeindeverein alle treuen und bewußten Mitglieder
der Kirchgemeinde sammelt. Über die Frage wegen des Unterschieds der
Geschlechter bin ich dabei noch nicht hinweggekommen. Ich habe zwei
Mittelpunkte der Gemeinde im Auge, den Männer- und den Frauenverband,
bin mir aber bewußt, daß diese Trennung irgendwie überwunden werden
möchte, und gehe darauf aus, daß dieses durch häufigere gemeinsame Veranstaltungen
der beiden Verbände erreicht werden kann. Die Mitglieder dieser Verbände,
d.h. den eigentlichen Gemeindekern, müssen wir Pfarrer durch Sammlung
der Gläubigen in den Bibelstunden zu begründen suchen. Und wir haben
darin doch recht erfreuliche Erfolge, wenn auch der großen Einwohnerzahl
der Petersgemeinde gegenüber die wirklich gläubige Seelenzahl immerhin
eine kleine bleibt.
Aus der Bibelstunde heraus wächst uns aber noch eine andere
Macht zu, welcher in Wirklichkeit der allerwertvollste Bestandteil der
Gemeinde ist - unsere liebe Gesamthelferschaft. Wir werben von Zeit
zu Zeit, hauptsächlich in den Bibelstunden, um Beitritt zu den 5 Helferverbänden
der Einzelbezirke und haben je länger je mehr die Freude gehabt, daß
diese sich auch durch sich selbst erhalten und ergänzen. Es haben sich
für alle Bezirke lebendige Christen und Christinnen gefunden, welche
als Oberhelferinnen uns Geistlichen Dienste leisten, für die kein Dank
groß genug ist. Unter ihnen sind zwei oder drei, von welchen ich tatsächlich
annehmen darf, daß sie den gesamten Bezirk ihrer Helferschaft genau
kennen. Sie wissen, wer in jeder Wohnung haust und mit was für einem
Geiste man es in den einzelnen Familien zu tun bekommt, und sind deshalb
imstande, den einzelnen Helfern wertvolle Winke und Aufträge zu geben
und die Pastoren immer rechtzeitig zu verständigen, wenn eine seelsorgerliche
Leistung unerläßlich ist. Die Helfer in ihrer großen Zahl ziehen mit
dem Gemeindeblatte, unserem "Petersboten", mit vielen Ankündigungen
und Einladungen durch die Häuser und sind wohl an mancher Stelle schon
Hausfreunde geworden.
Durch diese Einrichtung wird ein Gemeindegefühl hervorgerufen,
das sonst auf keine Weise erreichbar schiene. Das Gemeinschaftsgefühl
untereinander, das ja die Grundlage der gesamten Arbeit bietet, pflegen
wir durch monatliche Bezirkshelferversammlumgen und vierteljährlich
einmal in einer Gesamt-Helferversammlung, die uns nicht nur verbindet
und für Einzelfragen interessiert, sondern für die Gesamtaufgabe immer
aufs neue begeistert. Ich bin sehr glücklich, daß dieser Helferdienst
bei uns so gut gedeiht, und nenne hier einen Namen, den ich neben seinen
vielen Verdiensten um unsere Gemeinde auch gerade in diesem Punkte ganz
besonders hochzustellen habe - unsere liebe Freundin, Fräulein Marianne
Dambacher, die mit ihrer feinen Gabe, andere Menschenseelen zu erwärmen,
so recht die innerste Triebkraft unserer Helferarbeit ist.
An dieser Stelle muß ich nun leider bekennen, daß es mir
je länger je schwerer geworden ist, einen eigenen seelsorgerlichen Bezirk
zu verwalten. Die gesamte Arbeit der Gemeindeverwaltung und noch mehr
die Belastung mit den Ephoralgeschäften traf so oft mit augenblicklichen
Forderungen der Seelsorge zusammen, daß dieses wichtigste von jenem
andern, doch auch unerläßlichen nur allzusehr verdrängt wurde. Nach
ungefähr 10jährigem Dienste habe ich deshalb mit Schmerzen, aber doch
im Gewissen befreit meinen Seelsorgebezirk an die Kollegen und in der
Hauptsache an meinen Freund Rietschel abgetreten, der nun 2 Helferschaften
betreut. Aber ich lasse es mir angelegen sein, auch ohne diesen direkten
Auftrag sowohl mit den Helfern wie mit möglichst vielen Gemeindegliedern
in persönlichem Verkehr zu bleiben. Es liegt doch auch in den oft sehr
zahlreichen Verwaltungsgeschäften eines 1. Pfarrers eine vielfältige
Gelegenheit, seelsorgerlich auf die Gemeinde und einzelne darin zu wirken.
Deshalb erkläre ich mich ernstlich gegen den §10,3 unserer
Kirchgemeindeordnung, wonach der stellvertretende Vorsitzende den ständigen
Vorsitz in allen weltlichen Angelegenheiten der Gemeinde übernehmen
darf. In einer Gemeinde meiner Ephorie hat der Pfarrer von dieser Bestimmung
Gebrauch gemacht, und ich habe oft genug beobachtet, daß er damit in
unerwarteter Weise aus dem Mittelpunkt seiner Gemeinde verdrängt worden
ist. Ich versuche doch an allen Erscheinungen des Gemeindelebens Anteil
zu nehmen und behalte mir ein für allemal auch Urteil und Bestimmung
für alle grundsätzlich wichtigen Fälle vor. Dies ist sehr wohl vereinbar
mit dem von mir freudig anerkannten anderen Grundsatze, meinen Mitarbeitern
in der Kirchgemeinde möglichste persönliche Freiheit zu gewähren, und
das dazu nötige Vertrauen immer wieder zu beweisen.
Unter den grundlegenden Arbeiten der Gemeindebildung dürfen
natürlich die Jugendvereine nicht vergessen werden. Die sind meinen
Kollegen - Pfarrer Richter für die Jungmännersache gemeinsam
mit unserem Jugendinspektor, Herrn Paul, und Pfarrer Walther
für die Jungmädchensache gemeinsam mit Fräulein Lotte Richter
- übergeben. In diesen Leitungsfragen geht es selbstverständlich eben
nicht ohne Vertrauen, und ich bin glücklich, daß ich eine Enttäuschung
so gut wie niemals erfahren habe. Die Dinge würden zweifellos schlechter
gehen, wenn ich überall hineinredete. Nur müssen alle einzelnen Leiter
und Vereine immer wieder fühlen, das der Pfarramtsleiter ein Herz für
ihre Sache hat.
Jetzt treibt es mich noch zu einer wichtigen grundsätzlichen
Betrachtung. Wir haben in der Gegenwart es mit einer gewissen Meinungsverschiedenheit
zu tun, welche man etwa mit dem Satze bezeichnen kann: Ist die kirchliche
Arbeit Innere Mission oder etwas ganz anderes? In dieser Frage liegt
ein Doppeltes. Vor kurzem hörte ich von einem Geistlichen die bitter
vorgebrachte Anklage: "Wir Pastoren sollen jetzt ja garnicht mehr Hirten
sondern nur Hirtenhunde sein." Die Meinung war: eine Gemeinde ist nach
jenem Begriffe von der Inneren Mission garnichts andres als ein Konglomerat
von kirchlichen Vereinen, in denen die lebendigen Christen im Unterschied
von den toten, oder die gläubigen im Unterschied von den ungläubigen
sich sammeln, und die Aufgabe des Pfarrers besteht nur darin, aus der
großen "verlornen Masse" einzelne für die kleine lebendige Gemeinde
zu sammeln und bei dieser festzuhalten.
Ich glaube nun allerdings, daß es ohne Vereinsbildung
nicht abgeht, weil in der unübersichtlichen Großstadtgemeinde gläubiges
Leben überhaupt nirgend anders zu erkennen ist als in solchen, auf dieser
Grundlage bewußt zusammenkommenden Vereinen. Aber eine ernste Mahnung
sollen alle wahren Christen und besonders die Pfarrer doch aus jener
Klage vernehmen: daß man über dem "lebendigen" Gemeindekern die anderen
nicht verachten und vernachlässigen darf, welche aus irgend einem Grunde
von diesem Kern sich fernhalten. Es liegt eine, kleine Wahrheit darin,
daß Vereine zwar zusammenschließen, aber doch auch trennen und zerstreuen.
Der andere Gedanke, der mit der engen Verbindung von Gemeinde
und Innerer Mission vollzogen wird, ist der, als handele sich's beim
christlichen Leben ganz eigentlich um Liebestätigkeit. Eine Gemeinde
soll wissen, daß sie im Glauben und um des Glaubens willen zusammenkommt,
und daß es bei der Liebestätigkeit sich immer nur um die Glaubenswirkung
handelt, welche Liebe heißt.
Mindestens in demselben Maße wie die Kirchgemeinde beschäftigt
einen Superintendenten doch auch sein Kirchenbezirk. Als mir das neue
Amt so völlig unvermutet und überraschend angetragen wurde, fielen mir
die Worte meines Schwiegervaters Ackermann ein: "es wäre eine Freude,
wenn Du einmal Superintendent werden könntest. Das Ephoralamt ist das
schönste von allen Amtern!" Jetzt nach 11jähriger Ephoralarbeit unterschreibe
ich dieses Urteil vollkommen. Es handelt sich bei diesem Amte um einen
Auftrag, der zugleich von den höchsten Ideen und der wärmsten Liebe
durchdrungen ist, wie das sonst wohl nirgends vorkommt. Ein Superintendent
soll der Leiter nicht nur der äußerlichen kirchlichen Verhältnisse,
sondern eben erst recht auch der Pastorenseelen in einem verhältnismäßig
großen Kreise sein. Um mich her leben 48 Geistliche, die viel von mir
erwarten, und 125 000 Seelen, von denen doch ein gewisser Prozentsatz
sich geistlich von niemandem so erreichen und beeinflussen läßt wie
von dem Ephorus, der freilich solche Einflüsse nur recht selten auszuüben
vermag. Für die Theologie seiner Zeit muß der Superintendent ein offenes
Ohr haben, damit er das Wichtige den Geistlichen auch wichtig mache.
Im Glauben muß er ihnen allen vorangehen, in der Verwaltung muß er ihre
Achtung fesseln, damit alles "ordentlich zugehe in der Gemeinde". Den
Eifer und Fleiß gleicherweise wie die Freudigkeit muß er hüten und seinen
Geistlichen vorleben. Ich wage zu sagen - und bin mir dabei meines Mangels
schmerzlich bewußt: er muß die meisten und die schwersten Steine freudig
tragen auf's Baugerüst. Wer mich lieb hat, der mag es ermessen, wie
oft mich diese Dinge in meiner Stube auf die Kniee zwingen, aber wie
sie mich dann auch auf Adlersflügeln wundervoll in die Höhe tragen.
Die erste Aufgabe, die zu erledigen war, sind die Besuche
mit meiner Frau in den 48 Pfarrhäusern gewesen, von denen wohl 6 mit
einem anderen in derselben Gemeinde zusammen stehen, während 36 in ihren
Gemeinden den alleinigen Mittelpunkt bilden. Wie sehr verschiedene Geister
und Seelen hat man da kennen gelernt! Es ist doch eben etwas anderes,
ob man als neuer Kollege oder als Vorgesetzter eintritt; der Gesichtswinkel
weitet sich im letzteren Falle und die Lupe wird schärfer. Da sind die
reichgebildeten und eifrigen Arbeiter, da sind die aus kleinem Hause
hergekommenen, da sind die wirklich frommen und aus tiefstem Herzen
ihrem Herrn dienenden Seelen und da sind auch träge und enge Geister,
die nicht das Zeug haben, die Bedeutung ihres Amtes - die auch in einer
toten und kleinen Gemeinde noch groß ist - überhaupt zu verstehen. Wir
leben heute bekanntlich in der Zeit der Diastase, der immer bewußter
hervortretenden Gegensätzlichkeit in der Theologie. Schleiermacher und
sein Kulturchristentum wird von der einen Seite noch immer warm verehrt,
aber von der anderen - täglich zunehmenden - streng verworfen. Gemeinschaftschristentum
und warmer aber enger Pietismus bäumen sich auf gegen die Orthodoxie
oder gegen die strengkirchliche Mentalität. Hochkirchentum und liturgische
Bewegung erfüllt die Luft, und alle die verschiedenen Richtungen finden
in einem Kirchenbezirke ihre mehr oder weniger kräftigen Vertreter,
hinter denen dann freilich auch eine Reihe von Kollegen steht, deren
geistiges und geistliches Leben offenbar zu wünschen übrig läßt.
Die Richtungsfrage hat mich in meinem Verkehr mit den
Geistlichen eigentlich kalt gelassen. Ich stehe auf dem Standpunkt von
Apostelgeschichte 10, 35: " in allerlei Volk, wer ihn fürchtet und recht
tut, der ist Gott angenehm". Die Worte liberal und negativ oder positiv
und orthodox werden in der Beurteilung von Geistlichen oder theologischen
Professoren meines Erachtens oft geradezu unverantwortlich leichtfertig
angewendet. Theologen können von ihrem Gewissen und nach dem schriftmäßigen
Verständnis der christlichen Wahrhaftigkeit und Freiheit sich innerlich
zur Kritik an hergebrachten Glaubensanschauungen verpflichtet fühlen.
Um solche Kritik handelt es sich und um die Negation von menschlichen
Aufstellungen und nicht um die Verneinung von Offenbarungsworten oder
von heiliger Geschichte. Ich glaube nicht, in meinem persönlichen Verkehr
solchen Pastoren begegnet zu sein, welche Heilstatsachen oder sichere
Worte Jesu geleugnet hätten, und nur solchen gegenüber wäre eine Verurteilung
von kirchlicher Seite aus doch berechtigt. Zu einer vollkommen freien
Beurteilung der Heilstatsachen und des Offenbarungswortes, ich meine
zur gewissenhaften Unabhängigkeit von allen Menschen, welche vor uns
auf dem gleichen Gebiete gearbeitet haben, sind wir Theologen einfach
verpflichtet, und die persönliche Ablehnung eines Andersdenkenden, als
habe er den Glauben verleugnet, wenn er nur eine andere Theologie besitzt,
ist einfach, ein Unrecht. Ich bitte Gott um den klaren Blick, der mich
die Gewissenhaftigkeit der mir zugeordneten Geistlichen erkennen läßt,
und suche dem oben ausgesprochenem Maßstabe gemäß zu allen meinen geistlichen
Brüdern das rechte Verhältnis zu gewinnen. "Daß nur Christus verkündigt
werde auf allerlei Weise!" Phil.1, 18.
Mit Namensnennungen aus dem Kreise meiner lieben Bezirksgeistlichen
will ich mich ganz zurückhalten, nur einem - der nicht mehr lebt - will
ich einen Kranz der Dankbarkeit und höchsten Achtung auf sein Grab legen.
Georg Liebster ist in diesen Blättern ja schon genannt worden.
Wir sind in unserer ersten Amtszeit ein Stück Wegs zusammen gewandert;
ich habe beschrieben, wie unser Weg sich gabelte. Hier fand ich nun
Liebster als Pfarrer von Thekla wieder und ganz ausgereift zu einer
höchst eigenartigen Persönlichkeit, die von links und rechts mit widersprechendster
Einschätzung umstritten wurde. Liebster war eine - man darf wohl sagen
über die Grenzen Deutschlands hinaus beachtete Persönlichkeit geworden.
Auf dem ev.-sozialen Kongreß hatte er eine Rolle gespielt, in sehr verschiedenen
Zeitungen und in mannigfachen Büchern hatte er seine Meinung bekanntgegeben
-, ein mannhafter und überaus lebhafter Kämpfer für das Recht der Proletarier.
Man darf nicht sagen, daß Liebsters Gedankengang sich ganz in das Gebiet
der sozialen Gesetzgebung oder gar der sozialen Fürsorge verloren hätte.
Er wußte, daß auch dem vom Marxismus vergifteten Arbeitergemüt nur auf
dem Wege einer besseren Weltanschauung zu helfen sei. Und bei einem
freilich nie vervorgenen Gegensatze gegen jede kirchliche Orthdoxie
war seine geistige Tendenz immer die einer großen, höchst selbständigen
Christusliebe. Nur daß er glauben mochte, diese gerade hätte sich bei
den gebildeten und maßgebenden Schichten unsres Volks viel stärker ausprägen
müssen. Bei denjenigen unserer Kollegen, welche von dem alten Konservativismus
nicht loskommen, mit Verlaub sei's gesagt: manchmal deswegen, weil die
eigene Lebendigkeit dazu nicht ausreicht, löste sein Verhalten oft nur
lächelnde Ablehnung aus. Aber die starken Geister in unserem Kreise
horchten auf, wenn er sprach. Und dieser eigenartig scharfe Ton seiner
Stimme, aufs vorsichtigste und doch energischste ausgeprägt in jedem
Gedanken, hat doch auf alle einan tiefen Eindruck gemacht und auch die
Lächelnden und sich Überhebenden oft in seinen Bann gezogen. Ich meinerseits
glaube, wenn es viele Geistliche seiner Gesinnung gäbe, dann stünde
die Kirche der Arbeiterschaft nicht so hilflos gegenüber, wie sie es
tatsächlich leider tut. Das Proletariat hat in weitem Umkreis gefühlt,
daß hier eine große Liebe ihm die Hände entgegenstreckte, und daß das
die Hände eines Jüngers Christi waren.
In den ersten Julitagen 1926 bin ich an seinem Sterbebette
gewesen, und ich werde die Erinnerung an diese Stunde immer heilig halten.
Da lag ein edler und starker Mensch mit immer noch leuchtenden Augen,
der sich doch ganz und gar in die Gnade seines Heilandes hüllte. Das
Wort: "laß dir an meiner Gnade genügen!" lag als freudiges Bekenntnis
auf seinem Antlitz, und die kindlich gefalteten Hände waren gerade bei
diesem Manne ein ergreifendes Sinnbild.
Die Ephoralgeschäfte fordern viel Aktenarbeit, etwa 2
000 Registrande-Nummern mit vielen Ein- und Ausgängen müssen jährlich
erledigt werden, und der Geist wird von der Mannigfaltigkeit ihrer Fragen
nicht übel in Bewegung gehalten. Tiefer ergriffen aber wird der Ephorus
natürlich von den vielfachen persönlichen Berührungen mit den Gemeinden,
welche durch Kirchenfeste, Jubiläen, Einweihungsfeiern usw. immer wieder
an ihn herantreten. Es ist ein wohltuendes Bewußtsein, daß die Gemeinden
ihren Superintendenten gern zu sich kommen sehen, - zugleich mit dem
Bewußtsein einer großen Verantwortung, die ihm für seine Reden damit
auferliegt.
Sein wichtigstes Geschäft sind die Kirchenvisitationen.
Da wird es den Gemeinden einmal deutlich, daß der Mensch "nicht vom
Brot allein" lebt, oder besser: es wird wenigstens geahnt, und weit
über den Kreis der Kirchenbesucher hinaus wird bei solchen Gelegenheiten
doch eine Wirkung und ein Ruf zur ewigen Heimat ausgeübt. Ich wollte,
daß es mir gelänge, die Visitationen häufiger auszuführen. In dem großen
Pfarramt und unter den vielfältigen Bewegungen im Ephoralkreis gibt
es dafür nur allzuviele Hindernisse.
Im Juni 1926 erlebte ich mit meinen Gemeinden das große
Ereignis einer General-Visitation durch Seine Magnificenz den Herrn
Landesbischof D. Ihmels. Mit Eisenbahn und Auto durfte ich an
seiner Seite innerhalb von einer Woche alle unsere 42 Gemeinden besuchen.
In jeder Gemeinde hat D. Ihmels eine Ansprache gehalten und bei der
selbstverständlichen Übereinstimmung der Hauptgedanken sich doch nie
wiederholt, sodaß auch dem Hörer aller seiner Reden immer neue Erbauung
zuteil ward. Die Geistlichen des Bezirks haben eine Erhebung erfahren,
die für ihr ganzes Leben etwas bedeutet. Und die kleinen Herzlichkeiten
und Spaße, die ich nebenbei von diesem reichen und reinen Christen erlebte,
waren Geschenke, die ich auch gern in meinem Herzen bewahre. Ich empfinde
es als eine Güte meines Gottes, daß ich in das edle liebe Bischofsherz
so tief habe hineinschauen dürfen.
Bei den Visitationen und sonstigen Gemeindefesten ist
es übrigens immer wieder eine besonders angenehme Zugabe, daß der Superintendent
dann jedesmal an einem Ehrenplatze in den schönen Herrenhäusern sitzen
darf, die Leipzig rings umgeben. Ich freue mich darauf immer, in die
wundervollen Parklandschaften, auf die Blumenbeete und Teiche mit ihren
Wasserrosen hinausschauen zu dürfen, was ich doppelt genieße, nachdem
ich erst in einem Kreise lebendiger und hervorragender Geister die obligate
Tischrede glaube befriedigend vom Stapel gelassen zu haben.
In die abgelaufene Zeit meiner Amtsführung als Pfarramtsleiter
und Superintendent ist nun auch die Trennung von Kirche und Staat gefallen.
Wir haben die neue Kirchenverfassung vom Mai 1922 und vorher schon die
Kirchgemeindeordnung von 1921 und haben uns in mannigfaltiger Weise
neu einzurichten gehabt. Die Zeiten waren so ernst, daß unser Konsistorialpräsident,
D. Böhme, und unser Landesbischof durch die rote Mehrheit des
Landtages mit Gefangensetzung bedroht wurden, wenn sie sich unterstünden,
die Verfassung zur Durchführung zu bringen. Es schien eine Zeitlang
wirklich, als sollte unsere Landeskirche und damit jede einzelne Gemeinde
aufhören, eine Körperschaft öffentlichen Rechtes zu sein, und als würde
man uns Christen höchstens die Vereinsrechte zugestehen. Dann hätte
die bisherige Form der Kirche mit einem Schlage zu bestehen aufgehört.
Kirchgemeinden hätte es nur noch insofern gegeben, als einzelne bewußte
Christen sich zu diesem Zwecke zusammengetan hätten und in die Gemeindeliste
eingeschrieben worden wären. Daß hätte die Steuerkräfte einer Gemeinde
- oder was dann zu sagen richtiger gewesen wäre: die Vereinsbeiträge
- natürlich so herabgemindert, daß die Pastorengehälter sowohl wie die
Verwaltungskosten der Kirchengebäude davon nicht aufzubringen gewesen
wären. Wir konnten uns der großen Sorge nicht entschlagen, was aus unseren
Familien werden sollte und auch der Sorge nicht, daß unsere herrlichen
Kirchen in kurzer Zeit als Ruinen dastehen würden.
Aber: "Die Menschen gedachten es böse zu machen; Gott
aber hat es gut gemacht!" In ganz wunderbarer Weise lichteten sich die
politischen Wolken. Wir haben einen Staat bekommen, der durch seine
demokratischen und sozialistischen Eigenheiten uns noch genug Sorgen
bereitet. - Die Führung unseres Vaterlandes liegt zum großen Teil in
den Händen von Männern, denen Wissen und Urteil für so gewaltige Aufgaben
abgeht, und die nur von der jeweiligen Parteistimmung auf ihre Minister-
und Geheimratssitze erhoben wurden.
Aber die Verfassung Sachsens sowohl wie des Reichs ist
doch durch Majoritäten zustande gekommen, welche den umstürzlerischen
Radikalismus der ersten Revolutionstage nicht billigten. Teilweise durch
Parlamentsbeschlüsse und anderenteils durch Reichsgerichtsentscheidungen
sind die öffentlichen Rechte der Kirche festgelegt worden, und wir leben
in erträglichen Verhältnissen. Nur über die Lipinski-Gesetze über Kirchensteuer
und Kirchenaustritte haben wir ernstlich zu klagen. Es ist freilich
seit dem Umsturz unsere fortwährende Sorge, wie wir die jetzt von den
Gemeindegliedern allein aufzubringenden Personal-Kirchensteuern, die
nicht mehr durch Besitzwechsel-Abgaben und Körperschaftssteuern ergänzt
werden, mit den geforderten, unausweichlichen Bedürfnissen der Kirchgemeinde
in Einklang bringen können. Um der Kirchensteuern willen, die etwa den
fünfzehnten Teil der Einkommensteuern betragen, erlaben wir viele Austritte
aus der Kirche.
Und das Schlimmste ist, daß die dadurch erzeugte Stimmung,
wie überhaupt die auf unserem Volke noch immer lastende Revolutionsgesinnung
viele Menschen ihrer Kirche innerlich entfremdet. Je mehr und mehr fühlen
wir, wie eine große Scheidung sich vorbereitet und finden auf das Heilandswort
uns hingewiesen:"Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures
Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben."
Ich wage es kaum zu denken, aber bei ehrlicher Prüfung
muß ich mir doch eingestehen: unser deutsches Volk scheint sich in seiner
Mehrzahl für ein neues Heidentum bestimmen zu wollen. Es muß in seiner
Blindheit in furchtbare Tiefen hinabsteigen, bis es endlich soweit ist,
wie die alten Germanen einst waren, daß es die Herrlichkeit unsres Herrn
wieder leuchten sieht und sich bewußt bekehrt.
Auf absehbare Zeit ist die Kirche nur auf eine kleine
Zahl von Anhängern angewiesen, und uns, die wir uns zu den gebildeten
und darum führenden Klassen rechnen, ist es dabei überaus schmerzlich,
daß eben die höheren Klassen - wenigstens in Leipzig und wohl auch sonst
im östlichen Deutschland - sich nicht bewußt zur Kirche halten. Aber
auch diese schmerzensreichen Tatsachen dürfen wir im Glauben wohl doch
als positiven Segen unseres wunderbaren Gottes einschätzen lernen, der
die Halben und die Lauen zurückweist und die Ganzen und Entschiedenen
jetzt zubereitet, daß sie einstmals die Grundmauer bilden können für
das neue Gotteshaus der Zukunft.
Ich möchte diese Gedankengänge mit einer Frage abschließen,
die sich jetzt immer wieder aufdrängt: Was muß die innerste Politik
der ev.-luth. Kirche in Deutschland sein? Dürfen und können wir uns
die Methoden der drei großen Internationalen zu eigen machen,welche
so merkwürdig gerade in unseren neuen deutschen Reichsfarben erscheinen,
- der schwarzen, der roten und der goldenen Internationale. Der schwarzen
des Zentrums, der roten sozialistischen und der goldenen des jüdischen
Kapitals? Es ist kein Zweifel, daß Rom als Geldmacht große Erfolge hat.
Es zieht die ihm zur Verfügung stehenden Kapitale des Weltalls zusammen,
um sie jedesmal an die Stelle zu werfen, welche am meisten gefährdet
erscheint. Heute weiß man, daß in Deutschland von Rom riesige Grundstückkäufe
getätigt und sogar Handelshäuser fundiert werden, welche dann Mittelpunkte
seiner geistigen Machtauswirkung sind. Und die beiden anderen Internationalen
üben durch die Presse, im Bezug auf welche sich die rote Internationale
der goldenen bedient, ihren unheilvollsten Einfluß aus. Es erscheint
kaum noch möglich, ein freies Wort der Wahrheit an die Allgemeinheit
zu richten, denn jeder Satz, der gedruckt wird, passiert erst die Zensur
der Zeitungsgeldgeber; so ist die Frage sehr ernst, ob es der evangelischen
Kirche gelingen könnte, irgendwie in sieghafte Konkurrenz mit diesen
Mächten zu treten. Einige unter uns geben die Hoffnung nicht auf; aber
es gehört wohl zu den Kennzeichen der protestantischen Glaubensüberzeugung,
daß sie kritisch und individualistisch,und ökonomisch deshalb hilflos
bleibt. Die Arbeitsweise der protestantischen Kirche kann ja aus zwei
Gründen auch garnicht dieselbe sein, wie die der dreifachen Internationale:
bei jenen drei Mächten handelt es sich immer um eine Art von Materialismus
(denn auch Rom verwechselt die seligmachende innere Zugehörigkeit zum
Reiche Gottes mit der zu einem äußeren Reiche, dessen seligmachende
Kraft es nur fälschlich behauptet); der evangelische Glaube aber ist
Idealismus und kann deshalb nicht mit Geld geschaffen werden (Matth.
6, 33 will in seiner Prämisse und Folgerung verstanden
sein!)
Und dann: der "Idealismus" hängt immer untrennbar zusammen
mit "Individualismus"; er kann seine Kräfte nicht so zusammenballen,
wie der Materialismus, um wirksam zu werden, es mit dem Gelde tun muß.
Die protestantische Kirche ist deshalb nach meiner Überzeugung ganz
auf den Idealismus des Herrnwortes gestellt: "Die Wahrheit wird euch
frei machen!" oder, was dasselbe sagen will, "Das Wort Gottes bleibt
in Ewigkeit!" Es darf uns niemals angelegen sein, durch äußere Macht
auf unsre Volksseele Einfluß gewinnen zu wollen. Wir haben einfach in
aller Gewissenhaftigkeit die evangelische Wahrheit zu erkennen und so
zu verkündigen, daß auch der modernen Menschenseele ihre Kraft und Herrlichkeit
fühlbar wird. Und wenn es sich um Zusammenballung unserer Kräfte handelt,
so kann dies nur in der Richtung Erfolg haben, daß wir gemeinsam die
besten Methoden und die besten Resultate der Wahrheitsverkündigung suchen.
Gemeinsam. Die Einzelbekenntnisse der Kirchen müssen sein. Gott prägt
seine einige große Wahrheit im endlichen Menschengeschlechte auch nur
durch einzelne Kirchen-Individualitäten aus. Aber es wäre ein Unheil,
wenn die Individualitäten sich voneinander abschließen, ja als Ketzer
einander ausschließen wollten. Ich hoffe sehr Großes von den Kirchen-Einigungs-Unternehmungen,
wie sie innerhalb Deutschlands in weitgehender gesetzlicher Festlegung
im Deutschen Evangelischen Kirchenbundestag und Kirchenbunds-Ausschuß
zur Wirklichkeit geworden sind, und wie sie für die ganze Welt in Stockholm
1926 (for life and work) und in Lausanne 1927 (for faith and order)
sich begründet haben. - Mit Spannung und Sorge begleite ich die Entwicklung
des Reichsschulgesetzes, das ohne Zweifel für unsere deutsche Zukunft
von entscheidender Bedeutung sein wird.
Mein
persönliches und mein Familien-Leben seit meiner Übersiedlung nach Leipzig
Wenn ich von so allgemeinen Gedanken zu den Alltäglichkeiten
meines kleinen Lebens zurückkehre, so muß ja wohl das erste die Erinnerung
an den Ausgang des furchtbaren Weltkrieges sein, der je länger je mehr
unser ganzes tägliches Leben bestimmt hatte. Wir merkten es kaum noch,
daß wir Kriegsmenschen geworden waren; aber bis zum täglichen Küchenzettel
herab war der Krieg das Thema aller Gefühle. Schließlich mußte ja alle
verfügbare Nahrung für unsere Truppen bereitgehalten werden, und Schmalhans
wurde Küchenmeister in einer nie vorausgesehenen Weise. Unsre Predigten
und seelsorgerlichen Handlungen waren, innerlich wenigstens, ganz von
den Eindrücken gestaltet, die uns die Zeitungen, die Extrablätter und
Ereignisse im engeren oder weiteren Bekanntenkreise grausam nahebrachten.
Und dabei wurde es sowohl von uns Predigern als von unseren Zuhörern
drückend empfunden, daß wir so garnichts Neues, Erlösendes und Befreiendes
mehr zu sagen hatten. Es lag eine entsetzlich dumpfe Stimmung über unserem
deutschen Leben.
Ich möchte dieses allgemeine Erleben durch ein Bild persönlicher
Eindrücke schildern. Von 1916 an habe ich meinen Urlaub regelmäßig bei
den Geschwistern in Freiburg zugebracht, bei denen es seit dem jähen
Tode unseres lieben Heinz ja auch so anders geworden war. Im Sommer
1916 und 17 habe ich in Freiburg öfter die Bombenangriffe der französischen
Flieger miterlebt. Einmal flog ein solcher eine Stunde lang in fast
greifbarer Nähe über dem Schnellzug, in dem ich von Heidelberg nach
Freiburg fuhr. Da wurde es mir bis zur Krampfhaftigkeit persönlich fühlbar,
was diese - 4 Jahre lange! - ununterbrochene Todesbedrohung für uns
alle bedeutete. Auch die nächtlichen Konturen der Vogesen, die man von
Freiburg aus so herrlich sieht, die aber jetzt in jeder Nacht vom roten
Feuerscheine sich abzeichneten, verstärkten das furchtbare Bild.
Endlich wurde der Schrecken, der endlos schien, durch
das Ende mit Schrecken abgelöst. — Ich glaube, ich nütze meinen Kindern,
wenn ich das, was uns allen damals von Gott auferlegt ward, mit den
Farben meiner ganz persönlichen Erlebnisse des 9. November 1918 ausmale.
Selbstverständlich wußten wir, daß uns Schweres bevorstand. Die letzten
2 oder 3 Monate waren ja nur noch ein Siechtum gewesen. Aber - wenn
das Furchtbare dann da ist, kommt es einem doch wie etwas ganz Unerwartetes
nahe.
Die Frühpost brachte mir einen Brief von meinem Hans,
der etwa so lautete: "Erschrick nicht, aber ich bin krank geworden und
muß mich einem Lazarettzug anvertrauen. " - Um den persönlichen Schrecken
durch den allgemeinen zu vergessen, ging ich auf die Straße und las
die angeschlagenen beängstigten Extrablätter. Ich traf Geheimrat Professor
Rendtorff, der in gleicher Sorge um einen Sohn stand wie ich
selbst, aber sich und mich zu trösten suchte mit den Worten: Was ist
unsere kleine Not gegenüber der unseres Vaterlandes und unseres ---
Kaisers! Als ich wieder zu Hause war - ein Klingeln des Telefons, und
meine Kusine Helene Zenker geb. Dumas rief nur die kurze
Frage: willst Du unseren Wolfgang begraben?
Auf diesen Neffen Wolfgang Zenker, Paul Zenkers
2. Sohn, darf unsre Familie stolz sein! Am 4. November war die Marinetruppe,
welche die Revolution angefangen hatte, im Kieler Hafen auf das Flaggschiff
"König" gekommen - die treuen Offiziere und Mannschaften fieberten danach,
endlich zur Entscheidungsschlacht gegen England auslaufen zu dürfen
- und hatte die Niederholung der ruhmvollen deutschen Kriegsflagge und
die Hissung der roten Flagge gefordert. Der Kapitän des Schiffes, Weniger,
ein Leipziger von Geburt, hatte dies verweigert. Ohne weitere Widersetzlichkeit
waren die Revolutionäre abgezogen mit der drohenden Ankündigung, am
nächsten Morgen würden sie ihren Wunsch sich durch Gewalt erfüllen.
Und Wolfgang Zenker war zur Nachtwache bestimmt und hatte
beim Hissen der Flagge, ½ 8 Uhr des nächsten Morgens, auf der
Flaggenbrücke zu stehen. Er wußte also, daß diese Drohung sein Todesurteil
war! Er hat seine Nachtwache mit ergreifenden Briefen an Eltern, Geschwister
und Freunde ausgefüllt, - und als ½ 8 Uhr am 5. November die
Reichsflagge stieg, krachten vom nahen Ufer her die Schüsse, von denen
der eine den Kapitän Weniger und der andere unseren Wolfgang traf.
Wolfgang ist nicht gleich tot gewesen, sondern erst am
8. November abends gestorben. Ich habe 5 Tage danach hier auf dem Leipiger
Südfriedhofe mit stolzer Trauer meine letzte Verwandtenpflicht
an ihm vollzogen. - Merkt Euch, meine Kinder, daß auf seinem Grabmal
ein Wort aus seinem letzten Briefe steht: "Es ist nicht nötig, daß wir
leben, aber es ist nötig, daß wir unsere Pflicht tun". - Der Vater hat
die furchtbare Anklage daruntergesetzt: er starb von einer deutschen
Kugel.
Wieder trieb es mich auf die Straße, und gegen halb ein
Uhr stand auf den Extrablättern: Der deutsche Kaiser hat seiner Krone
entsagt und wird seinen Aufenthalt in Holland nehmen. Die Empfindungen,
die dieser kurze Satz in uns auslöste, sind erst in langen Monaten danach
uns wirklich deutlich geworden. Damals haben wohl viele Tausende von
deutschen Christen nur an das eine Wort der Bibel denken können: er
trug sein Kreuz.
|
Hans Zenker 1894 - 1952
|
Wie schlafend schloß ich meine Türe auf — und sehe die
Soldatenmütze meines Hansjungen hängen, und Mutter sagt mir mit der
Freude, die an diesem Tage noch eine persönliche Empfindung auslösen
konnte: Hans liegt ganz munter unten in seinem Bett, er hat allerdings
40 Grad Fieber, aber behauptet, das sei nicht so schlimm. Und so kniete
ich denn an dem Bett meines nach so unendlichen Gefahren heimgekehrten
Sohnes!
Er war mit dem Lazarettzug (mit der Bestimmung nach Kattowitz
i. Schlesien) nach Deutschland befördert worden, hatte von seinem Bett
aus auf der Leipziger Umgehungsbahn die Türme seiner Heimatstadt erkannt,
sich schnell angekleidet und war einer Revolutionstruppe entgegengelaufen,
die sich damit beschäftigte, den Offizieren die Achselstücke und die
Ehrenzeichen von der Uniform zu reißen. Dem hatte er sich entziehen
können, indem er in eine Gemüsehandlung eingetreten war, und die Händlerin
hat ihm die geliebten Offiziersabzeichen und Orden vorsichtig und liebevoll
abgenommen. In einer Droschke ist er von Wahren aus hierher gekommen
- und brauchte doch 3 Wochen zur vollen Gesundung. Aber - Gott sei gedankt!
- er ist uns wiedergeschenkt worden.
Der Sohn einer kranken Mutter hatte uns doch sein ganzes
Jugendleben lang wegen seiner körperlichen Zartheit viel Sorge bereitet;
es ist ein Wunder, daß er die 4jährigen Strapazen des Weltkrieges -
erst in Rußland und dann die längste Zeit hindurch im Dreck von Frankreich,
auch mit einer nicht unbedeutenden Verwundung am Knie - so überstanden
hat, daß wir ihn jetzt als einen gesunden Mann ansehen dürfen. Und ich
brauche mich meines väterlichen Stolzes doch nicht zu schämen, wenn
ich Hans jetzt als einen stattlichen Menschen im bürgerlichen Frack,
hinter dessen Klappe der Heinrichsorden, das Eiserne Kreuz, der sächsische
Albrechtsorden und auch das E.K.I hervorschauen, freudig ansehe.
Dieser furchtbare 9. November 18 hatte noch einen entsetzlichen,
wenn auch zugleich nach andrer Seite erfreulichen Abschluß: seit mehreren
Wochen wußten wir nichts mehr von Rudi und seine Hertha
hatte uns ihre Angst geschrieben, daß er vielleicht schon tot sei! Da
klingelt es heftig und der Vermißte steht vor uns! In schlotterndem,
fremdem Civil! Fast wortlos stürzt er in die Eßstube, wirft den Kopf
in die Arme auf dem Tisch und schluchzt lange, lange wie ein gezüchtigter
Knabe um das verlorene und entehrte Vaterland!
Erst spät am Abend hat er uns den erschütternden Vorgang
erklären können. In Cattaro war, wie überhaupt bei der Marine, die Revolution
schon früher ausgebrochen. Mangels aller Befehle hatte er sich endlich
entschlossen, seine Treugebliebenen durch das brennende Österreich in
die Heimat zurückzuführen. Am Morgen des 9. November erreichte er die
sächsische Grenze und sah sich verlassen und in der Uniform eines höheren
Offiziers dem Mord und Totschlag ausgesetzt. Jetzt war es heldischer,
in Verkleidung seine Kräfte dem Vaterland zu erhalten, als sie der Schande
zu opfern, - so war er zum Pfarrer in Reichenbach gegangen und hatte
von diesem (dem jetzigen Superintendenten Franke in Löbau) einen
alten Anzug erhalten. Seine Soldaten hatten auf eigenen Wegen ihre Rettung
gesucht.
Das war der 9. November, der Anfang einer neuen Zeit -
wie in der ganzen Welt so auch besonders für unser unglückliches deutsches
Vaterland. Von den politischen Ereignissen, welche selbstverständlich
unser ganzes tägliches Leben wie eine Hochflut umrauschten, will ich
hier nicht mehr viel sagen, das wird uns in Geschichtsbüchern aufbehalten
bleiben. Die Umwandlung eines monarchischen Staatengebildes in eine
Demokratie und zugleich in eine solche, die von der sozialistischen
Phantastik ihre Richtung erhält, ist auch ein so seltsames und doch
gewaltiges Ereignis, daß der beurteilende Verstand davor zunächst einfach
stillesteht. Wir haben uns drein finden müssen, die schweren Bedenken
zu erkennen, die auch gegen die monarchische Staatsform bestehen. In
der Bismarckschen Ära und unter unserem Kaiser Wilhelm I. zeigte sie
sich immer nur im höchsten Glanze. Aber nach der kurzen Leidensregierung
des Kaisers Friedrich ist mit Wilhelm II. eine Zeit gekommen, die immer
mehr als eine Zeit der Überhebung, der nationalistischen Eitelkeit und
Hohlheit sich entwickelte. Mehr scheinen als sein wurde der mehr oder
weniger verhüllte Wahlspruch der führenden Klassen, und der Monarch
hat dem leider Vorschub geleistet, statt ihm als ein wahrer Vater seines
Volkes zu widersprechen. Wohin das führen mußte, haben wir ja nur allzu
grausam erlebt.
In einem solchen Volke wird auch die Religion zum falschen
Schein und zum Deckmantel der Selbstverliebtheit. Ich halte es heute
für einen Segen Gottes, daß wir gedemütigt worden sind, und daß Seine
Fügung unser ganzes Volk zwingt, sich auf sich selbst zu besinnen und
nach und nach die Kräfte zu erkennen, auf welche es sich tatsächlich
stützen muß. Schließlich ist die demokratische Staatsform doch die richtige,
ich möchte sagen die, auf welche die geschichtliche Entwicklung hindrängt.
Ein Volk muß zur Persönlichkeit sich emporringen, und eben an der Art,
wie es ringt und ob es sich durchringt, muß sich sein Schicksal entscheiden.
Entweder es findet sich selbst und findet seinen Gott, dann wird es
bestehen - oder es bleibt kindisch und eitel und damit gottlos, dann
erlebt es rettungslos das, was Spengler als eine philosophische Notwendigkeit
in seinem "Untergang des Abendlandes" bezeichnet hat.
Ich meinerseits glaube nicht an diese automatische Notwendigkeit.
Ich glaube, daß Christus an alle Völker die Schicksalsfrage stellt -,
die Schicksalsfrage, die eben mit einem "hier bin ich, Herr!" das Heil
eines Volkes wie jedes Einzelnen und mit seiner Zurückweisung das Unheil
herbeiführt.
Die nächsten 50 Jahre werden über Deutschlands Schicksal
entscheiden, und mein Herz zittert bei dem Gedanken, daß das auch das
Schicksal meiner Kinder sein wird. "So ihr mich von ganzem Herzen suchen
werdet, so will ich mich von euch finden lassen!" Meine Kinder, vergeßt
den ungeheuren Ernst dieses Gottesspruches nicht.
Da ich nun so unwillkürlich auf die Schicksalsfrage meiner
Kinder gekommen bin, will ich denn zunächst am Schlusse meiner Erinnerungsblätter
von meinen Kindern reden. Ich tue dies mit dem Geständnis, daß je länger
je mehr ihr Lebensglück oder -Unglück das innerste Empfinden des Vaterherzens
beschäftigt.
Mein Hans hat nach der Rückkehr aus dem Kriege
sein theologisches Studium fortgesetzt und beendet. Aber der Krieg hat
in ihm eine merkwürdige Wandlung seines Wesens hervorgebracht. Der früher
zum theoretischen und grundsätzlichen Nachdenken und Grübeln allein
geneigte junge Mensch ist als Willensmensch und als einer, der nur noch
die höchste Aktivität zu schätzen wußte, heimgekehrt. Heute ist wohl
der Ausgleich zwischen seiner ursprünglichen Anlage und dem im gewaltigen
Geschehen eingewurzelten neuen Charakterzug erfolgt.
Das Kandidatenexamen hat Hans nur notgedrungen noch abgeleistet.
Schon vorher hatte er sich der hiesigen christlichen Arbeiter-Gewerkschaft
angeschlossen, von der er sogar ein Jahr lang in das Leipziger Stadtverordnetenkollegium
entsendet wurde. Dann bot sich ihm der "Hausrat", Gesellschaft für gemeinnützige
Möbelversorgung an, und seit einer Reihe von Jahren leitet er die Zweigstelle
in Dresden. Von den mannigfaltigen Aufgaben, die im Verkehr mit Arbeitern
und Kunden nicht selten auch seelsorgerlicher Natur sind, ist er sehr
befriedigt, und wirtschaftlich trägt die Sache ihn und seine kleine
Familie.
Dem oft gehörten Bedauern seiner und meiner Freunde, daß
er nicht im kirchlichen Dienste sein Glück gefunden habe, darf ich als
Vater doch entgegenhalten, daß ich auch bei seiner selbstgewählten Lebensführung
den Satz glaube anwenden zu dürfen: "Der Gerechte lebt seines Glaubens!"
In diesem innersten Sinne bin ich mit ihm doch immer zufrieden geblieben,
wenn unser beiderseitiger Glaube auch in seiner Ausprägung bis heute
noch weit auseinander geht.
Ein ernster Sucher nach der Wahrheit des Lebens ist mein
Hans, und deshalb gehört ihm mein Vertrauen, womit meine innerste Hoffnung
wohl völlig Hand in Hand gehen darf, daß sein und der Seinigen Innenleben
sich noch mehr mit dem lebendigen Christus vereinigen lerne, als dies
heute der Fall ist.
Nach verschiednen Strebungen, die uns zweimal auf den
Gewinn von lieben, wertvollen Schwiegertöchtern hoffen ließen, hat er
sich im dritten Fall entgiltig entschlossen und uns in unsrer Erna
oder, wie wir sie nach Hansens freier Bestimmung zu nennen haben, Sibylle,
geb. Tietze, eine Schwiegertochter zugeführt, der wir unser ganzes Herz
haben öffnen dürfen, und der ich für ihre zarte, rücksichtsvolle und
vertrauende Tochterliebe wirklich von ganzem Herzen dankbar bin. Nun
reift auch schon ein kleines Enkelkind, Hans-Christoph, dort
heran und, Gott sei Dank, mit aussichtsvollen Gaben. Christoph war der
Name des ersten Zenker, der in unserem Stammbaum steht.
Ich wünsche in der Tiefe meiner Seele, daß mein Enkelkind
ein wirklicher Christophorus werde!
|
Marianne "Nanna" Schweitzer geb. Zenker 1898 - 1991 |
Nanna haben wir nicht mit nach Leipzig nehmen können.
Sie war wohl 1916 noch in ihrer Gärtnerlehre in Lünzen in der Lüneburger
Heide und besuchte dann einige Jahre lang die Gartenbauhochschule in
Pillnitz, von der sie mit einer guten Zensur nach Hause kam. Ihren Aufenthalt
hat sie zu unserer dankbaren Freude damals bei Max Rügers haben dürfen,
die ihr die treuesten Pflegeeltern gewesen sind.
Nanna kam, wie ich schon erzählt habe, verlobt nach Haus.
Sie hat ein paar Jahre bei uns zugebracht und ihre Ausstattung besorgt,
ist oft auch in Freundeshäusern sehr liebevoll aufgenommen worden, z.B.
in Hannövrisch-Münden bei den Geschwistern und vor allem bei "Mutter
Kiendl" in Berchtesgaden, dieser uns durch unsre Nichte Nessi nahegekommenen
und so überaus wertvollen neuen Verwandten.
Am 18. Juni 1927 hat sich unsere Nanna aus dem selbstgezogenen
Myrthenstöckchen ihren Brautkranz gewunden -, und aus Oberursel bei
Frankfurt am Main, wo Otto Schweitzer als Gartenarchitekt bei der Firma
Müllerklein eine gute Stellung einnimmt, kommen - Gott sei Dank! - immer
nur glückliche Briefe.
[Helene wurde 1920 als "Kriegskind" nach Schweden geschickt
um sich zu erholen und ernähren. Dort wurde sie von meinen Großeltern
empfangen. Später in den 30er Jahren hat sie Onkel Henning geheiratet,
den Bruder meiner Großmutter. Dadurch haben auch meine Eltern sich kennen
gelernt. - Hier ist ein
Dankbrief von Walther Zenker am 30. Mai 1920 geschrieben. /SZ]
Unsere Helene hat mit 19 ½ Jahr das Abiturium an der
Studienanstalt unserer Höheren Töchterschule gemacht, auf die sie von
unserem Einzug in Leipzig an gekommen war. Sie hat uns durch ihr innerlich
stilles, gleichmäßiges und anmutiges Wesen immer nur Freude gemacht
und muß uns doch, eben jetzt ohne ihre Schuld allerlei Sorge bereiten,
weil sie mit ihrem Berufsschullehrer-Studium das Versuchskaninchen für
die uns höchst zweifelhaft erscheinenden Tendenzen der modernen Lehrerbildung
ist.
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Helene mit Märta und
Erik af Sillén um 1920
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Helene Tiblin geb. Zenker am 21. Juni 1925
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Wir haben Grund zu der Sorge, daß diese Tendenzen auf Abwege führen
müssen, weil "wissenschaftliches Studium" zur Vorbereitung einer Technik
- und das ist die Berufsschularbeit - eine ungeheure Versprengung der
Kräfte bedeutet, und bei Einhaltung der höchstens zur Verfügung
stehenden Zeit auch einfach ein unwahrer Deckname ist. Das wissenschaftliche
Studium der mindestens 15 notwendigen Prüfungsfächer würde ernst genommen
nicht 8 sondern 20 Semester fordern. Das macht uns denn jetzt einige
Sorge, umsomehr als Helenchens Geist der echt fraulichen Praxis mehr
zuneigt als dem wissenschaftlichen Intellektualismus.
Hier muß das Gottvertrauen immer wieder dem Herzen zur
Beruhigung dienen. Aber was wäre ich auch für ein Christ und Pastor,
wenn ich dies nicht ernstlich festhalten wollte und könnte.
Von
meinem Gerd kann ich mit wenigen Worten berichten. Der stille
Junge hat in den unteren Klassen seines Carola-Gymnasiums nicht gerade
Treffliches geleistet. Wir Zenkers lassen uns nicht gerne schieben und
bocken gegen fremden Willen auf. Wir wollen dem dienen, was wir als
gut und richtig verstanden haben. Das ist bei mir schon so gewesen,
wenn nicht schon bei den Vorfahren, und das muß auch bei meinen Kindern
nun geduldet werden. Jetzt höre ich zu meiner Freude, daß die Lehrer
mit dem Unterprimaner zufrieden sind, ein Lob, das unser wortkarger
Gerd mit dem Urteil quittiert hat: es geht mir eben wieder gut, seit
ich nicht mehr zu arbeiten brauche.
Dabei arbeitet er aber doch recht ordentlich, vielfach
freilich auf selbstgewählten Pfaden. In der Elektrizität, im Englischen
und jetzt auch im Spanischen hat er sich, woweit ich sehe, schon recht
erfreuliche Kenntnisse angeeignet. Ich hoffe, daß mein Junge seinen
Weg machen wird, und das tröstet mich sehr bei dem Gedanken, daß ich
vielleicht nicht mehr lange imstande sein werde, für die Mittel zu seiner
Ausbildung zu sorgen.
Und nun Du, mein liebes letztes Kind, meine Hertha.
Ich hoffe, daß die mancherlei Nöte, die Dein junges Gemüt sich selbst
and auch den Eltern bereitet, aus derselben Wurzel stammen, die soeben
bei Gerd von mir bezeichnet worden ist. Aber unser liebstes jüngstes
Kind scheint von seinem Schöpfer in der Tat eine Last mit ins Leben
bekommen zu haben, die nicht sehr vielen Menschen in gleichem Maße auferlegt
wird. Ich meine: In ihr kämpft miteinander zweierlei Geist. Vielleicht,
daß die Eigentümlichkeiten, die gerade den Vater und die Mutter unterscheiden,
und die wir im täglichen Leben unserer Ehe auszugleichen haben, in ihrem
Gemüte gleich stark veranlagt sind. Jedenfalls muß unser Herthakind
um innere Einheit ringen, und mein Gebet für sie ist, daß heiliger und
bewußter Wille die Triebe überwinde, welche sie zum Aufbegehren und
Widerspruch gegen die nun einmal uns allen gesetzte göttliche Ordnung
reizen. Möge sie sich immer sagen, daß dankbare Liebe zu Gott und selbstlose
Liebe gegen die Menschen die einzige Grundlage sicheren Lebensglückes
bereitet. Dabei soll sie aber wissen, daß solche starken Eigenschaften
der Seele, wenn sie sich auch widersprechen, einen inneren Reichtum
bedeuten, und sie ihr Vorhandensein durchaus nicht als Übel zu betrachten
hat. Ja wissen soll sie, daß ich eben diese Kämpfe in der Seele ihres
Großvaters Ackermann immer besonders bewundert habe, aber freilich auch
deswegen, weil bei ihm die wahrhaftige Liebe zu seinem Herrn und Heiland
zur wirklichen Selbstüberwindung geführt hat.
Hier in Leipzig schien uns nicht der rechte Boden gegeben
zu sein, auf dem unsere Hertha den für sie notwendigen Kampf im Inneren
ausfechten könnte. Wir mußten erkennen, daß sie innere Stille und Ordnung
braucht, um mit sich fertig zu werden. Wir haben sie deshalb Michaelis
1927 in das Töchterschulheim nach Herrnhut gebracht, zugleich durchdrungen
von der Überzeugung, daß ein wahrhaft frommer Geist, eine wahrhafte
Heilandsliebe nirgends besser gepflegt wird als dort. Es ist uns schwer
geworden, unser Kind in fremde Hände zu geben und nicht mehr täglich
zu sehen; wir fühlen ja auch, daß es ihm selbst nicht leicht wird. Aber
sehr viele Menschen, die entweder selbst früher in Herrnhut waren, oder
die ebenso wie wir ihre Kinder dorthin gegeben hatten, bezeugen, daß
sie alle dort sehr glücklich waren. So hoffen wir von Herzen, daß die
Herrnhuter Zeit auch in unseres Kindes Gemüt einst einen schönen Glanz
hinterlassen wird, wenn sie längst kein Kind mehr ist.
Wir leben in Leipzig recht ungesellig, wie man das so
bezeichnet. Meine Elisabeth trägt ja den Drang nach Einsamkeit in sich,
bei mir ist das wohl weniger der Fall, und genau genommen kann von Ungeselligkeit
in meinem Leben auch keine Rede sein. Ich sehe täglich sehr viel Menschen
und Gott sei Dank auch viele, von denen ich persönlich etwas habe. Meines
lieben Kollegen Rietschel Wort will ich hier gerne festhalten,
der einst zu mir sagte: Sie können wirklich wie der Psalmist sich beklagen
"wir bringen unsere Tage zu wie ein Geschwätz". Aber eben wenn ich aus
den mannigfaltigen Verhandlungen und Aussprachen, die mein Amtsleben
mit sich bringt, einmal auftauche, dann sehne ich mich nach arbeitsamer
Ruhe, denn so darf ich meinen eigentlichen Wunsch bezeichnen.
Wenn ich genug geschlafen habe - das Maß dafür ist in
den letzten Jahren recht wechselnd gewesen - dann brauche ich andre
Ausruhezeit kaum. Aber Stille möchte ich haben, um meiner Erkenntnisarbeit
ruhiger und erfolgreicher nachgehen zu können! So liegt mir denn garnichts
an Abendgesellschaften oder Theater und Musik, da ja doch die Vereinsarbeiten
und Sitzungen so wenig Abende freilassen. Ich bin glücklich, wenn ich
von 9 -12 Uhr am Abend mich noch mit meinen Büchern beschäftigen kann.
Und es ist mir, als müßte ich einmal hier denen meinen Dank sagen, die
mich in den letzten Jahren besonders beglückten. Barths Römer-
und Corintherbrief, Dibelius: Jahrhundert der Kirche, Althaus:
Letzte Dinge, Karl Holls Lutherband, ganz besonders mit seinem
Aufsatz über die Rechtfertigungslehre, am allermeisten Luthers
"unfreier Wille" und nun zuletzt sein Römerbrief von 1515 und viele
Aufsätze in der "Christlichen Welt" und in der "Zeitwende" sind
mir ein wahres Labsal gewesen.
Eine Erscheinung, die weite Kreise bewegt, ist auch für
mich sehr wichtig geworden, nämlich Spenglers "Untergang des
Abendlandes". Dieses geistreiche Buch hat sehr viel Widerspruch gefunden
und ist von manchen Gelehrten als oberflächliche Konstruktion abgelehnt
worden. Ich habe es für eine Erkenntnis ansehen lernen, die bleibenden
Wert besitzt, für eine Methode zur Weltanschauung, die mit schlagender
Kraft in das Innerste der Dinge hineinführt. Ich glaube heute an den
zwingenden Ablauf der nationalen Kulturpersönlichkeiten, aber von meinem
Standpunkte aus mit einer großen Einschränkung. Spengler hat Christus
nur als eine gewaltige Persönlichkeit im Rahmen der arabischen Kultur
verstehen können; es zeigt sich eben hier wieder einmal, daß die Methode
der strengen Wissenschaftlichkeit, nämlich daß nur natürliche Voraussetzungen
gelten, ein Loch hat. Auch in der Wissenschaft muß das Wunder der Offenbarung
seine ihm gebührende Beachtung finden. Christus ist nicht ein Mensch
wie wir und nicht ein Held der arabischen Kultur. Er ist der Gottesmensch,
der zur Erneuerung der Menschheit in diese Welt getreten ist. Ich bleibe
deshalb bei der Glaubensüberzeugung, daß diejenigen Kulturen nicht untergehen
können, denen Christus zur Seele geworden ist. Auch die Nationen stehen
unter dem Worte - 2.Kor. 5, 17 - "ist jemand in Christo, so ist er eine
neue Kreatur!" Aber freilich -, daß Nationen in Christo daheim werden,
ist ein noch größeres Wunder als das der persönlichen Wiedergeburt.
Und so, fürchte ich, wird es zuletzt bei Spenglers Gedankengang bleiben,
und das Abendland wird in einem ernsten Ablauf, der auf das jüngste
Gericht hindrängt, die erste untergehende Menschenmasse sein, die beim
Hall der letzten Posaune vor den Richterstuhl gerufen wird - und aus
der zum Leben hervorgehen, die in Christo sind.
Unser Verkehr, wie gesagt, wird wenig gepflegt, er beschränkt
sich mehr oder weniger ganz auf die uns nahestehenden Verwandten. Solange
die Töchter im Hause waren, kehrte mancherlei junges Volk bei uns ein,
jetzt aber sind wir beiden mit unserem Gerd ein stilles Kleeblatt. Bis
in diese Tage hat uns von Elisabeths Seite die Familie Schlurick
sehr nahegestanden. Vor 1 ½ Jahr haben wir Onkel Hans
begraben, und nun ist ihm auch die Tante Käthe nachgefolgt. So
schließt sich wieder - und nun zum letzten Male - ein Haus der vorigen
Generation, das uns viel Liebe geschenkt hatte.
Aus meinem Kreise bietet die alte Leipziger Vetternschaft
uns immer einmal eine erquickende Stunde, wir sind da von großer Herzlichkeit
umgeben. Von ganz besonderem Werte ist uns beiden die häufige Berührung
mit der Kühnschen Familie. Christian Kühn mit seiner lieben Käthe
wohnen in Albersdorf bei Leipzig. Er ist ein tüchtiger Direktor der
Kulkwitzer Braunkohlenwerke. Ihre Kinder, Friedrich und Wolfgang,
Brigitte und Bärbel, sind uns alle so lieb wie die eigenen.
Unsere alte liebe Tante Mathilde lebt bei ihrem ältesten Sohne
dort als eine glückliche und stolze Mutter von 84 Jahren -, und es ist
eben der alte gute fromme Kühnsche Geist, der mit seit 60 Jahren Sonnenstrahlen
auf den Weg geworfen hat, den ich und - Gott sei Dank - auch meine Frau
und meine Kinder bei jeder Berührung mit diesem Hause noch genießen.
Für mich sind die alten Freunde, die ich nun freilich
fast nur brieflich noch genießen kann, von altem bleibendem großem Wert.
Mein Neuberg, jetzt Oberkirchenrat in Meißen, schreibt nach wie
vor Briefe so reich an Geist und Inhalt, daß sie mir jedesmal etwas
bedeuten. Dasselbe kann ich - in ganz anderer Weise freilich - von meinem
Freunde Hans von Schubert sagen, der einer der fruchtbarsten
wissenschaftlichen und populären Schriftsteller ist, welche Deutschland
heute besitzt, den seine Regierung kürzlich inständig gebeten hat, trotz
des nunmehr erreichten 69. Lebensjahres auf jeden Fall noch seine kirchengeschichtliche
Professur in Heidelberg zu verwalten, und der mir mit seinem sprühenden,
auf alle öffentliche Dinge aufmerksamen Geiste die mannigfaltigsten
Anregungen bereitet.
Gemütlicherer Art sind Max und Anna Rügers
Briefe, die gelegentlich auch von wohltuender Süßigkeit begleitet sind.
In diese Erinnerung an die Freundschaften, die ich pflege,
gehört es nicht recht hinein, weil es anmaßend ist; aber ich kann es
mir nicht versagen, hier niederzuschreiben, daß Hans von Schuberts intimer
Freund, der Reichsgerichtspräsident und stellvertretende Reichspräsident,
D. Dr. Walter Simons, auch mir persönlich nahegekommen ist und
durch seine ebenso geist- wie gemütvolle, überaus bescheidene und doch
so bedeutende Persönlichkeit mich bei jeder Begegnung innerlich beglückt.
Er ist ein Beispiel jenes seltenen, wahrhaft edlen Liberalismus, der
auf einem reinen, liebenden Vertrauen zur Menschheit und auch zu Gott
beruht, und dem vielleicht doch die höchsten Früchte beschieden bleiben.
An äußeren Geschehnissen politischer und kirchlicher Art
sind die Jahre seit der Revolution ja überreich gewesen. Wir haben die
demokratische Weimarer Reichs-Verfassung bekommen und ebenso unsere
Kirchgemeindeordnung und danach auch die sächsische Kirchen-Verfassung.
Die deutschen Landeskirchen haben sich zu einem Kirchenbund zusammengeschlossen,
dessen Arbeitsleistung nach dem jüngst erstatteten Bericht die höchste
Achtung verdient. Die christlichen oder wenigstens protestantischen
Einigungsbestrebungen der Kirchen, wie sie in der Allgemeinen evgl.-luth.
Konferenz, in der Stockholmer Weltkonferenz und in dem "Konzil"
von Lausanne hervorgetreten sind, erwecken große Hoffnungen, und es
ist immerhin eine Freude, daß auf diesem Gebiete dem deutschen Geiste
die Anerkennung der Siegervölker nicht versagt werden kann.
Ganz außer Verbindung mit diesem großen Streben ist auch
mein persönliches Leben nicht. Es wirkt ja bis in das Arbeitsgebiet
jedes Pastors und noch mehr des Superintendenten hinein. Aber freilich
in diesem Augenblicke fühlt unsereiner noch mehr als die Freude an den
weltgeschichtlichen Fortschritten der Kirche die tiefe Erschlaffung,
welche ihr heute noch in dem Leben der Gemeinde anhängt. Kirchenaustritte
und -gleichgiltigkeit erfahren wir in Leipzig mehr als genug. Und so
sitzt einem ein Stachel im Herzen, daß man so wenig imstande ist, dem
"alt bösen" Feind zu begegnen.
Vor 4 Jahren haben derartige Empfindungen bei mir wieder
einmal zu einem rechten Zusammenbruch meiner Seele geführt. Ich mußte
einen längeren Urlaub nehmen, weil mein Gehirn vollständig ausgelaugt
war. In Bärenfels und dann in Freiburg fanden sich in 7 Wochen die Kräfte
wieder. Das war aber nur die Wiederholung eines viel ernstlicheren Anfalls,
den ich 1917 durchzumachen hatte. Die Kriegserregungen und die großen
Umwandlungen meines Lebens im Wechsel der Ämter und Heimatorte hatten
mich vollständig umgeworfen. Die Kräfte versagten gänzlich, und ich
habe damals vom April 1917 bis in den Oktober 17 hinein die Freiheit
nötig gehabt, bis ich mich wieder in das schwere Geschirre fand, das
mein Doppelamt mir nun einmal auferlegt. Es war eine eigentümliche Erfahrung,
daß ich auf der Heimreise von meiner letzten Station Freiburg aus noch
immer sehr mit der Angst vor der Arbeit und den Menschen kämpfte. Ich
glaubte, mein Geist sei nicht mehr fähig, mit geistig belebten Menschen
sich je wieder zu messen. Da war es ein Besuch auf der Durchreise bei
Schubert, der mir fast plötzlich das Selbstvertrauen wiederbrachte,
und nach wenigen Wochen waren die dunklen Wolken, die ein halbes Jahr
über mir gelegen hatten, wie von einem plötzlichen Sturmwind hinweggefegt,
und ich sah wieder die Sonne. Solche Dinge sind - Gott sei Dank - nicht
wieder an mich herangetreten; was ich vorhin erzählte, war dagegen nichts.
Nach der Rückkehr übrigens aus jener ersten Krankheitsperiode
schenkte mir Gott eine besonders große Elastizität meines Geistes. Ich
brauchte damals weniger Schlaf als je vorher, erwachte vollständig erfrischt
zwischen 4 und 5 Ulr und durfte mir leisten, etwa 2 Stunden lang im
Bett allerlei zu lesen, zu dem die Berufsarbeit mich sonst niemals hätte
kommen lassen. Viele Monate lang habe ich damals ganz regelmäßig zunächst
ein Kapitel der Bibel, wie ich es nach den Anweisungen der Brüdergemeinde
auch haute noch tue, gelesen, danach ein Stück aus Luthers Schriften
und endlich vieles aus Goethes, Schillers und Shakespeares Werken, -
und ich schreibe das jetzt nieder, um als eine tiefe, wahrhaftige Erfahrung
zu bezeugen, daß mir die alles Geistesleben der Menschen überragende
Größe der Heiligen Schrift damals unbedingt gewiß geworden ist.
Etwas von dieser Leichtigkeit des Arbeitens ist mir -
Gott sei Dank - bis heute geblieben. Für ganz selten kommen Zeiten der
Müdigkeit, gewöhnlich darf ich bis um Mitternacht und dann auch wenigstens
von 6 Uhr an vor und nach des Tages Last und Hitze mich an meinen Büchern
erfrischen und fühle, daß das tatsächlich Erfrischung ist.
Es kam die Inflationszeit, ein merkwürdiges Erlebnis für
uns Deutsche, das in unsere Lebensführung und in unsere Familienverhältnisse
tief hineingriff. Über die Ursache der seltsamen Erscheinung wage ich
nichts zu sagen, sie wird ja wohl auch heute noch von den Sachverständigen
verschieden angesehen. Genug, wir lebten in der ersten Woche statt von
1 Mark - von 10 Markscheinen, in der zweiten von 100 - und in der vierten
von Millionen, bis denn im November 1923 das Ausgabe-Buch Milliardenrubriken
einrichten mußte und man ironisch auflachte, wenn man eine Streichholzbüchse
mit 50 000 000.- bezahlte. Es war selbstverständlich ganz unmöglich,
mit den Gehaltsberechnungen diesem Wahnsinn nachzukommen. Viele von
uns gerieten in die bitterste Not, es mußte manches entbehrliche verkauft
werden, damit man nur für die nächste Woche zu leben hatte.
Ich hatte, wie so oft, das große Glück, daß die in
solchen Fällen stets einsetzende Energie meiner Elisabeth uns vor
dem Schwersten bewahrte. Sie wurde zur Verdienerin, ging in die Allgemeine
Deutsche Credit-Anstalt und schuf sich dort durch ihre Intelligenz sehr
bald einen sicheren Boden. Wir lachen heute noch manchmal darüber,
wie ihre fliegende Energie mit dem Angstruf der Kollegen charakterisiert
war: Achtung, Luftdruck! Sie mußten nämlich tatsächlich vor dem Luftdruck
ihre Zettel und Papiere schützen, wenn Elisabeth vorüberging, indem
sie sich mit beiden Armen darüberlegten.
So konnten wir wenigstens dies schwere Jahr hindurch uns
und unsere Kinder ernähren und haben körperlich denn nicht allzuschwer
unter der harten Zeit gelitten. Als freilich im Anfang 1924 die Befestigung
der Geldverhältnisse eintrat, nicht ohne eine wesentlich geringere Kaufkraft
des Geldes zu hinterlassen, da war Elisabeths schönes Vermögen dahin.
Die Stabilisierung war ja nur mit einer sehr geringen Aufwertung der
früheren Werte verbunden, und wir mußten uns nun darauf einrichten,
ganz mit meiner verhältnismäßig verringerten Besoldung auszukommen,
während wir bis dahin eine schöne Zubuße in Elisabeths Zinsen besessen
hatten. Das Leben ist härter geworden, umsomehr als unsere Kinder heranreiften
und die Ausbildungskosten sich stark vermehrten. Aber: der alte Gott
lebt noch! Und ich hoffe, mein Haus unverschuldet zurücklassen zu dürfen,
wenn ich einstens scheiden muß.
Es wäre übrigens sehr undankbar, wenn ich nicht auch hier
wieder der großen, aufopfernden Hilfe gedenken würde, welche uns in
jenen Notzeiten die Helfer geleistet haben. Unter der kräftigen Führung
ihrer Oberhelferinnen sind sie von Haus zu Haus gegangen und haben um
freiwillige Notbeiträge für die Kirche und speziell für unsere Gehälter
gebeten, eine Hilfe, die trotz täglicher Wertverschlechterung doch für
uns die Sorgen wesentlich erleichtert hat. Damals auch habe ich fühlen
dürfen, daß ich in der Kirchgemeinde-Vertretung und überhaupt unter
den Gemeindegliedern recht wertvolle Freunde habe. Ein dankbares Gedenken
setze ich hierher für Ihre Excellenz Frau Präsident von Tischendorf.
Seit langem bin ich sehr dankbar für die unvergleichliche Art, mit der
sie unsrem Frauenverband vorsteht. Es ist überall eine Schwierigkeit
in den Gemeinden, die kirchlichen Vereine von weltlicher Gesinnung und
Vergnügungssucht fernzuhalten. Bei uns gelingt dies fast ohne jede merkliche
Hemmung dadurch, daß eben Frau von Tischendorf mit dem tiefen Ernste
ihrer gläubigen Gesinnung und zugleich mit einer großen Menschenliebe
die Seelen derartig anfaßt,daß sie niedrige Wünsche ohne weiteres fallen
lassen. Je länger je mehr ist Frau von Tischendorf mir auch eine herzlich
verehrte persönliche Freundin geworden. Ich empfinde eine tiefe Freude
bei der Erinnerung an manchen Austausch unserer Empfindungen und Gedanken,
der das Verständnis füreinander ganz deutlich werden ließ.
Was die Führung der Vereine betrifft, so muß ich mich
auch bei Herrn Schütze, dem Leiter des Männerverbandes, bedanken.
Und schon ehe Frau von Tischendorf die Leitung des Frauenverbandes übernahm,
war dieser durch den gewissenhaften Dienst von Fräulein Therese Guthe
auf eine gute Bahn geführt worden. Das gütige Interesse, welches Professor
D. Dr. Hermann Guthe, der geschätzte Alttestamentler, und seine
Schwester an meiner Persönlichkeit genommen haben, gehört auch zu den
Wohltaten meines hiesigen Lebens.
Und hier ist der Ort, daß ich einer der größten Freuden
gedenke, welche mir mein Leben in Leipzig gebracht hat. Wohl sicher
auf Antrag von Professor Guthe hat die theologische Fakultät in Leipzig
mich am Reformationsfest 1921 zum Doktor der Theologie ehrenhalber gewählt.
Die Tatsache, daß ich 1921 der Einzige war, den Leipzig mit dieser Würde
bedachte, und das Elogium des Doktordiploms, das mich einen nennt, "der
unserer Landeskirche seit Jahrzehnten als eindrucksvoller Prediger,
als erfolgreicher Förderer des Gemeindelebens und als Freund kirchlicher
Kunstbestrebungen wertvolle Dienste geleistet", hat mich so beglückt,
daß ich hoffentlich nicht unbescheiden erscheine, wenn ich es wenigstens
an dieser Stelle als eine besonders schöne Erinnerung für mein Leben
niederlege. Ich hatte nicht entfernt daran gedacht, daß dieses Glück
mir einmal zuteil werden könnte. Umso größer war die Freude, als am
30. Oktober der Professor der praktischen Theologie und damals der Dekan
der theologischen Fakultät, Prof.D. Frenzel, mir das Diplom mit
überaus gütigen Worten selbst überbrachte.
Ich bin denn nun in meiner Familie der 8. Doktor der Theologie,
eine Tatsache, die in nicht sehr vielen Familien vorgekommen sein dürfte.
(Großvater Chalybaeus, Oberhofprediger Kohlschütter, sein
Sohn, Geh. Konsistorialrat Kohlschütter, Onkel Kühn, dessen
Schwiegersohn, mein lieber Vetter und Freund Drews, der leider
viel zu früh verstorbene, Onkel Heinrich Chalybaeus, der Präsident
des Konsistoriums in Kiel und in Hannover, Vater Ackermann und
ich.) Seitdem habe ich es wirklich als neuen Antrieb empfunden, daß
ich dem Elogium in seinem dreifachen Hinweis nur immer besser gerecht
werden möchte. Und ich hoffe, daß meine Gemeinde mir das Zeugnis gibt,
daß mein Streben wenigstens nicht ganz umsonst gewesen ist. "Aber darinnen
bin ich nicht gerechtfertiget" - 1. Cor. 4, 4.
Da ich mich durch diese Erinnerung veranlaßt gefunden
habe, von meinem geistigen Leben zu sprechen, so muß auch noch ein dankbarer
Rückblick auf die schönen Freizeiten geworfen werden, die ich nun 13mal
in Freiburg habe verleben dürfen. Dort heißt es - Zasiusstraße 107 -
von einem Zimmer, es ginge "der Geist des seligen Konsistorialrats"
um. Und immer, wenn ich dahin zurückkehre, fühle ich auch, daß das "selig"
seine eigene Bedeutung in Freiburg hat.
Diese liebe Gemeinschaft mit meinen beiden Geschwistern,
dieses völlige Vertrauen und gemeinsame Erleben aller lebenswichtigen
Dinge! Diese wundervolle Landschaft, drei Minunten von meiner Geschwister
Hause entfernt beginnt der Schwarzwald, und wenn man will, kann man
von dort aus tagelang wandern, ohne kaum je einen Menschen oder ein
Haus zu treffen. Der wundervolle deutsche Wald, von dem man nicht weiß,
ob man die Stellen mit den schwarzen Tannen oder die mit den lichten
und starken Buchen und Eichen höherschätzen soll. Der Schwarzwald ist
märchenhaft lieblich und heldenhaft stark zugleich. Wenn man vom Höllental
zum Feldberg aufsteigt, erlebt man diese menschliche Sprache aus allen
Arten der Schwarzwaldseele heraus ganz deutlich. Und wenn man das allerdings
seltene Glück hat, vom Feldberg oder vom Belchenturm aus die Alpenkette
zu schauen, dann jauchzt die Seele in der deutlichen Erfahrung, daß
sie denn doch noch Flügel hat!
Und dieses liebe Volk dort ringsum! und die Stadt mit
dem ewigen Dom! Man möchte immer wieder hinter das Geheimnis kommen,
warum dies Volk so unendlich viel echter und liebenswürdiger erscheint
als das bei uns. Ist es der Katholizismus mit seinen bunten Bildern?
Er hat etwas von einer eignen Kraft, die Menschen kindlich zu erhalten;
aber ich glaube, ich darf doch sagen: nein! erst Luther hat die deutschen
Menschen wirklich wieder zu Gottes Kindern gemacht, wo er nur recht
begriffen wird. Ist es der Rhein mit seinem Wein, der besonders drüben
im Kaiserstuhlgebirge wirklich recht gut schmeckt und sicher zur Heiterkeit
der Seele beiträgt? Ich glaube doch, daß der Professor Nestle
von Maulbronn mit seinem Spaß ein tiefes Urteil über den Wert von Süddeutschland
ausgesprochen hat: "Wir habe schon Spätzle gegesse, wie Ihr da oben
noch Eichle gefresse ha't".
Das Alter und deshalb die tiefe Verbundenheit mit dem
Christentum ist die Ursache von dieses Volkes Wert und verleiht ihm
seine unendliche Anziehungskraft. Etwas von diesem Schimmer liegt auch
auf den Hörsälen der Universität und auf dem Wesen der Professoren,
mit deren vielen ich nun schon in persönlichem Zutrauen mich verbunden
fühle. Ich habe im Kolleg gesessen bei dem katholischen Dogmatiker Krebs,
beim Kirchenhistoriker Göller, beim Archäologen Sauer,
die alle Priester ihrer Kirche sind und manchmal in Gesprächen, zu denen
wir gekommen waren, mir nur allzu hellhörig schienen, ob nicht auch
ein Laut von mir meine Sehnsucht nach Rückkehr in "die allein seligmachende
Kirche" erhoffen ließ. Der protestantische Archäologe Dragendorff,
der mittelalterliche Historiker und Wirtschaftsgeschichtler von Below,
kürzlich gestorben, auch der Mediziner Aschoff sind mir im "Rappen"
beim Weine wert geworden. Und namentlich den letzteren, aber auch nicht
wenige andere Professoren habe ich auch als treue Kirchgänger und ernste
Mitarbeiter in der Kirche schätzen gelernt.
Von Freiburg aus kehre ich jedesmal über den Bodensee
und seit zwei Jahren über Berchtesgaden nach Hause zurück, und die Tage
dort werden durch Freundschaft mit dem lieben Hause Kiendl und
durch die unvergleichliche Landschaft jedesmal zu einem ganz besondren
Feste. Ich bin meiner Nichte Nessi, der jungen Frau Kiendl, wirklich
recht dankbar, daß sie mir ihre Schwiegereltern zu Freunden gemacht
hat. Meine Nanna hat dort ja auch eine ganz besondre Heimat gefunden.
Und
dies ist nun das letzte, wovon die persönliche Geschichte bis hierher
zu berichten weiß. Meine Nanna hat - wie schon erzählt - am 18. Juni
1927 Hochzeit gehalten. Das war eine nicht bloß um ihrer Hauptsache
willen köstliche Familienfeier! Wir haben jetzt so selten unsere Freunde
um uns. Diesmal waren sie zu einem feinen, fröhlichen und auch - man
darf wohl sagen - geistvollen Polterabend alle da, die Zenkerschen Geschwister,
Kinder und Vettern ebenso wie die Ackermannschen und die lieben Leipziger
Freunde. Ein ganz besonders feines Stückchen hatte Elisabeth gedichtet:
die Hochzeitsreise in alter und in neuer Zeit. Gerd und Helene als Biedermeier
in die Postkutsche steigend, nachdem sie ihr Menuett getanzt, - und
dann der "Vetter", Gerhard Drews, der allbeliebte, mit Helenes
Freundin Inge Starck, zwei Menschen, die es garnicht eilig genug
haben konnten, in ihr Auto zu kommen.
Unser Gemeindesaal war gerade groß genug, um die Gäste
zu fassen. Die Hochzeit haben wir dann im engsten Kreise gefeiert, und
der Vater hat seinem Kinde in der Peterskirche drüben die Worte gesagt,
die ihm sein tiefstes Herz erfüllten und für die er den rechten Ausdruck
sich von seinem Herrn innig erbeten hatte. Der Trautext war Phil. 4,
4-7, den sich Nanna aus ihrer Gemütsart heraus erbeten hatte, und der
zu meiner Freude mit dem Trautext meiner Eltern übereinstimmt, an den
meine Mutter sich lebenslang so dankbar erinnert hat. Möchte er doch
einen ebenso glücklichen und hoffentlich längeren gemeinsamen Weg beleuchten
wie bei meinen Eltern! Die haben ihn Wort für Wort von sich aus bewährt
und haben deshalb auch seine Bewährung von ihrem Gott erfahren. Ein
mir altvertrautes liebes englisches Verswort hat sich auch an ihnen
erfüllt: Wer IHM ganz vertrauet, findet IHN ganz treu!
Nun weiß ich nichts mehr zu erzählen. Ich stehe am Ende
meiner Lebensgeschichte, soweit man sie heute aufschreiben kann. Das
ist ein eigentümliches Gefühl; ganz unwillkürlich wächst das Fragezeichen
der Zukunft zur Riesengröße empor: Was kommt nun? Mir ist, als ob Gott
der Herr mich aufforderte, Rechenschaft von meinem Haushalten zu tun
und mich mahnte, mich bereit zu halten. Und so erhebt sich die Frage
ganz von selbst nach dem, was ich erreicht habe in meinem bald 64jährigen
Leben und dem, was versäumt und verfehlt worden ist. Von dem letzteren
darf ich vor anderen Menschenaugen schweigen. Das gehört ganz und gar
unter das Wort des 51. Psalmes: "Gott, sei mir gnädig nach Deiner Güte,
und tilge meine Sünden nach Deiner großen Barmherzigkeit". Aber eben
diese unerläßliche Bitte soll mich dazu führen, am Schlusse dieser meiner
Lebenserinnerungen noch mein Glaubensbekenntnis auszusprechen.
Die andere Frage - nach dem, was erreicht ist - kann sich
zu allermeist ja nur auf den Menschen und Theologen in mir beziehen.
Die äußeren Erfolge eines Menschenlebens sind immer klein und auch in
ihrer Begrenztheit noch völlig abhängig von der Zeit und Umwelt, in
der wir leben.
Ich will also Euch, meinen Lieben, für die diese Zeilen
bestimmt sind, zunächst von meinem Glauben und dann von meiner persönlichen
theologischen Erkenntnis reden und bitte Euch, im Blicke auf mich aber
auch im Blicke auf Euch selbst einen deutlichen Unterschied festzuhalten
zwischen christlichem Glauben und christlicher Theologie. Ich meine:
Gott der Herr hat große seligmachende Tatsachen in dieser Welt geschehen
lassen. Wenn sich diesen das Herz öffnet, sodaß es die Tatsachen von
Gott ganz als persönliches Eigentum, als Lebenskraft erfasst, so nennen
wir dies: Glauben. Die Erkenntnis der Tatsachen, der Versuch
ihres Verständnisses muß ja nach der Persönlichkeit, die sich damit
beschäftigt, wohl sehr mannigfaltig sein. Ich habe deshalb den Richtungsstreit,
der in der Kirche leider eine so große Rolle spielt, nie recht verstehen
können und immer weit von mir abgewehrt. Wir fordern von jedem Menschen
als höchsten sittlichen Grund die unbedingte Wahrhaftigkeit. Wenn ich
bei einem Menschen, der anders denkt als ich, von dieser seiner Wahrhaftigkeit
überzeugt bin, so werde ich ihm stets mein Herz und meine Arme öffnen
und es als eine Fügung empfinden, durch die mich Gott bereichern will,
daß ich in eine so andere Geistesart hineinblicken darf, als die meine
ist. Eine Stellungnahme, die selbstverständlich garnichts zu tun hat
mit einer etwaigen Erweichung des eigenen Standpunktes. Jedem von uns
hat Gott der Herr aufgetragen, die Wahrheit zu suchen und nach bestem
Wissen und Gewissen Klarheit zu finden über das, was ein Christ für
Wahrheit halten soll.
So sei denn zunächst
mein
Glaubensbekenntnis
hier ausgesprochen. Ich könnte es ganz mit den Worten
des Apostolikums wiedergeben, die ich in jedem seiner Sätze für lebenswichtig
halte; doch ist's wohl auch etwas wert, wenn ein Mensch der Gegenwart
es in seiner heutigen Sprache auszudrücken versucht.
1. Ich glaube, daß Gott mein Vater ist, daß er mich also
lieb hat als sein Kind, lieb hat über all mein Verdienst und Würdigkeit
und lieb hat ohne alle Einschränkungen zu jeder Zeit, in jeder Lage
und in jedem Schicksal. Ich glaube, um dies zu verbessern, also nicht
an ein blindes und grausames Schicksal. Ich glaube vielmehr bei allen
Erlebnissen an Schickung, Fügung und Führung! Ich suche, es deshalb
nur immer mehr und mehr zu lernen, mich der göttlichen Führung zu überlassen.
"Ich will mich nicht mehr selber führen, der Vater soll sein Kind regieren,
ich geh nicht einen Schritt allein".
2. Daß Gott mein Vater ist, glaube ich trotz aller schweren
Erfahrungen, die dem zu widersprechen scheinen. Ich glaube es durch
Jesum Christum. Ich glaube, daß Jesus Christus die göttliche Liebe für
das ganze Menschengeschlecht und damit auch für mich in dieser Welt
zur Gewißheit gebracht hat. Ich glaube, daß Jesus zu diesem Zwecke aus
der Ewigkeit Gottes her in diese zeitliche Welt getreten ist. Der ewig
bei dem Vater war, ist zur geschichtlichen Wirklichkeit geworden. Ich
glaube, daß die Wunder Jesu ebenso wie seine Worte zum Erweis der göttlichen
Liebe getan und gesprochen worden sind. Ich glaube auch, daß der heilige
Gott mich armen Sünder ganz persönlich lieb hat und begnadigt. Ich glaube
das deshalb, weil ich Jesum lieb habe. Das ist nicht mein Verdienst,
sondern Gottes Gnade, daß er mich in diese Liebe hineingezogen hat;
aber nun macht sie mich zu Jesu Bruder und deshalb Gott angenehm. Ich
glaube, daß alles dieses durch die Auferweckung Jesu vom Tode vor unseren
Augen als göttliche Wahrheit bestätigt worden ist. Und eben deshalb
glaube ich auch an eine Verbundenheit der irdischen und der himmlischen,
der sichtbaren und der unsichtbaren, der zeitlichen und der ewigen Welt,
die meine persönliche Teilnahme an der Ewigkeit gewährleistet.
3. Das alles ist schon ausgesprochen und wird nur wiederholt,
wenn ich weiter bekenne: ich glaube an den heiligen Geist. Ich glaube,
daß Gott Geist ist und daß wir Menschen, zu seinem Ebenbilde berufen,
bestimmt sind, Geist zu werden. Ich glaube, daß alles Leben eine Arbeitsleistung
Gottes ist, die uns zu Geistern machen soll. Das Leben in der irdischen
Welt dient unsrer sowohl leiblichen als auch geistigen Erhaltung und
Fortpflanzung. Der Staat hat diesen Sinn, daß sich das alles in Ordnung
vollziehe. Aber die Werkstätte des heiligen Geistes ist die Kirche.
Ich glaube dankbar an eine innere Gemeinschaft der Gläubigen, d.h. derer,
die vom ewigen Geiste geführt werden. Ich glaube, daß ich keine höhere
Pflicht habe als die, mich eben von diesem Geiste führen zu lassen -
bewußt und willig. Ich glaube, daß der allmächtige und gnädige Gott
sein Werk nicht unvollendet lassen wird. Ich glaube deshalb, daß am
Ende der Dinge eine neue Schöpfung stehen wird, und daß ich berufen
bin, in dieser Schöpfung ein kleiner aber seliger Teil zu werden.
Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!
Etwas ganz anderes als der persönliche Glaube, wie gesagt,
ist jede Theologie. Diese ist einfach die Auswirkung unseres
intellektuellen Bedürfnisses. Zur Beherrschung unseres Lebens bedürfen
wir der geistigen Klarheit. So suchen wir uns auch über den Inhalt unseres
Glaubens klar zu werden, ihn nach Ursache und Wirkung, nach Zweck und
Wahrheit zu verstehen. In jedem ernsten Menschen steckt ein Stück Theologe,
wie in ihm auch sonst ein Stück vom Juristen und vom Geschichtskundigen
und vom Philosophen steckt. Den Mann der Wissenschaft unterscheidet
von den anderen nur die Gründlichkeit und das kritische Werkzeug seiner
Erkenntnisarbeit. Es liegt aber in der menschlichen Natur, daß wir in
unserem Werkzeug, das Gott uns verliehen hat, und das wir uns selbst
nach Maßgabe der von Gott uns verliehenen Kräfte erworben haben, verschieden
sind. Wir sind verschieden nach Maß und Mischungsverhältnissen unseres
Verstandes, Willens und Gefühls und ebenso unserer Phantasie und Intuition.
Es versteht sich deshalb von selbst, daß die Gedankensysteme, die wir
uns bilden, also unsere Philosophien und Theologien ganz verschieden
ausfallen müssen. Die
seligmachenden Tatsachen sind uns gegeben; aber die Art ihrer Erfassung
steht bei uns. So wollen denn meine Leser sich bei dem Folgenden gegenwärtig
halten, daß es sich in diesen Darlegungen nur um
meine
ganz persönliche Glaubensanschauung
handelt. Jede Theologie muß mit der Frage nach der Notwendigkeit
der Religion beginnen. Die Frage ist praktisch notwendig. Die Moderne
scheint ja zu einem sehr großen Teile sie verneinen zu wollen. Nichts
weiter beschäftigt den Menschengeist als die Beherrschung der Erde und
die Gewinnung ihrer Genüsse. Eine Beziehung zu Gott - wenn's einen gibt
- könnte nur als Hemmung der eigentlichen Daseinsaufgabe empfunden werden.
Ich muß wissen, ob diese Einstellung ein Irrtum ist oder nicht. Die
Frage ist auch theoretisch wichtig. Gehört die Gottverbundenheit zum
Menschentum oder kann man ein Mensch sein auch ohne Religion, d.h. ohne
Bezogenheit auf Gott? Ich finde für mich als unumgängliche Antwort eine
doppelte. Zunächst erkenne ich in dem, was Schleiermacher unsre "Schlechthinnige
Abhängigkeit" nennt, den Grund für die religiöse Forderung. Wir Menschen
fühlen uns zur Ausübung der Herrschaft über diese Erde geboren. Schon
um uns zu erhalten, bedürfen wir ihrer Güter, die wir nicht ohne Anstrengung
aller unsrer Kräfte gewinnen können. Aber eben dabei stoßen wir ununterbrochen
auf Widerstand. Wir machen unleugbar die Erfahrung, daß es höhere Kräfte
gibt, als wir sie selbst besitzen, und daß wir unsre Herrschaft über
die Erde nicht ausüben können, ohne ein gutes Verhältnis zu jenen höheren
Mächten zu gewinnen. Es gehört zu den höchsten Gewinnen der menschlichen
Erkenntnisarbeit aus den vergangenen Jahrtausenden, daß wir das Weltganze
uns nur als eine in sich geschlossene Einheit vorzustellen vermögen.
So müssen denn auch die höheren Mächte, die über uns walten, in einem
Wesen gipfeln, - und wir ahnen, daß jenes schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl
sich eben auf dieses eine Wesen bezieht.
Die Notwendigkeit der Religion wird noch von einer anderen
Seite her und hier noch tiefer begründet. Wir Menschen fühlen uns trotz
unsrer sinnlichen und leiblichen Gebundenheit als Geister. "Vom Wesen
des Geistes läßt sich immer nur mit ehrfürchtiger Ahnung sprechen. Aber
daß er, diese - mit diesem kurzen Worte sei er beschrieben - "schöpferische
Kraft", die unser Innerstes ausmacht, ein Ausfluß des Allgeistes sein
muß, ist uns unmittelbar gewiß. Wir wissen, ohne daß unsere Verstandeskräfte
zum Beweise zulangten, mit völliger Sicherheit, daß wir in unserem Edelsten
verwandt sind mit Gott. Die Frage nach der Notwendigkeit der Religion
findet so ihre zutreffende Antwort in dem Satze, mit dem Augustinus
seine Bekenntnisse beginnt: "Gott, Du hast uns zu Dir geschaffen, und
unsere Seele ist unruhig in uns, bis sie ruhet in Dir".
Die nächste Frage der Theologie ist denn nun die nach
der Erkennbarkeit Gottes. Die theologische Wissenschaft kann
der Mitarbeit an den erkenntniskritischen Fragen nicht entraten. Hier
spreche ich in aller Kürze meine Meinung nur dahin aus, daß wir heute
über Kants "Kritik der reinen Vernunft" weit hinaus sind. Wir wissen
heute nicht nur, daß wir mit unsrer Vernunft nicht über die irdische
Welt hinauszugreifen vermögen, sondern auch, daß wir in unserer Intuitionskraft
das Instrument besitzen, in die irrationale - oder besser überrationale
- Welt hineinzuleuchten. Die alten berühmten Gottesbeweise haben freilich
keine andere Bedeutung mehr, als daß sie das Recht für die Annahme eines
Daseins Gottes für die Vernunft begründen. Aber unsre Vernunft ist bestenfalls
ein Regulativ für unser irdisches Denken, ganz gewiß aber nicht ein
Instrument oder Fernrohr für das überirdische. Es ist jedoch dem Menschen
gegeben, daß er vermöge jener Kraft, welche die einen das unmittelbare
Gefühl, die anderen das Gewissen und wieder andere - zu denen ich mich
zähle - die Intuitionskraft (Einfühlungs- oder Anschauungsvermögen)
nennen, in die übersinnliche, ewige Welt einzudringen imstande ist.
Dies freilich nur, wenn diese übersinnliche, ewige Welt sich uns auf
irgend eine Weise offenbart; denn diese Voraussetzung ist mit dem Begriffe
der Anschauungskraft ohne weiteres gegeben. Es gibt nun zweifellos eine
doppelte Offenbarung Gottes. Man kann darüber verschiedener Meinung
sein, ob die alte Unterscheidung von natürlicher und übernatürlicher
Offenbarung die Sache trifft. Jedenfalls gibt es eine Offenbarung, die
mit den Dichterversen bezeichnet werden kann: "Alles Vergängliche ist
nur ein Gleichnis" oder: "Jede sprossende Pflanze, Die mit Düften sich
füllt, Trägt im Kelche das ganze Weltgeheimnis verhüllt". Ich denke
dabei auch gern an ein Wort von Luther: Deus in ipso facto videtur.
Die Intuitionskraft vermag, das Endliche und Vergängliche aus den Erscheinungen
auszuscheiden und kraft der ihr innewohnenden Phantasie das Ewige, Göttliche
mit einer gewissen Deutlichkeit vor sich aufzubauen. Jedoch nur eben
mit einer gewissen Deutlichkeit. Die vollkommene Klarheit wird erst
durch die unmittelbare Offenbarung erreicht, die uns in der geschichtlichen
Erscheinung des Gottessohnes Jesus Christus geschenkt ist. "Wer mich
siehet, der siehet den Vater!" - Ev.Johannis 14, 9.
Nun muß allerdings der Theologe auch die Frage beantworten,
woher denn die vollkommene Offenbarung in Christo möglich und uns gewiß
wird. Es liegt in der Menschlichkeit Jesu, daß auch er mit den Mitteln
menschlichen Denkens Gott erkannt haben mußte. Wie ist angesichts dieser
Tatsache das Wort von der unmittelbaren Offenbarung in Christo noch
berechtigt? Auch hier wieder setzt der Intuitionsbegriff ein, und es
tritt die wunderbare Wahrheit des Johannes vor Augen, die in den Worten
sich ausspricht: "Wir sahen Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als
des eingeborenen Sohnes vom Vater!" Ich darf wohl diese Betrachtung
mit einem Hinweis auf 1. Kor. 2, 10 schließen: "Der Geist erforscht
alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit." Wenn Paulus dort fortfährt:
"Welcher Mensch weiß, was im Menschen, ist, ohne der Geist des Menschen,
der in ihm ist? Also auch weiß niemand, was in Gott ist, ohne der Geist
Gottes", so führt er eben den Gedanken der Intuitionskraft zu der ihm
gebührenden Höhe empor. Wir Menschen werden kraft unsrer Intuition
unserer Umwelt mächtig! Der Mensch, der vom Geiste Gottes erneuert ist,
verwendet seine Intuitionskraft auch im heiligen Geiste und schaut,
was in Gott ist. Auf diesem Wege gibt es eine Erkennbarkeit Gottes für
den Menschen. - Freilich ein ernster Hinweis, daß nur ein wiedergeborener
Mensch ein Theologe sein kann.
An dieser Stelle möchte wohl darauf hingewiesen werden,
daß christliches Erkennen aber doch etwas wesentlich andres ist als
christlicher Glaube. Wohl ist im eben Gesagten verdeutlicht worden,
daß es ein christliches Erkennen ohne Glauben nicht geben kann; aber
es bleibt dabei: das Erkennen ist die Sache unserer Geisteskräfte, der
Glaube ist Sache des Herzens. Mit anderen Worten: die theologische Erkenntnis
hat es einfach mit der Feststellung dessen zu tun, was ist.
Der Glaube erfaßt den Wert, er fühlt die Bedeutung der Tatsachen
für das Leben.
Ich habe die Beweise für das Dasein Gottes abgelehnt,
unsere Intuitionskraft ist sich der Urtatsachen und damit auch dieser
allergrößten unmittelbar gewiß. Die erste inhaltliche Frage der Theologie
ist deshalb die nach dem Wesen Gottes. Darüber ist in den letzten
Jahren viel gearbeitet worden. Wir wissen, wie ganz besonders Otto
und in seiner Gefolgschaft wohl auch Barth und seine Schule den
Namen des "heiligen" oder auch des "ganz anderen" in den Vordergrund
gerückt haben. Ich bleibe bei Joh. 4, 24: "Gott ist Geist; und die ihn
anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten." Es gehört
zu den Freuden der Erkenntnisarbeit, wie ich sie mit möglichster Treue
zu leisten suche, daß die gesamten Wissenschaften und ganz besonders
auch die heutige Naturwissenschaft vom Materialismus zum Idealismus
in unverkennbarer Weise jetzt zurückkehren. Die neu-vitalistische Weltanschauung
weiß etwas von einer alles bestimmenden Lebenskraft. In der Naturwissenschaft
sind wir über die Annahme von Atomen zu der von Elektronen hinaufgeschritten
und ahnen schon etwas davon, daß es Materie vielleicht überhaupt nicht
gibt, sondern daß das, was uns als Stoff erscheint, vielleicht in Wirklichkeit
nichts andres ist als eine geheimnisvoll zusammengebundene Masse von
Kräften, von zweckmäßigen Kräften, womit denn das Allwalten des Geistes,
das doch wohl mit dem Worte "denkende Kraft" definiert werden darf,
auch in den empirischen Wissenschaftensein Majestätsrecht erhält. Für
die Philosophie bleiben da freilich noch ungeheure Rätsel zu lösen.
Wie die alles durchdringende, alles schaffende, denkende Urkraft - also
wie der absolute Geist die einzelnen geistigen Centren bis hinauf zu
dem doch offensichtlich mit einer gewissen Freiheit ausgestatteten Menschengeist
neben sich oder unter sich duldet, das ist dunkel. Hier spielt aber
auch immer wieder der alte erasmisch-lutherische Streit zwischen dem
"freien oder unfreien Willen". Genug, ich erkenne Gott als den absoluten
Geist und glaube, daß die Eigenschaften der Persönlichkeit, der Güte,
der Allmacht, der Freiheit und der Heiligkeit mit diesem Namen umschlossen
werden.
Die theologische Erkenntnisarbeit hat es aber, weil sie
die Erkenntnis der Religion betrifft, nicht eigentlich mit dem Wesen
oder Begriff Gottes zu tun, sondern mit unserem Verhältnis zu Gott.
Die Frage nach der Bestimmung des Menschen ist in der Eingangsbetrachtung
wohl schon beantwortet worden. Wohl sind wir bestimmt, die Erde uns
Untertan zu machen. Wirtschaft und Kultur - durch einen geordneten Staat
gepflegt - sind die höchsten irdischen Aufgaben. Aber der Mensch ist
zweier Welten Bürger, und seine irdische steht weit hinter seiner ewigen
Aufgabe zurück. Wir sind "zu Gott geschaffen", der Zweck unsres
Daseins ist, daß wir Geist werden, wie Gott Geist ist, in diesem Sinne
Ebenbilder Gottes, schöpferische Wesen, welche durch Erkenntnis sich
Ziele setzen, durch Liebe diese Ziele als Werte erfassen und durch Willen
sie verwirklichen. Das Neue Testament hat zwei Ausdrücke für das Lebensziel
der Menschen. Luther hat den beiden verschiednen griechischen Worten
die gemütstiefe deutsche Übersetzung gegeben: Seligkeit (in den Seligpreisungen
der Bergpredigt, Matth. 5) und: Gottseligkeit (1. Tim. 6, 6). Ich weiß
nicht sicher, was das Wort seinem Stamm nach in der Bergpredigt bedeutet.
Soviel ich weiß, spricht Homer mit diesem Wort von den "seligen" Göttern.
Nach unsrem lieben Lutherausdruck ist's mir zweifellos, daß das Wort
im Deutschen die völlige Erfüllung und Ausfüllung aller menschlichen
Anlagen bedeutet. Die Silbe "sal" drückt den Reichtum oder die Fülle
aus. Gottseligkeit heißt dann im engeren Sinne das Erfülltsein von Gott,
die Gottesfülle des Herzens. Dazu sind wir bestimmt. Das ist aber nichts
anderes als das, was soeben gesagt ward: wir sollen Geist werden wie
Gott! Und es liegt auf der Hand, daß damit die vollkommene Freude erreicht
wird, also das, was wir im letzten Grunde doch immer auch mit dem Worte
"Glück" im Sinne haben.
Wir Menschen tragen aber das Rätsel in uns, wir sind von
einem ungeheuren Widerspruch belastet. Wenn es in uns einen gewaltigen
Drang gibt, uns zur Seligkeit emporzuringen, wenn's tatsächlich in jedem
noch ungebrochenen Menschenleben nach dem Goethewort geht: "wir bekennen
uns zu dem Geschlechte, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt", so liegt
doch eben schon in dem Worte "emporringen" und in dem anderen "aus
dem Dunkel ins Helle" die Andeutung, daß "hinter uns" noch lange nicht
"im wesenlosen Scheine" das liegt, was "alle bändigt, das Gemeine".
Es ist mir, als sähe ich uns alle an Felsblöcke geschmiedet, die uns
in demselben Augenblicke in die Tiefe ziehen, wo die Flügel des Geistes
uns emporheben wollen. Die Bibel hat für diese Tatsache das Bild des
Kampfes zwischen Fleisch und Geist. Wir fühlen nach dem eben Gesagten,
was damit gemeint ist. Unser Fleisch ist auf der einen Seite ja sicherlich
nur das Gefäß und Werkzeug des Geistes und insofern haftet ihm kein
Makel an. Aber auf der anderen Seite wird mit diesem Worte ja eben die
geheimnisvolle Gebundenheit an die gottfremde Erde bezeichnet. Unsere
Seele ist der Kampfplatz zwischen dem Eigenwillen, der nach seiner Gewohnheit
die Erde und damit die Gottesferne liebt, und zwischen dem leisen Rufe
des Geistes, der uns in unsere wahre Heimat zieht. Aber ich kehre zum
ersten Bilde zurück. Der Felsblock, den wir an einer Kette nachschleppen,
ist zu schwer, als daß unsere Geistesflügel ihn mit uns emporzutragen
vermöchten. Er zieht uns hinunter, "das Fleisch gelüstet es wider den
Geist", - und die Erde hat uns wieder. Das ist der unselige Kampf mit
der Sünde, der Kampf wider den Teufel.
Er wäre hoffnungslos, wenn es keine Erlösung gäbe.
Die Menschheit steht unter einem unergründlichen Gotteswunder! Es ist,
wie uns Modernen unbedingt feststeht, alles unter das Naturgesetz der
Entwicklung gestellt, auch die menschliche Seele. Was einmal in die
Kette von Ursache und Wirkung in dieser Welt hineingebunden ist, das
muß sich entwickeln, d.h. es muß zu höheren Formen hinauf oder zu niederen
hinunter. Mit den vorigen Sätzen wollte ich beschreiben, wie der Drang
hinauf durch den Fleischeszug hinab unheimlich gekreuzt wird. Dem entsetzlichen
Menschheitserlebnis gegenüber geschieht das Gotteswunder! in Christus!
Ist es des Menschen Bestimmung, von unten nach oben zu dringen, so hat
jenes Wunder Gottes eine Bahn geschaffen von oben nach unten. Die Entwicklung
ist eine umgekehrte; der heilige Gott wird Mensch und tritt in eine
unheilige Welt, damit er diese zur Heiligkeit Gottes emporhebe und damit
"selig" mache. Und soweit hält die rettende Gottesliebe diese Gegenrichtung
ein - daß sie schließlich selbst parallel läuft der versinkenden Menschheitsrichtung
und -ja!- bis in die letzten Abgründe den Sündern nachgeht, um sie zu
ihrer wahren Gottesbestimmung zurückzuführen. "Also hat Gott die Welt
geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß Alle, die an ihn
glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben" - Joh.3,16.
"Das Wort ward Fleisch, und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade
und Wahrheit" - Joh 1,14. Gott hat uns das Wunder geschenkt, daß eine
Macht, die stärker ist als der uns niederziehende Steinblock, sich unter
unsere Geistesflügel stellt und uns mit sich emporträgt. "Aus Seiner
Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade!" - Die Theologie in diesem
ihrem Herzstück wird für mein Empfinden wundervoll dargestellt in dem
Bilde aus Dürers großer Holzschnittpassion - da Christus, sich tief
hinabbeugt, um aus den Höhlen der Erde die geretteten Sünder emporzuziehen.
Das Erlösungswerk Christi muß näher beschrieben und erklärt
werden. Worum handelt es sich eigentlich bei diesem Grundvorgang der
Menschheitsgeschichte? Er ist zu allen Zeiten mit verschiedenen Namen
bezeichnet worden: Versöhnung, Rettung, Erlösung - und der, der ihn
vollzogen hat, trägt den Heilandsnamen oder den des Seligmachers. Man
muß, um diesen Vorgang zu erklären, alle diese Namen in Verbindung halten.
Nur gemeinsam führen sie zu rechtem Verständnis des Evangeliums von
der in Christus uns geschenkten Gnade Gottes. Es handelt sich tatsächlich
um eine Versöhnung Gottes mit der sündigen Menschheit; der wohlverdiente
Zorn Gottes muß besänftigt werden. Dieser Forderung gegenüber wurde
die Lehre von dem im Gotteslamme Christus vollzogenen Versöhnungsopfer
genügen, und tatsächlich ist ohne ein solches Opfer eine Wiederherstellung
des Friedens zwischen Gott und Welt nicht möglich zu denken. Aber so
nehme ich ein Wort auf, das Holl im Anschluß an Calvin
und Luther geprägt hat, und das mir für meine Klarheit höchst
bedeutungsvoll geworden ist: Diese Versöhnungslehre muß "sittlich vertretbar"
sein. Es geht nicht an, daß wir das Opfer eines Anderen zum Ruhekissen
unsrer Seele werden lassen, wenn es uns in unsrem sittlichen Leben nicht
ändert, wenn unsere Sünde nicht aufgehoben wird. Und dies eben ist der
Sinn unserer Erlösung und Rettung, daß Jesus Christus, der sich in voller
Reinheit mit seinem ganzen Leben und bis in den schweren Tod hinein
Gott aufgeopfert hat, durch unsren Glauben an ihn, d.h. durch die vollkommene
Vereinigung unserer Seele mit der seinen zu unsrem Heiland wird. Er
heilt durch sein reines Leben (und sein Tod ist nur die Besiegelung
dieses Lebens) unsere Krankheit. Mit einem Gegenwartsbilde kann ich
das so bezeichnen, daß die verbrauchten und kranken Blutkörper in unseren
Gliedern durch das von Christus ausgehende Serum in gesunde Blutkörper
zurückverwandelt werden, - und so wird Christus zuletzt unser Seligmacher,
heißt: die aus der Sünde Erretteten schafft er durch seine Gemeinschaft
zu solchen wahrhaften Menschen um, die in der Fülle ihrer Menschlichkeit,
d.h. ihrer Gottebenbildlichkeit leben, also gottselig sind. "Ist Jemand
in Christo, so ist er eine neue Kreatur!"- 2. Kor. 5,17. Das ist die
biblische Rechtfertigungslehre, wie ich sie im Sinne Luthers richtig
zu verstehen meine.
Es drängt mich nun noch, einmal sicherzustellen, daß damit
nicht etwa von einem Verdienste des Glaubens geredet werden soll. Tatsächlich
werden wir selig durch den Glauben an den uns neuschaffenden Christus;
aber dieser Glaube ist nicht im geringsten unser Verdienst, sondern
ganz und gar auch eine wunderbare Gnadengabe von Gott. Das weiß jeder,
dem sie zuteil geworden ist. "Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung,
deren ich nicht wert!"
Die dabei zurückbleibende aufregende Frage, die in Rom.
9, 15 ff. behandelt wird, warum dem einen das Glaubensgeschenk zuteil
wird, während ein anderer trotz aller Ehrlichkeit es nicht findet, beantworte
ich mir dabei in zweifacher Weise. Ich glaube, daß Gott an jede Seele
einmal sein Angebot gelangen läßt, - und daß der Unglaube schließlich
immer zur Sünde wird. Und ich glaube zum andern auch, daß Gott bei manch
einem Menschen den Glauben, der zur Seligkeit führen muß, sieht, bei
dem wir Menschen und auch er selbst ihn nicht erkennen können.
Das Christentum ist eine Religion und nicht eine Weltanschauung,
und zwar ist's eine geschichtliche und nicht eine theoretische Religion.
Unser Glaube ist auf Tatsachen gestellt und nicht auf Lehren. Da ergibt
sich mit Notwendigkeit die geschichtliche Tatsache der Auferstehung
Jesu Christi. Wenn die Weltgeschichte schließlich keinen anderen Sinn
hat, als die Menschheit zum Geiste zu führen - zu dem gottesebenbildlichen
Geiste, zu dessem Wesen das ewige Leben gehört, - so muß der, der auch
in der menschlichen Erscheinung niemals etwas andres gewesen ist als
ewiger Geist, das ewige Leben in sich tragen und denen, die in seiner
Nachfolge zum Geiste werden sollen, muß sein ewiges Leben durch die
Tatsache gezeigt werden. Wir, die wir der irdischen Sünde und deshalb
auch der Vergänglichkeit noch unterworfen sind, tragen das ewige Leben
in uns kraft unsres Glaubens in der Hoffnung. - Er aber, "welcher keine
Sünde getan hat", brauchte nicht nur zu hoffen, er besaß das
Leben. "Der Herr ist der Geist" - 2. Kor. 3, 17
"Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit,
und wir werden verklärt in dasselbige Bild von einer Klarheit zur andren,
als vom Herrn, der der Geist ist" - 2. Kor. 3, 18. Mit diesem Satze
kann ich denn einleiten, was weiter zu sagen ist. Seit der Auferstehung
Christi hat die Menschheitsgeschichte nur noch den einen Sinn, daß wir
Menschen in "dasselbige Bild verkläret werden" sollen. Es gibt nur ein
Entweder - Oder. Entweder diese Verklärung in den Geist vollendet sich
an uns oder wir gehen unter. — Und Gottes Arbeit an dieser Welt vollzieht
sich in der Kirche. Es ist eine richtige Bezeichnung, wenn die Kirche
die Werkstatt des heiligen Geistes genannt wird. Gott sei Dank, sie
ist noch viel mehr! Wir glauben an die unsichtbare Kirche, das ist "die
Gemeinschaft der Heiligen". Wir, die wir wahrhaft Christen sind, haben
- mehr intuitiv als vor unseren leiblichen Augen - eine Verbindung untereinander,
die uns beglückt. Als Glieder am Leibe Christi sind wir einer des andern
Glied, und diese Tatsache ist uns von gleichem Werte wie unsere Gemeinschaft
mit unserem Herrn - sie ist ja, diese Gemeinschaft selbst, nur in einer
anderen Form. Aber es sind hohe Zeiten unsres inneren Lebens, wo wir
die Brautgestalt der Kirche innerlich erleben. Solange wir im Leibe
wallen, bleibt es die Regel, daß auch die Kirche ihre Magdgestalt behält
und eben als nichts anderes uns erscheint als wie die Dienerin zu unsrem
Heile, d.h. zu unsrer Vergeistigung. Wir müssen da das Äußere und das
Innere unterscheiden. Es bleibt geheimnisvoll und wunderbar, aber wir
dürfen es glauben, daß der heilige Geist Gottes in seiner großen Kraft
und Vollkommenheit sich uns vermittelt eben die Kirche, die in ihrer
äußeren Gestalt aus lauter immer noch sündigen und irrenden Menschen
besteht. Es ist ein ungeheurer Widerspruch in dem Satze: wir
predigen das Wort Gottes. Wird nicht das ewige, reine Gotteswort in
demselben Augenblicke unrein und vergänglich, wo wir schwachen Menschen
es auf unsre Lippen nehmen? Dennoch bleibt es dabei: Gott vollzieht
in der Kirche immer aufs neue dieses Wunder, daß nicht Menschenweisheit
sondern Gottesweisheit in die Welt hinausströmt, und daß immer aufs
neue Menschen wiedergeboren werden, d.h. daß sie aus der "Welt" hineinversetzt
werden in das Reich und Vaterhaus Gottes. Und immer noch kommt es zu
der großen "Buße", zu der großen "Sinnesänderung", die eben aus den
dem sündigen Irrtum und der Nichtigkeit ergebenen Menschen Träger des
ewigen Geistes macht. So liegt es klar in der Linie einer von Gott bestimmten
Menschheitsgeschichte, daß Menschen ins ewige Leben kommen können und
müssen. "Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubet,
der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet, und glaubet an
mich, der wird nimmermehr sterben" - Joh.11, 25/26.
Unser Christenglaube mündet in eine große Hoffnung
aus. Das Wort des alten evangelischen Mystikers Oetinger ist
mir immer sehr lieb gewesen: Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes.
"Wir glauben an die Auferstehung des Lebens!" Bei diesem Satze meldet
sich in uns ja wohl immer ein gewisses Widerstreben. Wir empfinden unser
leibliches Leben doch nur allzu oft mehr als eine Hemmung und Fessel
als wie eine angemessene Wohnung unsrer Seele. Und das, was ich früher
von den modernen Ahnungen einer absoluten Geistigkeit alles Seins sagte,
scheint auch einen Widerspruch anzumelden. Dennoch sind wir irdischen
Wesen so ganz in die Vorstellung der leiblichen Erscheinung gebunden,
daß wir davon auch für unser ewiges Leben - für die Zeit, wo wir verklärte
Geister sein werden - nicht Abstand nehmen können. Wir dürfen annehmen,
daß der Geist sich immer den ihm angemessenen Körper baut. Wenn unser
Geist vollkommen sein wird, dann wird auch seine Erscheinung vollkommen
sein. Und das ist ein herrlicher Gedanke! Wie wird das sein, wenn wir
- 1. Joh. 3, 2. - "Ihn sehen, wie Er ist" und wenn wir in Seiner Gemeinschaft
uns wiedersehen und alle die, die uns vorangegangen sind und die Ihn
gefunden haben! Wir werden dort alle ganz anders sein und werden uns
doch an dem erkennen, was schon hienieden an uns ewig war, und was wir
als unsere persönliche Eigenart vom Ebenbilde Gottes schon an uns getragen
haben.
Dies ist denn nun also der Schluß. Was Gott der Herr noch
weiter mit mir vorhat, ist meinen Augen verborgen. Beim Ausblick auf
die Zukunft drängt sich die Sorge um das Schicksal der Meinigen auf.
Wir stehen in einer dunklen Zeit, so wie früher ist keine Familie mehr
gesichert. In allen bisherigen Generationen durfte ein Vater, wenn er
seine Augen schloß, mit ruhiger Gewißheit auf die Zukunft seiner Kinder
blicken, wenn diese nur etwas Tüchtiges gelernt hatten. Heute stehen
wir in einer solchen Umwälzung aller sozialen und wirtschaftlichen Begriffe
und Verhältnisse, daß eine ruhige Entwicklung für kein Menschenleben
mehr gewährleistet ist.
Ich muß Euch, meine Kinder, auf den Ocean des Lebens hinausschiffen
lassen in einem schwachen Boot und ohne die geringste Klarheit, wie
dieses die Stürme, die jetzt so besonders stark sind, bestehen wird.
Aber ich halte mich auch hier an unsere Christenpflicht des Gottvertrauens.
Der Heiland hat zu seinen Jüngern gesagt: "Fahret auf die Höhe!", und
ich denke noch einmal an das Vermächtniswort von Hans' und Nannas Mutter:
Er bringt uns noch alle in Sein Schiff!
In diesem Augenblicke konzentrieren sich nur meine Wünsche
in der einen Hoffnung, daß es mir noch vergönnt sein möge, solange im
Amte und in dessen Besoldung zu stehen, bis ich meine noch nicht am
Ziele stehenden drei Kinder durch ihre Schulen gebracht haben werde.
Aber ich bin fast 64 Jahre alt und stehe in einem großen Amt. Sollten
die Kräfte doch zeitiger versagen, so muß ich mich auf die Festigkeit
Eures Willens, Eures Charakters verlassen und hoffe zuversichtlich,
daß Ihr auch dann nicht ruhen werdet, bis Ihr Euch aus eigener Kraft
die Stellung verschafft habt, welche die Bedingung eines gebildeten
und im Geiste stehenden Menschenlebens ist. Unsere Vorfahren haben seit
langer Zeit von solcher Bedrängnis äußerer Art wohl nichts gewußt, wie
sie der Weltkrieg und die Revolution über uns Deutsche von heute gebracht
haben. Aber ich wünsche Euch den hohen Geist, der eben "auch der Trübsale
sich rühmt" (Rom. 5, 3) und der es weiß, daß "denen, die Gott lieben,
alle Dinge zum besten dienen". Ja, meine Kinder, ich wünsche Euch einen
hohen Geist!
Laßt's Euch von Eurem Vater noch einmal sagen: nicht die
äußere Erscheinung und glänzende Verhältnisse, sondern der innere Wert
ist das, was allein erstrebt werden muß. Ich wünsche, daß Ihr Gottseligkeit,
bescheidene Menschenliebe, Fleiß und völlige Wahrhaftigkeit und Echtheit
als Ideale jedes und somit auch Eures Lebens erkennt und unter allen
Umständen erstrebt. Dann dürft Ihr Euch auch der Wahrheit für gewiß
halten, die das Neue Testament dreimal aus dem Alten wiederholt, und
die die Grundlage eines jeden echten Lebensglückes ist: "Der Gerechte
wird seines Glaubens leben."
Als Sohn meines Vaterlandes sehe ich, wie das heutzutage
nicht anders sein kann, mit schwerer Sorge in die Zukunft. Die innerpolitischen
Fragen sind in höchster Gärung. Die kommunistisch-bolschewistische Stimmung
der arbeitenden Klassen ist noch im Steigen begriffen. Und wo sie nicht
herrscht, da ist der radikale Sozialismus der anderen - milderen - Form
der Sozialdemokratie überlegen. In schroffem Gegensatz dazu stehen die
politischen Meinungen der Bürgerschaft und ihrer gebildeten Stände.
Und so sehr ich glaube, daß ihrer Bildung ein gewisser Anspruch auf
Führung im Volke nicht verwehrt werden darf, so fürchte ich doch ein
doppeltes: nämlich, daß entweder der Egoismus und der Wille zum Genuß
in unseren Ständen noch gar zu ungebrochen lebt, oder daß unsere Gesellschaftsschichten
nur gar zu konservativ an der Wiederherstellung des alten und sicher
nicht wieder heraufzubeschwörenden politischen Zustande hängt.
Worauf es hinauswill, läßt sich, glaube ich, von niemandem
erkennen. Wir sind heute viel mehr als seit Jahrzehnten und vielleicht
Jahrhunderten auf dieses "es will" hingewiesen. Und wohl dem, der doch
bei diesem Rätsel und Geheimnis, bei dem unpersönlichen "es" nicht bleibt,
sondern der im Glauben zu hoffen wagt: Gott will!
Mit meinem persönlichen Urteil habe ich mich in der Politik
immer sehr zurückhalten zu müssen geglaubt. Ich habe zu deutlich gemerkt,
daß ich das unendlich komplizierte Gewebe nicht überschauen und deshalb
auch nicht fortweben kann. Es ist nur eine tastende Meinung, wenn ich
manchmal zu denken wage, daß wir als einen gesunden Fortschritt die
Richtung auf einen gerechten, nationalen Sozialismus ["Von
innerem Range kann in Deutschland nur der Sozialismus in irgend einer
Fassung sein." Osw. Spengler, Preußentum u. Sozialismus.]
hin zu betrachten haben. Diese Meinung beruht auf unserem jetzt so allgemeinen
Glauben an die Entwicklung und an den Fortschritt des Menschengeistes,
und ich bin insofern jedenfalls politisch liberal, als ich eine solche
- wie ich glaube gottgewollte - Entwicklung nicht durch den Herrschaftsanspruch
nur scheinbar übergeordneter Geister beeinträchtigt wissen möchte. Aber
es ist allerdings auch für mich eine feststehende Wahrheit, daß Politik
und Frömmigkeit nicht so weit von einander getrennt sind, wie es die
Anschauung unsrer Zeit fast als selbstverständlich betrachtet. Es gibt
sicherlich keine auf die Dauer erfolgreiche Politik, die sich nicht
unter den Grundsatz jenes biblischen Mannes stellt, der auch ein Politiker
war und doch betonte: "Ich bin unter Gott"!- l. Mose 50, 19.
Im Augenblicke fängt die Frage nach dem Recht der deutschvölkischen
Bewegung an, mich zu fesseln. Wir Christen werden sie aufmerksam verfolgen
müssen, um nicht ihr gegenüber in denselben Fehler zu verfallen, den
wir - ganz im Unterschied von England - dem Sozialismus gegenüber begangen
haben. Es ist noch allzu unklar; aber sicher gilt hier erst recht, was
oben von Religion und Politik gesagt ward.
Das Gebiet meiner über das Persönliche hinausgehenden
Sorgen ist meine Kirche. Was steht uns da wohl bevor? Ich kann die häufig
gehörte Anklage, daß "die Kirche" ihre Pflicht nicht erfülle und nicht
sähe, nie ohne ein gewisses Unbehagen hören, weil ich glaube, so können
nur Menschen reden, die sich mit ihr nicht ernstlich beschäftigen. Daß
"die Kirche" eine menschliche, sehr menschliche Einrichtung ist, das
ist doch selbstverständlich, und diese Schwäche teilt sie mit allen
menschlichen Einrichtungen. Aber sie muß einmal sein als Organ der göttlichen
Arbeit an uns Menschen, und daß in ihr auch heute Männer von höchst
achtbarer geistiger Tüchtigkeit und sittlicher Reinheit walten, das
sehe ich doch alle Tage.
Es ist ein Problem, dessen Lösung außerhalb der Kräfte
einzelner Menschen liegt, warum die Kirche augenblicklich so einflußlos
ist. Wie das anders werden soll, weiß ich nicht, - nur daß ich überzeugt
bin, auf dem jetzt oft angepriesenen Wege einer Angleichung an Rom haben
wir diese Lösung nicht zu suchen. Rom bezahlt seine Machtstellung zweifellos
mit der Preisgabe des eigentlichen Wertes des Christentums, nämlich
der persönlichen Gottesgemeinschaft. In der Gemeinde ist unser Rätsel,
wie wir einen größeren Teil der sogenannten Gemeindeglieder wieder lebendig
machen. Ich glaube, daß hier an nichts anderws gedacht werden darf,
als an eine wahrhafte Seelsorge. Eine Sorge um die Seelen, die den Inhalt
und die Form unsrer Predigten ebenso wie unser Verhalten bei fleissiger
Besuchstätigkeit betrifft, daß wir nur hier und dort immer ganz als
wahrhaft hingegebene Jünger Christi erscheinen! Es gehört für mich zu
den Lichtblicken auch in dem Dunkel des kirchlichen Lebens, daß wir
in der jüngeren Theologenwelt einer ungemein energischen und auf die
letzten Gründe dringenden Arbeit begegnen. Männer wie Barth und
der junge Althaus haben schon große Wirkungen auf die Seelen
des theologischen Nachwuchses erzielt, die wertvoll bleiben - man möge
über ihre Theologie denken, wie immer man will.
Ein anderer Lichtblick ist die in den Großstädten wenigstens
fühlbare Gewißheit, daß wir eine kleine lebendige Gemeinde überall haben.
Und denen, die in meinem Kreise dazugehören, bin ich dankbar, daß sie
mir eben dadurch zu täglich erneuter Freudigkeit meines Lebens verhelfen.
Ich bin sehr glücklich über meine Bibelstundenfreunde und meine Helfer.
Zuletzt schaue ich auch mit dankbarer Zuversicht hin auf
die großen Bestrebungen unserer Gesamtkirche, die sicher auch ihre Bedeutung
für die Einzelgemeinde und für den einzelnen Christen je mehr und mehr
offenbaren werden. Wir haben 1926 die große Weltkirchenkonferenz für
"praktisches Christentum" in Stockholm gehabt, der sich in diesem Jahre
eine gleiche für "Glauben und Verfassung" in Lausanne angeschlossen
hat. In beiden sind wir noch weit vom Ziele geblieben; aber ganz besonders
bei der letzten ist es doch meines Erachtens sehr deutlich geworden,
wie sehr wir um dieses Ziel ringen müssen. Lausanne hat uns gezeigt,
daß die großen protestantischen Denominationen nicht einmal über das
Wesen des Christentums einig sind. Wir können aber ohne solche Einigkeit
auch nicht zu der der brüderlichen Liebe und der gemeinsamen Arbeit
kommen.
Ich will es noch oft in meine Gebete nehmen, daß die Christenheit
auf Erden sich als solche verstehe und finde. Ich sehe die Menschheit
ihrem entgiltigen Schicksal entgegenschreiten, das in einer großen Scheidung
sich vollziehen wird und jetzt schon immer deutlicher zu vollziehen
scheint. Es gilt zu bitten für uns selbst, für die, die wir lieben,
und für unser ganzes Vaterland, daß wir zuletzt zu denen gehören dürfen,
für die der Heiland gebetet hat: sie sollen "eine Heerde und ein Hirte"
werden.
Ja, so gehe ich meinem Ende entgegen! Wann es wohl kommen
wird und wie? Das Wann liegt ganz in Gottes Händen und ist dort wohl
geborgen. Und das Wie? Wird es ein stiller, schmerzloser Übergang für
meine Seele sein dürfen, "daß sie mit Heil anlände in jenem Vaterland"?
Die bange Schwachheit, die wohl keiner ganz überwindet, wünscht das
natürlich! Aber Einige sind schon immer auf einem schweren Wege dem
Tode entgegengeführt worden! Und die noch andauernden Christenverfolgungen
in Rußland lassen es auch uns nicht unmöglich erscheinen, daß wir deutschen
Christen unsern Glauben vielleicht mit dem Zeugentode werden bestätigen
müssen.
Nicht ohne Angst schreibe ich daraufhin, aber ich schreibe
es mit festem Willen: ich kenne das ernste Wort meines Herrn: "Wer mir
will nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf
sich und folge mir!" und ich bete darum, daß es fest in mir bleibe:
"Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Ob
mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist Du doch, Gott, allezeit
meines Herzens Trost und mein Teil!"
Am Montag nach dem 2.Advent
5. Dezember 1927.
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Walther Zenker 1929
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Walther Zenker starb am 12. November 1932 in Dresden.
Seine zweite Frau Elisabeth und seine fünf Kinder überlebten
alle den 2. Weltkrieg. Sein Enkel Hans Christoph - der einzige Sohn
seines ältesten Sohnes Hans - ist jedoch als 19-jähriger Soldat
kurz vor Kriegsende gefallen.
Meine Großmutter Elisabeth wohnte nach dem 2. Weltkrieg bei
ihrer Tochter Helene in Schweden. Sie starb 1978 in Stockholm.
Mein Onkel Hans, der im 1. Weltkrieg als Offizier teilnahm
und ein eisernes Kreuz erhielt, war im 2. Weltkrieg als Geistlicher
an der Ostfront tätig. Er starb 1952.
Meine Tante Nanna lebte in kinderloser Ehe mit Otto Schweitzer.
Sie starb erst 1991 mit 93 Jahren.
Meine Tante Helene hat 1933 nach Schweden geheiratet. Sie
starb 1980 in Stockholm.
Mein Vater Gerd wurde Diplomingenieur. Er hat meine Mutter
in Schweden kennengelernt, wo er sie 1939 heiratete. Im Kriege war er
an der Technischen Hochschule in Dresden als Entwickler von Flugzeugmotoren
tätig. Nach dem Kriege ist er seiner Frau und Kindern nach Schweden
gefolgt. Er starb 1997.
Meine Tante Hertha war Hebamme. Sie ist unverheiratet geblieben
und starb 2008 in Dresden.
Weiteres über Walthers Ahnen und Nachwuchs ist unter "Family
Tree" bei www.zenker.se zu finden. /SZ
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Walthers fünf Kinder um 1928: Von links Hans mit seiner
Frau in zweiter Ehe Susanne ("Suse") Tunder, Helene,
Marianne ("Nanna") mit ihrem Gatte Otto Schweitzer,
Gerd, Hertha.
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