Mein Leben 1864 - 1927 von D. Walther Zenker

 

[Ich habe die Bilder und ein Inhaltsverzeichnis zugefügt und den Text, der im Original sehr kompakt ist, durch "neue Zeile" etwas aufgelockert. /SZ]

Vorwort
Eltern
Die Elemente meiner Bildung
Die Universität
Die Kandidatenzeit
Taubenheim bei Meißen
Lockwitz
Dresden-Striesen
Zweiter Hofprediger
In Leipzig in der Petersgemeinde
Mein persönliches und mein Familien-Leben seit meiner Übersiedlung nach Leipzig
Mein Glaubensbekenntnis
Meine ganz persönliche Glaubensanschauung

Walther Zenker 1927Mein Großvater Chalybaeus hat in der uns allen so lieben Lebensbeschreibung +) seine Nachkommen gebeten, daß auch wir unsre Erinnerungen aufzeichnen sollten. Wenn jede Generation das täte, so käme gewiß einst ein Buch heraus, welches allgemeinen Wert besäße, ein Stück Kulturgeschichte des deutschen Volkes, in Einzelschicksalen widergespiegelt und belebt. Von seinen Kindern hat meines Wissens keines des Vaters Wunsch erfüllt, trotz mancher Vorsätze dazu; auch mein Vater hat es nicht getan, der allzu bescheidene Mann. - Ich möchte auch nicht gern in den Ruf der unbescheidenen Selbstüberschätzung kommen! Aber des Großvaters Wunsch hat mir schon immer kräftig eingeleuchtet; und auf der anderen Seite habe ich es oft als eine schmerzliche Lücke empfunden, daß ich von meinen Eltern kein solches Selbstzeugnis besitze, welches ein Urteil über ihre Strebensziele, ihre Lebensmotive und ihre Überzeugungen gestattete. Um noch eine Weile bei meinen Lieben nachzuleben, wenn ich die Augen geschlossen habe, und um die oben bezeichneten Wünsche zu erfüllen, wenn sie auch in ihnen aufsteigen sollten, habe ich die selbstverständliche Scheu überwunden und mit lieber Hilfe das Folgende geschrieben.

D. W.Zenker.

+) Sie reicht leider nur bis 1829. Das war Großvaters 33. Lebensjahr, das Todesjahr seiner 1. Frau, Luise von Kretschmer, und das Jahr seiner Berufung von der Fürstenschule Meißen an die Universität Kiel.


Mein Kinderbettchen, eine Wiege ist's wohl nicht mehr gewesen, hat in Dresden-Altstadt auf dem Rosenweg gestanden, wo ich am 4. Februar 1864 als Sohn des Zollreferendars Albert Julius Zenker und seiner Frau, Agnes Luise geb. Chalybäus, zur Welt kam. Das Haus steht heute noch, wohl jetzt Rosenstraße 11 genannt, neben einem andren, ganz gleichen, hinter die neuere Straßenfront weit zurückgeschoben. Zwei staub- und rußbedeckte Vorgärten trennen die Häuser von der Straße. Irgendwelche persönliche Erinnerung habe ich nicht mehr an dieses Heim meiner ersten Kindheit. Ich glaube, mein anderthalb Jahre jüngerer Bruder Otto ist schon auf der Ammonstraße 80 geboren.

Meine Eltern gehörten eben zu den Bevorzugten, welche dem aufstrebenden, laut und schmutzig werdenden Industrieviertel beizeiten entrinnen durften. Ammonstraße 80 - jetzt No.28 - zwischen der Kl. Plauenschenstraße und der Poliergasse gelegen, liegt in einer geschlossenen Häuserfront; aber damals wenigstens - und wohl auch heute noch - lag ihm der große Garten der Taubstummenanstalt gegenüber, und über diesen hinaus sahen wir von unsrem 3. Stockwerk in unbeschränkte Weiten: zur Rechten bis nach Wilsdruff hinüber, mehr links nach Moreaus Denkmal auf den Räcknitzer Höhen, und wenn man sich etwas hinausbeugte, so konnte man wohl die Vorhöhen der Sächsischen Schweiz noch sehen. Moreaus Denkmal, ein Dreimaster und ein Degen auf mächtigem Granitwürfel, zwischen damals stattlichen Eichen - es hatte uns Kindern vor 1870 noch etwas zu sagen. General Moreau hatte sich von seinem Kaiser Napoleon getrennt und war für die Sache der deutschen Freiheit an der Seite der Verbündeten Fürsten gefallen, welche in den Augusttagen 1813 vor Dresden kämpften. Das lebte noch in unsren Familien.

Von der Umgebung unsrer Kinderheimat nur soviel: wir waren in 10 Minuten im freien Feld. Nur wenige Villen an der Chemnitzer- und an der Bergstraße, die nach Räcknitz führte, trennten uns von Korn- und Mohnblumen und vom Schmetterlingsfang. Aber im wesentlichen habe ich meine Kinderfreiheit in dem kleinen Garten hinter dem Hause genossen, in dem auf einer kleinen Anhöhe, von runder Bank umgeben, eine mächtige, das vierstöckige haus fast überragende Weide nicht ohne unvergeßlichen Eindruck auf mich geblieben ist. Doch von dem Haus und seiner Genossenschaft später. Jetzt will ich von meinen

Eltern

reden. Mein lieber Vater! Ich schätze mich heute und immer glücklich, daß dieser Mann mein Vater war. Als Sohn des kgl. Privatsekretärs Geh. Hofrats Albert Zenker und seiner Frau, Emilie geb. Kohlschütter, war er von beiden Seiten her der Abkömmling einer alten Juristen- und Beamtenfamilie.

Der erste bekannte Vorfahr steht freilich erst gegen Ende des 30-jährigen Krieges im Stammbaum, er scheint ein Bauernsohn aus Weiffa bei Bautzen gewesen zu sein, ist aber Steuerbeamter geworden und sein Sohn war schon Jurist. Mein Vater, juristischer Finanzmann, ward Zollrat, Oberzollrat, Finanzrat im Ministerium, Geh. Finanzrat, stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrate und in den letzten sechs Jahren seines zu früh abgebrochenen Lebens war er kgl. sächsischer Zoll- und Steuerdirektor, der Leiter des sächsischen Zoll- und Steuerwesens, mit dem Range in der 2. Hofrangordnung.

Wir Kinder waren wohl stolz, wenn er zu Hofe ging in seiner goldgestickten, grünen Uniform, seinen Albrechtskomtur und Verdienstorden auf der Brust. Ja dann kamen wohl manchmal Tante Lina Francke und ihresgleichen, um sich an dem schönen Anblick mitzufreuen. Aber was ist und was war schon damals im Grunde der äußere Glanz, auf den der Vater selbst ja so garnichts gab. Ich glaube, deshalb fühle ich mich durch diesen Vater so besonders gesegnet, weil er wahrhaftig garnichts anderes sein wollte als ein guter Mensch. Andere streben nach Geld und Ehrenstellungen oder nach den sinnlichen Genüssen des Lebens, in unserem Vater aber lebte, ich glaube das mit aller Bestimmtheit, garkein andrer Gedanke, als daß er in edler Menschlichkeit vor seinem Gott bestehen konnte. Reinheit des Gemüts und der Sitten, Güte gegen jedermann, ein hohes und der reinen Wahrheit, auch wenn diese schmerzlich war, unbedingt geöffnetes Denken - das stand ihm als sein Ideal vor der Seele.

Ich glaube, er war bewußt liberal, der Kirche und dem Dogma gegenüber fühlte er sich völlig frei, aber vor Gott und deshalb auch vor den Menschen, die ihn wirklich kannten, stand er als ein demütiges Kind.

Julius Zenker 1850
Julius Zenker 1850

Ich erinnere mich solcher Augenblicke, wo er sich auch vor uns heranreifenden Söhnen ganz frei zu einem Irrtum oder einer Schuld bekannte und dies sogar mit wehmütigem Zucken seines Mundes und mit Tränen bezeugte. Aber sein Leben verlief ja in einer Zeit, die weder äußerlich noch innerlich so kampfreich wie die heutige war, und so durfte er, vom äußeren Schicksal getragen, immer bald wieder zum Gefühl einer schönen Harmonie zurückkehren. Im Grunde war er ein fröhlicher Mensch, vielleicht nicht von geistreichem Humor, aber von jener liebenswürdigen Heiterkeit, die eben auf einem friedvollen Herzen sich aufbaut.

Dem entsprach sein Äußeres. Nicht hochgewachsen, mehr von gedrungener Gestalt, aber doch auch nicht klein, trug er hoch sein hübsches und liebenswürdiges Haupt und schaute frei und offen in die Welt. Die Haare wellten sich länger, als wir sie heute irgendwo sehen, wenn auch nicht ganz bis zu den Schultern herab. Ich glaube, das war ein Erbe noch aus der romantischen Periode Deutschlands, etwa von Schiller her oder von seinen Epigonen. Daß Vater dabei einen kurzgeschnittenen Schnurrbart trug, scheint mir jetzt auch typisch. Seine Altersgenossen sind meistens vollbärtig gewesen, und das entsprach wohl auch mehr der romantischen Gesinnung von damals, dem Volke der Dichter und Träumer, das Deutschland immer noch war. Aber in seiner Bartform erschien eben der liberale, einer freieren, aktiveren Lebensform und Zukunft bewußt zugewendete Geist. Solche Dinge macht man sich nicht klar, aber sie wirken sich von selbst aus der Seele hervor.

Liberal ist mein Vater, glaube ich, auch in politischer und kultureller Hinsicht gewesen. Er glaubte an die Güte der Menschenseele und deshalb auch an das Recht ihrer freien Entwicklung. Doch davon später. In dieser Gesinnung hat ja schließlich auch der Anlaß zu seinem Tode gelegen.

Und neben diesem Vater, der keinen Respekt künstlich zu erzwingen brauchte, weil der Adel seiner Seele ihn von selbst bei allen - Alten und Jungen, Hohen und Niedren - erwarb, unsere wundervolle Mutter. Es ist schwer, sie wieder zu sehen, wie sie in der Kindheit war. Ihre herrliche Mütterlichkeit hat mich bis in mein 51. Jahr hinein begleitet und gesegnet. Und seit die guten Mutteraugen sich am 6. September 1914 geschlossen haben, bin ich eigentlich erst ein ganz auf mich selbst gestellter Mensch. Aber beherrscht hat uns diese Mutter nie, nur durch die Ehrfurcht vor dem Heiligen, die ihres Herzens innerster Kern war, geleitet und nur mit selbstlosester Liebe gestreichelt und getröstet. Mutter war eine "Philosophen"-Tochter. Klaus Harms, der weithin berühmte Kieler Pfarrer, hat sie in seinem Alter konfirmiert und dazu vorbereitet, und bis in ihre 80er Jahre hinein kam Mutter immer wieder mit Stolz darauf zurück, daß bei besonders schwierigen Fragen er sich an sie gewendet habe "das muß meine Philosophentochter wissen".

Mein Großvater, Heinrich Moritz Chalybaeus, entstammte einer sächsischen Pfarrersfamilie, die in mehreren Generationen das Pfarrhaus von Pfaffroda bewohnt hatte. Er selbst, Meissner Fürstenschüler von besonderer Begabung, hatte sich der Philosophie zugewendet und lebte seit Ende der 30er Jahre als Professor der Philosophie an der Universität Kiel. Vorher war er Professor an der Fürstenschule und dann am Dresdner Kadettenhause gewesen; in dieser Zeit ist meine Mutter in Dresden-N. am 20.April 1832 zur Welt gekommen. Mein Großvater und seine zweite Frau, Luise geb. Kohlschütter, (die Schwester meiner anderen Großmutter), waren in Kiel ganz zu Holsteinern geworden und noch viel mehr seine Kinder. Großvater hat in der dänischen Konfliktszeit als Verbannter eine Zeit lang in Leipzig doziert. Sein ältester Sohn, Onkel Robert, trug stolz ein steifes Bein und das Erinnerungskreuz von der damals freilich noch erfolglosen Befreiungsschlacht bei Idstedt. Ich glaube, daß Gemütszustände der Eltern in der Geburt der Kinder sich vererben. Daß ich 1864, in jenem Jahre der entgiltigen Befreiung Schleswig-Holsteins von Dänemark, geboren bin, hat sicher in mir gewirkt, leicht - und Gott gebe es - auch der philosophische und zwar auf eine Christus-verwandte Ethik gerichtete Geist meines Großvaters von Mutters Seite, der ein begeisterter Schüler, Freund und Nachfolger des jüngeren Fichte gewesen ist. Großvater war zur Taufe meines ältesten Bruders 1862 nach Dresden gekommen und hat dort sein Grab gefunden. Ich lese heute noch mit Bewegung an dieser Stelle auf dem Trinitatisfriedhofe einen Satz aus seinen Werken: "Das höchste Ziel alles Wissens ist der Geist, nämlich der heilige".

In meiner Mutter lebte viel von diesem Geiste einer bewußten und sich hingebenden Ehrfurcht vor dem Heiligen. Sie war die verkörperte Gewissenhaftigkeit. Dies aber nicht in enger und kleinlicher Weise; sondern die Tatsache, daß sie in Universitätskreisen groß geworden war, - während der Verbannungszeit hat sie in Marburg in Professor Hermanns Hause ebenso wie bei Kohlschütters in Glauchau große Eindrücke empfangen - diese Tatsache prägte sich in einem außergewöhnlich mannigfaltigem und kräftigem Geistesleben aus. Es scheint mir, daß sie ein ungemein vielseitiges Interesse gepflegt hat. Sie war in der klassischen deutschen und auch englischen Literatur, die sie in den Originalen las, ganz bewandert. Selbst eine geschmackvolle Landschafts- und Blumenmalerin, war sie voll künstlerischen Interesses; in jungen Jahren hat sie auch nicht übel mit uns Klavier gespielt und gesungen. Aber das war es eben, was ich nicht ohne Bewegung heute noch niederschreiben kann: all dieses Einzelne ging unter in einer so weiten, edlen, reinen und frommen Menschlichkeit, Weiblichkeit und Mütterlichkeit, wie sie gewiß nicht häufig sind in dieser Welt. Mutter, nein: Ihr Eltern, Ihr habt Euren Kindern kein irdisches Vermögen hinterlassen, aber Ihr habt ihnen das Beste mitgegeben, was Menschen überhaupt einander geben können: wahres Menschentum. Aus dem ewigen Geiste geboren weist es in die Ewigkeit hinauf. Das will ich Euch ewig danken!

Es ist doch nicht nötig, den Vers "Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt" ganz wörtlich so zu verstehen, als ob jeder Mensch sich entweder nur zu dem einen oder zu dem anderen entwickeln sollte. Das Ziel der wahren Menschlichkeit ist doch eben die Vereinigung von beidem in einem tüchtigen Menschen. In diesem Sinne muß auch ich von meiner "Bildung" reden. Soweit wie wir alle hinter dem Bild zurückbleiben, das wir werden sollen, so bedeutsam ragt doch das Wort Bildung bei unserer Selbstbetrachtung über alle anderen Gesichtspunkte hinaus. So will ich jetzt auf

die Elemente meiner Bildung

zurückschauen. Die Stille meiner Kinderheimat muß wohl den Anfang machen. Meines Vaters reichliche Arbeit und die geselligen und wirtschaftlichen Anforderungen beeinträchtigten diese Stille schon recht sehr. Aber etwas davon - und jedenfalls mehr, als ich meinen Kindern je zu bieten vermochte, - habe ich doch erfahren. Mancher schöne Spaziergang mit Vater allein oder auch mit beiden Eltern durch den Großen Garten oder über die Räcknitzer Höhen steht mir in lieber Erinnerung. Vater machte uns dabei auf alles mögliche aufmerksam und prüfte und vermehrte unsere Kenntnisse, über Art und Namen der Bäume und Blumen wie über die Geographie und Geschichte unsrer Heimat, während Mutter mehr die landschaftliche Schönheit uns deutete. Auch noch einiger mit den Eltern gemeinsamer Schlittschuhfreuden auf dem Großen Gartenteich erinnere ich mich.

Walthers Eltern Julius Zenker und  Agnes Zenker geb. Chalybäus
Walthers Eltern Julius Zenker und Agnes Zenker geb. Chalybäus

An Sonntag-Nachmittagen wenigstens sorgten die Eltern auch für gemeinsame Gesellschaftsspiele. Kartenlotterie, Wettrennen mit Würfeln, - wenn die Freunde da waren, Tellerdrehen, Blindekuh u. ähnl. wurde im Salon oder im Garten mit viel Scherz getrieben, und oft war unter allen der Vater der heiterste Kamerad. Wir waren auch an einen regelmäßigen und sehr herzlichen Verkehr mit unseren Verwandten gewöhnt. Am 3. Weihnachtsfeiertage kamen regelmäßig die drei Zenkerschen Geschwister in einem ihrer Häuser zusammen, in manchen Jahren sogar in jedem, sodaß wir außer der Weihnachtsfeier im engsten Kreis noch drei größere genossen, bei welchen doch mindestens 20 bis 25 Personen sich gemeinsam freuten. Dabei galt es dann immer, für jeden ein Geschenk bereit zu haben, und die ganze Adventszeit mindestens verging mit emsigen Weihnachtsarbeiten. Laubsäge-Untersetzer, Pappkästen, wollgewickelte Körbchen, ja auch gestickte Deckchen und Kissen kamen in größerer oder geringerer Vollendung aus unseren Kinderhänden und wurden herzlich angenommen, um dann freilich wohl in den verschiedenen Stuben der Verwandtenhäuser mehr oder weniger ärgerlich herumzustehen, bis sie genügend verstaubt waren.

Der ältere Bruder meines Vaters war der Kreissteuerrat Robert Zenker mit seiner stillen, lieben, feinen Frau, Tante Julie, geb. Garten. Da waren zwei ältere Kusinen, Luise und Agnes, von denen besonders die erste, unverheiratet gebliebene bis zu ihrem Tode mir nahestand. Da war der Vetter Alfred - in seinen Sekundanerjahren eine ausgesprochene Range, der uns Jüngere doch nicht immer erfreulich zwiebelte. (Ich denke noch an die Schwierigkeit, die er mir wiederholt damit bereitete, daß er meine Kreuzschüler-Mütze mir vom Kopfe riß und in irgend eine offene Hausflur weit hinein warf, sodaß ich sie nur durch eine demütige Bitte bei den Bewohnern wieder freikriegen konnte.) Heute lebt unser lieber Vetter Alfred als guter stiller Oberfinanzrat i.R. in Dresden und blickt auf ein würdiges Amtsleben in Frieden zurück.

Der Garten der kreissteuerrätlichen Amtswohnung am Packhof und an der Elbe hat viel schöne Taten von uns gesehen. Aus den Zollschuppen des Packhofs quollen gelegentlich Rosinen hervor, die keinen Herrn mehr hatten. Aber schöner noch: Colophonium konnten wir in recht erheblichen Mengen sammeln, das dann mit trocknen Ästen aufgeschichtet ganz wundervolle Scheiterhaufen ergab.

Die Schwester meines Vaters war an den Geheimen Rat und Abteilungsdirektor im Finanzministerium, Bernhard Heymann, verheiratet. Das war ein Mann von bedeutender Erscheinung und großer Würde; geistreich und rednerisch gewandt imponierte er uns mit seinem Schillerkopfe außerordentlich. Bei einer der nicht seltenen Aufführungen, zu denen wir Jüngeren uns zusammenfanden, aber an denen auch die Älteren manchmal teilnahmen, stand Onkel Heymann einmal im Deutschrittermantel mit dem großen weißen Kreuze vor uns und gab ein heute von mir noch nicht vergessenes Bild. Bei Heymanns fanden Leseabende statt, bei denen wir, reifer geworden, manchmal mit lesen durften, und manch ein Werk unsrer klassischen Dichter ist mir da erst lebendig geworden. Ins Theater bin ich selten genug gekommen, weil es zu teuer war und der Dreigroschenrang unserem Stande unangemessen erschien. Doch Tell und Wallenstein und Iphigenie habe ich auch im Theater bewundert.

Bei Heymanns waren Vetter Rudolf, ein nicht erfolgloser Nachahmer seines Vaters, und die mir gleichaltrige Kusine Lisbeth, ein hübsches Mädel; an der habe ich meine ersten Verliebtheitsstudien gemacht, ihr mehrmals im verstohlenen Winkel die Hand geküßt. Ich weiß von daher von heimlichen Gefahren, welche kein junger Mensch leicht nehmen sollte, und an denen vorüber zu führen eine wichtige Aufgabe für ein reines und weises Mutterauge ist. Ich habe solch ein Mutterauge - Gott sei Dank - gehabt!

Nicht ganz so nahe wie Heymanns und Roberts war der weitere Kreis der Verwandten. Jedoch sind auch davon mehrere Familien mir überaus wertvoll und teuer geworden. Über uns allen stand, in hoher Verehrung gehalten, das Haus von Onkel Volkmar Kohlschütter, in meiner Kinderzeit Superintendent von Dresden, früher von Glauchau, und von 1873 an sächsischer Oberhofprediger. Die Kohlschütters haben eine Zeit lang in Sachsen eine eigene Rolle gespielt. Der ältere Bruder des Superintendenten war Geheimrat und stellvertretender Minister - ich weiß nicht mehr, ob im Inneren oder Justiz-Ministerium - und hat die politischen Prozesse gegen die Aufrührer von 1849 von der Regierungsseite her geführt. Der zweite Bruder, Rudolf, war ein besonders in liberalen Kreisen hochangesehener Rechtsanwalt - Justizrat - in Dresden und verteidigte oft dieselben Leute, die der ältere zur Anklage gebracht hatte. Der dritte Bruder, Onkel Volkmar, wirkte von der Kanzel her zur Versöhnung der aufgeregten Parteien. Wirklich nahe gestanden hat uns nur dieser und sein Haus.

Wenn ich vor meinem 9. Jahre in die alte Superintendentur an der Kreuzkirche oder später in das schöne Haus an der Bergstraße kam, wo Onkel Volkmar wohnte, dann war das Herz immer von banger Ehrfurcht erfüllt. Und wenn man dann drinnen war, kam erst Tante Anna, die Tochter, oder, wenn sich's um Wichtigeres handelte, die gütige, still-vornehme Tante Agnes Kohlschütter selbst ins Zimmer und fragte mich aus. Da kam auch alles zum Vorschein, was man wohl anderen verbarg. Den beiden Lieben gegenüber war Ehrfurcht und Vertrauen eins. Kam man dann zum alten Onkel in seine Stube mit den hohen, unendlichen Bücherbrettern hinein, dann wußte er schon Bescheid. In kurzen Worten hatten die Seinen es ihm gesagt, und mit stiller Ehrfurcht nahm man einfach die gütigen Worte und Ratschläge entgegen, die er einem in Kürze gab. Dieselbe große Würde strömte von ihm auf seiner Hofkirchenkanzel aus. Wenn ich heute mir ein Urteil bilden darf, so möchte ich glauben, seine Predigt war ein Musterbeispiel der alten sächsischen Kunstpredigt, die doch in den 80er Jahren schon längst altmodisch geworden war und keine große Wirkung mehr ausübte. Ein Aufbau voller Perioden, bis aufs letzte Wort gefeilt, und christliche Gedanken, an unsren großen idealistischen Philosophen gebildet; doch, wie gesagt, 1870/71 hatte der Welt eine andre Richtung gegeben, die früher und in der Blütezeit auch unsres lieben Onkels von solcher Predigtweise begeistert gewesen war.

Eine Tochter von Onkel und Tante Kohlschütter war Tante Mathilde Kühn. Sie ist nur 21 Jahre älter als ich und war eine strahlende junge Frau in der Zeit, aus der ich noch lebendige Erinnerung habe, an der Seite eines überaus lebens- und charaktervollen jungen Pastors, der als Diakonus an der Kreuzkirche wirkte. Onkel Ernst und Tante Mathilde Kühn! Ihr habt mein Leben fast von den ersten Schritten an und Du, liebe Tante, nun bis heute noch in stetem Gleichklang begleitet! Onkel Kühn hat mich als Tertianer in zeitweiligem Mißgeschick der Schule emporgezogen. Onkel Kühn ist mein nicht nur geliebter, sondern auch ein wenig gefürchteter Konfirmator gewesen, dann mein wertvoller Berater beim Antritt des theologischen Studiums. Er hat mich ins Rauhe Haus empfohlen, hat mich in meiner 2. theologischen Prüfung geprüft, ist der treueste Freund und Kollege für mein Haus und Amtsleben bis zu seinem Tode geworden. Zuletzt habe ich auch noch als Kollege mit ihm am Prüfungstisch im Landeskonsistorium gesessen, wo der gewaltige Hebräer auch im Alter noch manche schreiende Unkenntnis mit einem heißen Kopfschütteln beantwortete und seine "4" mit heftiger Handbewegung niederschrieb, während ich an den Schätzen der praktischen oder der historischen Theologie mit meinen Kandidaten schüchtern herumhaspelte. Doch das eilt weit voraus.

In meiner Jugend waren's mehr die Eltern, als die Kinder des Kühnschen Hauses, die mich beschäftigten. Bald ist es dann auch zu innigen Beziehungen mit der ältesten Tochter Lisa, die unseren prächtigen Paul Drews geheiratet hat, und mit der jetzigen Diakonissenmutter Cila, mit Christian, Volkmar, dem durch seine Epilepsie schwergeprüften, und mit Mathilde, Ernst und Margarete gekommen. Und an denen allen und ihren Kindern hängt jetzt ein Stück meines Herzens.

Von Onkel Rudolf Kohlschütters Töchtern war die älteste, Tante Natalie, meine geliebte Patin. Sie hat wohl weniger im religiösen, als im allgemein menschlichen Sinne eine so treue Fürsorge für mich geübt, daß ich ihr über das Grab hinaus Dankbarkeit bewahre. Auch ihre Schwestern, Tante Paula, Tante Cissi und Tante Lieschen (Küttner) leuchten als freundliche Sterne meines Jugendlebens weiter. Tante Paula, die Malerin, und Tante Lieschen leben auch heute noch in hohem Alter. Es bestand ein Kusinenkränzchen meiner Mutter, und aller paar Monate, wenn es bei uns war, hallte der Salon von 20 fröhlichen Stimmen wider.

Außerdem hatten meine Eltern ein Skatkränzchen. Zwei Freundesfamilien, Bergrat Köttigs und Geheimrat Freieslebens, wendeten dabei auch uns Kindern ihr freundliches Interesse zu. Paul Köttig, der Sohn, war - älter als wir - der erste, der uns als Student mit seinen mächtigen Schmissen, aber im Ernste auch später als Polizeipräsident von Dresden wirklich imponierte.

Noch gehören in den engeren Kreis unsres Verkehrs zwei entfernte Verwandte hinein. Unter uns, zwei Treppen hoch, wohnte in der Ammonstraße auch ein Pate, Exzellenz Generalleutnant von Heintz, ein Vetter 2.Grades von meinem Vater, mit seiner lieben Frau, geb. von Kiesenwetter. Bei Tante Heintz konnten wir uns noch in alten höfischen Formen üben, da gab es noch tiefe Verbeugungen und Handküsse. Onkel Heintz steht in meiner Erinnerung als barscher Soldat, der freilich schon längst im grauer Zivilrock umherging, nur selten, aber dann doppelt eindrucksvoll, in der alten sächsischen Generalsuniform mit seinen Großkreuzen, seinen Heinrichsorden, seiner goldenen Schärpe und einem mit dunkelgrünen, leuchtenden Federn geschmückten Dreimaster.

So sahen wir Kinder ihn im April 1874; da kam nämlich plötzlich die Köchin Amalie zu uns herauf: "der König ist da, der König ist da!" König Albert hatte im April 1849 beim ersten Sturm auf die Düppeler Schanzen unter unserem Onkel Heintz, als Führer des sächsischen Kontingents, die Feuertaufe empfangen und gedachte noch 25 Jahren des Tages mit einem Besuch und Blumenstrauß für seinen alten Kommandeur. Wir stürzten auf die Treppe hinunter, und als König Albert zurückkam, gab er uns Jedem die Hand und frug nach unseren Namen, ein für die Kinderseele natürlich unvergeßliches Ereignis. Dann durften wir den Onkel in seiner ganzen Schönheit bewundern und die Reste des eilig herbeigeholten Kuchens essen. Onkel Heintz war übrigens derjenige Generaladjutant, welcher auf der unglücklichen Todesfahrt unseren König Friedrich August 1854 durch Tirol begleitet und von der Unglücksstelle Kitzbühel aus die hohe Leiche nach Dresden gebracht hatte.

Ein anderer Offizier in unserem Kreise war der österreichische Major Burckhardt, für den und seine Schwester Therese, die ihm den Haushalt führte, mein Vater in seiner gewohnten Güte mancherlei Fürsorge übte. Deren bedurfte er in seinem Alter, obgleich er auch da noch manchmal mit seinen blauen Beinkleidern und seinem weißen Uniformrock sehr stattlich bei uns auftrat.

Auf meine seelische Entwicklung haben auch unsre Dienstmädchen und unsere Hausschneiderin einen nicht unbedeutenden Einfluß geübt, umsomehr als unsere Eltern beide sehr auf Zuvorkommenheit und Achtung auch den sogenannten geringeren Leuten gegenüber bei uns hielten. Das schätze ich jetzt in meinem Alter als einen der wertvollsten Einflüsse vom Vater her, daß wir immer gewohnt waren, in anderen Menschen den Mitmenschen und nicht den Rang und Stand zu ehren. Wenn wir unseren Vater in seinem Dienstgebäude als Primaner besuchten, dann mußten wir uns auch vor dem Amtsdiener höflich verneigen. Nun also, unser Riekchen, das Kindermädchen durch alle meine Kinderjahre, hübsch, heiter, sauber, feiner Kerl, Schneiderstochter aus Schmiedeberg, die ist wirklich eine gute Kameradin für uns gewesen, hat auch von unseren Schularbeiten etwas verstanden und genoß Respekt und Liebe zugleich. Als sie einmal eingeschlafen war, haben wir ihr mit unserem Farbenkasten einen mächtigen Bart gemalt. Das hinderte aber nicht, daß wir am nächsten Tage bei irgend einer Unbotmäßigkeit uns ihre strafende Hand auf unsren Backen gefallen ließen. Der Vater hätte auch bald für Ordnung gesorgt, wenn das nicht geschehen wäre.

Daneben in den guten Jahren der höheren Amtsstellung auch Frieda, die Köchin, schwarz und schneidig; die kam uns weniger nahe, steht aber als ein tüchtiger, ehrenwerter Mensch ebenso hoch in meiner Erinnerung. - Und Frau Nadler, die Flickschneiderin, schweres Kaliber, riesig heiter, herzensgut und deshalb geschätzte Hausfreundin bei jung und alt. Wenn sie eine ihrer massiven Anekdoten erzählte, konnte sie sich wohl derartig schütteln vor Lachen, daß hinter ihr die Stuhllehne abbrach, was uns dann fast noch mehr amüsierte, als ihre wohlbekannten, aber immer wieder gern gehörten Witze. In der ersten Zeit hat sie uns auch unsre Anzüge gemacht; dagegen wehrte sich endlich der Quartanerstolz. Aber mir ist, als wären wir aus dem Regen in die Traufe gekommen, als Vater dann für uns Herrn Steigleder als Schneidermeister wählte, einen minderen Künstler seines Faches, sicher aus demselben Grundsatz heraus zu uns gekommen, der unseren Vater ernstlich erfüllte, uns von Eitelkeit und Unbescheidenheit fernzuhalten.

Otto Immisch
Otto Immisch

Ich gehe nun zur Schule über. Aber vor deren Pforten leuchten zwei teure Gestalten, deren Jugendbild nun den Abschluß meiner Erinnerungen an die Menschen meiner Kindheitseindrücke machen soll. Als ich das Aufnahmeexamen nach Quarta der Kreuzschule machte, da nahte sich mir der in gleicher Lage befindliche Otto Immisch, der damals und in allen folgenden Jahren vor uns anderen weit voranleuchtete, wohl nie eine andere Zensur als die reine 1 gesehen hat und dabei uns geringerem Volke gegenüber vom ersten Tage an bis heute der treueste Kamerad geworden ist, den es in der Welt geben kann. Durch alle die Jahre von der Quarta bis Unterprima sehe ich mich jetzt noch in jeder Pause mit ihm aufs engste umschlungen durch die Gänge schweifen. Er würgte mit seinem rechten Arm meinen Hals, ich mit meinem linken den seinigen, und die beiden anderen Hände fanden sich hinter unserem Rücken. Da haben wir, wie auch auf manchem Spaziergang und in unseren Häusern, unser Erleben gründlich durchphilosophiert. Ich bewahre auch heute noch Briefe auf von meinem Freund, die voll weltschmerzlicher Rätsel sind. Ja, wir dürfen wohl sagen, daß wir es ernst genommen haben mit unsrer Weltanschauung und damals ist manches wenn nicht zur Reife so doch zur Blüte gekommen, was heute noch einen mir wertvollen Inhalt meines Geistes bildet. Mein Immisch!, vielleicht liesest Du diese Zeilen einmal; dann sei Dir auch an dieser Stelle gedankt, daß Du nicht bloß mein Schwager, sondern mein Freund geblieben bist bis ins Alter.

Aber noch ein Stern ganz anderer Art, doch nicht weniger helle, leuchtet mir aus jenem bedeutungsvollen Jahre 1874 auf. Wir machten unsere erste weite Reise. In Kiel lebte damals als Konsistorialat der von mir besonders hochgeschätzte und sehr geliebte Onkel Dr. jur. Heinrich Chalybaeus (später Präsident des Konsistoriums in Kiel und Präsident des Landeskonsistoriums in Hannover, als D. theol., Wirkl. Geheimrat und Excellenz in Kiel gestorben) mit unserer lieben Tante Amalie, geb. Jepsen. In der Nähe von Kiel war der jüngste Bruder, Onkel Walther, Pfarrer im Bordesholm (später Propst in Alt-Rahlstedt). Ich bin lange geneckt worden, daß ich die junge Tante Theodora gar so "herzig" fand. Und noch einem weiteren Kreise von lieben Verwandten habe ich dort viel zu danken. (Ich sehe sie noch vor mir, die große Tafelrunde bei Jakob Hansen, Onkel Heinrichs Schwager; wohl mehr als 20 Angestellte des Kaufhauses aßen alle Tage an seinem Tische und genossen eine patriarkalische Erziehung und Fürsorge, nicht schlechter, als die acht Kinder.)

Von Kiel weiß der damals 10jährige sich nur noch des köstlichen Blickes über den Hafen von Bellevue aus zu erinnern. Da lagen die ersten Kriegsschiffe des Deutschen Reiches. "König Wilhelm", "Kronprinz", "Friedrich Karl", an dem später gewohnten Maßstab gemessen, freilich wohl unbedeutende, schwarze, niedrige Bauten; aber dem Knaben imponierten doch eben diese Sinnbilder der deutschen Herrlichkeit gewaltig.

Jedoch, das wollte ich eigentlich nicht erzählen, sondern den Augenblick festhalten, wo hinter einem großen runden Tisch in Onkel Heinrichs Eßstube auf dem Dammweg in Kiel eines Tages ein kleines 10jähriges Mädchen stand, von der ich heute noch weiß, daß sie sehr intelligent und sehr lieblich aussah, in hellem blauen Baregekleid. Es war wie in einem Museum. Durch den Durchmesser des großen Tisches getrennt, starrten wir uns gegenseitig an, wagten kaum zu sprechen und mußten erst aufgefordert werden, uns die Hand zu geben. Langsam hat sich der Bann gelöst bei unseren damals wiederholten Zusammentreffen. Aber heute noch ist mir, als sei von Anfang an eine große Zuneigung mit heiliger Ehrfurcht gemischt in mir gewesen. Dies Mädchen ist von da an, ich darf es sagen, bis zu ihrem Tode 1902 ein Heiligenbild für mich geworden. Die Jahre der Jugendfreundschaft in soviel Kinderglück und Kinderernst waren wundervoll, ebenso wie die Jahre unserer kurzen Ehe. Käthe Schumann war bei ihrem alten Onkel Heinrich Speck, ihrer Mutter Bruder, dem Direktor der Gasanstalt, zu Besuch. Eine alte Kinderfreundschaft unsrer Mütter lebte damals wieder auf, die bei der Berufung des Vaters in den Bundesrat nach Berlin weiterhin gepflegt ward.

So führt Gott uns Menschen ungeahnt zusammen. "Die sich nach dem Angesicht niemals hie bevor gekannt und auch sonst im Leben nicht in Gedanken zugewandt, deren Herzen, deren Hand knüpft Gott in ein Liebesband". - O meine Kinder, daß Ihr doch alle sagen dürfet, daß Ihr den Menschen, den Ihr liebet und der Euch zum Lebensgefährten bestimmt ist, zu gleicher Zeit auch still verehret. Dies habe ich sicherlich als den höchsten Wert aller Verbindung von Menschen erfahren.

Unser Zusammenwachsen ist nur langsam fortgeschritten. Nachdem Vater 1877 zum Bundesrat bevollmächtigt worden und zum fast ständigen Aufenthalt in Berlin gezwungen war, fand er für seine seltenen Mußestunden im Schumannschen Hause gastlichste Freundschaft. Das hat auch uns Kinder alle zu gelegentlichen Gästen bei Schumanns gemacht. Ein Briefwechsel und auch ein wiederholter Kinderaustausch für die Ferienwochen entwickelte sich. Und so festigte sich das Band, bis ich nach meiner Kandidatenprüfung es wagen durfte, die entscheidende Frage zu stellen.

In der Zeit, von der ich jetzt rede, stand einstweilen noch im Vordergrund der Knabenfreundschaft Mimi Schüler. Und wenn ich heute an die zurückdenke, so möchte ich fast noch einmal ausrufen: Donnerwetter, daß man mit so was Feinem mal verkehrt hat! Der Vater war der vornehme Direktor der Hainsberger Papierfabrik, äußerlich ganz wie ein hoher Beamter, wohlhabend, deshalb 1. Etage wohnend. Mimi, meine Altersgenossin, schlank, fein geschnittenen Gesichts, ein forsches Mädel, das heute sicher jedem Sport ergeben wäre, blond, stets aufs beste gekleidet, aber ohne jede Koketterie und Eitelkeit, ganz Natur, ein teilnehmender Kamerad, bis wir ins Studium gingen. Später sind wir uns ferner getreten; sie hat einen Arzt, Dr.Rau, geheiratet. Wir haben uns bei jeder Begegnung froh unsrer Kinderzeit erinnert; aber jetzt weiß ich nicht einmal, ob sie noch lebt.

Wenn ich nun meiner Schule zuwende, so muß ich dies mit einer psychologischen Selbstbetrachtung beginnen, ich glaube, hier an der rechten Stelle. Alle häuslichen Bildungsmomente nimmt man naiv auf; aber über die Schule reflektiert man und an ihrer Schwelle wohl auch zum ersten Male über sich selbst. Ich bin wohl von manchem meiner älteren Jugendbekannten als ein träumerisches und sentimentales Kind bezeichnet worden. Was das letztere anbelangt, so habe ich sehr bald bewußt angefangen, dagegen zu kämpfen. Ich weiß die Veranlassung noch. Es wurde in unserem Familienkreise ein frommes Lied gesungen. Ich glaube, es hat mich wirklich gefesselt. Aber vielleicht habe ich doch ein stilles Wohlgefallen daran gehabt, mein Auge verklärt nach oben zu richten. Plötzlich merkte ich, daß sich die anderen gegenseitig darauf aufmerksam machten, ich weiß nicht, ob tadelnd oder sympathisch. Jedenfalls wurde ich mir bewußt: jetzt bist du unwahr gewesen, und ich habe diese Empfindung nie vergessen und mir ehrliche Mühe gegeben, ähnliches weder außen noch innen je wieder aufkommen zu lassen.

Träumerisch? Ja, zu einer gewissen Phantastik und Romantik habe ich wohl geneigt. Ich beschäftigte mich gern mit Modellierbogen. Da wählte ich immer die Ritterburgen und spielte mit den Rittern und Ritterfrauen, die darauf waren, selbsterfundene Theaterstücke. Ich weiß auch noch, daß ich eine Schokoladenfigur einmal mit Silber- und Goldpapier derartig ausputzte, daß sie mir wie ein stolzer Ritter erschien, und das war für mein damaliges Empfinden kein unbedeutendes Erlebnis. Dennoch glaube ich nicht, daß die Bezeichnung eines träumerischen Kindes für mich ganz zutraf. Ich habe, mein' ich, von Natur einen tiefen Drang zum Fachdenken über die letzten Wahrheiten empfangen. Der Faustische Satz "daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält", ist mir aus der Seele gesprochen. Und schon in zeitigster Kindheit ist eine tiefe Sehnsucht nach Wahrheitserkenntnis sicher mein innerstes Leben gewesen. Natürlich war das Bewußtsein davon nicht deutlich, aber des von Anfang an unwiderstehlichen Dranges bin ich mir eben später mit steigender Klarheit bewusst geworden. Jetzt weiß ich, daß ich dabei von Anfang an weniger ein intellektuelles, sozusagen wissenschaftliches, Interesse verfolgte als vielmehr ein ethisches. Ich wollte ganz einfach ein wahrer und guter Mensch werden und ahnte, daß dies nur im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Gott erreicht werden könne.

Dies habe ich vorausschicken müssen, um zu erklären, warum ich in der Schule zeitweise ein guter und in einem gewissen Alter doch auch ein schlechter Schüler wurde. Zunächst war ich einfach gehorsam und deshalb fleißig, tat, was meine Lehrer mir aufgetragen hatten. Um das 12. Jahr begann aber eine größere Selbständigkeit. Ich konnte nicht erkennen, was gewisse Schulkenntnisse für den Weg zur höchsten Wahrheit zu bedeuten hatten, und lehnte deren Verfolgung darum mit einem instinktiven Widerwillen ab. In den Bestrebungen, die nach meiner Meinung mich dem Höchsten näherbringen konnten, bin ich niemals faul gewesen. Ich glaube, daß ich in Wirklichkeit doch immer ein geistiger Arbeiter war. Heute weiß ich freilich, daß der Weg ins Innerste nur umso besser gefunden wird, je mehr man auch in den äußeren Dingen sich zurecht findet, und ich glaube, daß es überhaupt nichts gibt, das man umsonst gelernt haben könnte.

Endlich: ich war gutmütiger Art und soweit mich die auf mich immer drückende ehrfürchtige Scheu vor der geahnten höheren Welt nicht davon abhielt, habe ich auch immer gern gelacht und kindliche, manchmal wohl auch kindische Scherze geliebt. Was meine Willensanlage betrifft, so darf ich mich wohl nicht als einen starken Menschen bezeichnen. Das Moralische ist mir allerdings nach jenem berühmten Worte immer selbstverständlich gewesen, aber Reizen und Widerständen habe ich mich oft nicht genug widersetzt. Bei zunehmender Selbsterkenntnis habe ich bewußt angefangen, um Willenskräftigung zu kämpfen und hoffentlich nicht ganz erfolglos. Daß aber die Psalmen und Paulus, die soviel von der menschlichen Sünde und deshalb auch von der Seligkeit der Gnade wissen, vollkommen recht haben, ist sicher eine meiner tiefsten Lebenserfahrungen.

In einem gewissen Gegensatze zu der bezeichneten Schwäche steht allerdings die Beobachtung, der ich mich nicht verschließen kann, daß ich im Unterschied von manchem energischen Menschen doch fast zwangsmässig eine große Zähigkeit im Streben nach fernen Willenszielen von jeher besitze. Ist mir einmal eine Notwendigkeit oder ein Ideal als unbedingt erstrebenswert aufgegangen, (manchmal liegt das auch im Unterbewußtsein fest) so kann mich nichts mehr von dem Streben nach dem Ziele zurückhalten. Im allgemeinen also bin ich wohl ein Gefühlsmensch, Gott sei Dank nicht arm an dem auf einer starken Bewertungskraft beruhenden Lebensglück, und mein Verstand ist gerade stark genug, die Strebungen des Gefühls und des Willens in Ordnung zu halten und mir auch eine Weltanschauung aufzubauen, die einer hinreichenden Erkenntnisbegründung nicht ganz entbehrt.

Ein so veranlagter Mensch ist nun 1870 in die Schule eingetreten. In unseren sogen. guten Familien galt es schlechthin für mauvais genre, (die höhere Gesellschaft in Sachsen liebte noch lange die französischen Fremdworte), die Kinder in eine öffentliche Bürger- oder gar Bezirksschule zu schicken. Ich kam also in die Böhmesche Privatschule in der Ferdinandstraße, ein Familienhaus, in dem die Stuben zu wohl nicht ganz genügenden Klassenzimmern verwandelt waren, und trug eine braune, goldgestreifte Mütze. Viel weiß ich von diesen ersten Schuljahren nicht mehr. Nur die Bemerkung drängt sich mir sofort wieder auf, daß die Schule soviel bedeutet wie der Lehrer. Alles Gute, was ich in der Schule empfangen habe, kam von den Persönlichkeiten her, die ich als solche lieben und schätzen gelernt hatte. Schulbücher und Schulvorträge allein haben mir wenig genützt.

Mein erster Lehrer war Herr Brückner. Seiner Väterlichkeit verdanke ich meinen Eifer, gut zu schreiben und zu lesen. Ein anderer Lehrer steht mir noch vor Augen, der uns die Anfangsgründe des Französischen beibrachte und in seinem Aussehen wie in seinem Namen etwas vom ancien régime in Frankreich wirklich gezeigt haben muß: monsieur le Duc mit schwarzem Spitzbart, breitem Gesicht und kräftiger Hakennase - ein würdiger Mann, der mich doch mit Zuneigung erfüllte.

Ob ich unserem Herrn Direktor Böhme unrecht tue, weiß ich nicht. Aber ich muß wiedergeben, was sich in der Erinnerung festgesetzt hat. Es stand uns Knirpsen fest, daß er am freundlichsten gegen die Schüler war, deren Vater am besten bezahlte. Unser Vater bekam sein Gehalt in blanken Goldstücken und zahlte deshalb auch mit dieser Münze das Schulgeld für seine drei Söhne. Wir glaubten und wurden deshalb auch wirklich beneidet, daß wir die große Freundlichkeit unseres Direktors, die er uns besonders zeigte, dieser Gewohnheit unseres Vaters zu verdanken hatten. Er nahm das Schulgeld auch selber ein.

Mit 10 Jahren bestand ich meine Aufnahmeprüfung in die Quarta des Gymnasiums zum heiligen Kreuz, unserer Kreuzschule. Sie steht noch heute am Georgplatz, ein jetzt uns allen ärgerliches Beispiel jener Zuckerbäcker-Gotik, die in keiner Hinsicht Gotik ist. Damals imponierte sie nicht nur den jungen Gymnasiasten. Daß mit mir gemeinsam Immisch die Prüfung machte, habe ich schon gesagt. Die Kreuzschule stand damals in hohem Ansehen. Rektor Hultzsch, ein klassischer Philologe von altem echten Schrot und Korn, war seinem ganzen Wesen nach ein echter Humanist, dem Menschenbildung nach dem klassischen Menschheitsideal die höchste Angelegenheit war. Leider habe ich diesen Mann als Lehrer fast garnicht gehabt.

Unter meinen Lehrern, die mir auf verschiedenen Altersstufen wiederholt begegneten, stelle ich ein Zeugnis herzlicher Dankbarkeit meinem Professor Snell aus. Ich bin mit dieser Wertschätzung bei manchem Kameraden auf Widerspruch gestoßen; Snell galt bei vielen für hinterhältig, aber mir hat er mit großem Wohlwollen und bei der Lektüre der lateinischen und deutschen Klassiker mit einer eigenen warmen Begeisterung den Weg in die Höhe so deutlich gezeigt, daß ich auch durch die kritische Zeit der Schulschwäche mich endlich hindurchfand. Die Schwäche befiel mich in Obertertia und war zum Teil wohl körperlich begründet, zum größeren aber in der von mir vorhin geschilderten falschen Meinung, daß ich Nebensächliches glaubte ablehnen zu dürfen, um die Hauptsache nicht aus den Augen zu verlieren. In Obertertia blieb ich sitzen, verlor dadurch die Klassengemeinschaft mit meinem Freunde Immisch,- was aber, ihm sei Dank, seine Treue nicht im geringsten beeinträchtigt hat -und mußte mich mit neuen Schulkameraden zusammenfinden. Die an den Zensuren sehr deutlich erkennbare Lähmung wirkte trotzdem noch weiter bis in den Anfang der Obersekunda hinein. Aber dort eben war es der Einfluß von Professor Snell, der mich fast plötzlich aus einem minderwertigen zu einem guten Schüler wieder gemacht hat. Ich rückte damals von der vorletzten auf eine der obersten Bänke hinauf mnd durfte das Abitur als 19Jähriger doch glücklich mit einer IIa vollenden.

Professor Snell hieß "der Lump" bei seinen Schülern, Dr. Richter hieß "Muffel", Professor Abendroth trug sicher nicht ohne Recht den Namen "Schnauzer", und daß unser Religionslehrer, Dr. Sperling, "Spatz" hieß, war ja wohl selbstverständlich. Ich hatte das Glück, in der Matematik nicht von Abendroth, sondern von Dr. Amthor unterrichtet und in diesem wichtigen Fache durch seine Klarheit zu lebendigen und klaren Anschauungen geführt zu werden. Ich glaube, daß mein philosophisches Denken in jenen Mathematikstunden der Oberklassen eine zunächst unbewußte aber wesentliche Förderung erfahren hat.

Der Religionslehrer Sperling hat mir, der ich religiös sehr sehnsüchtig war, nicht viel gegeben. Ich habe ihn in Erinnerung als einen kritischen Geist, der selbst in seinem Glauben keinen Frieden gefunden hatte, und die Welt als ein - trotz aller christlichen Offenbarung - schmerzliches Rätsel empfand.

In die Welt des griechischen Geistes war Professor Neissner uns einzuführen berufen; dieser steifleinene Pauker hat mir wenigstens und gewiß manchem anderen kaum eine Anregung zu geben verstanden. Wenn mir trotzdem aus jenen Jugendtagen Platos Dialoge als eines der herrlichsten Lebenswerke vor der Seele stehen, die je vollbracht worden sind, so ist es eben die Wucht des erhabenen Geistes selbst gewesen, der sie geschaffen, und nicht eine begeisternde Vermittlung meiner Lehrer. Die Platonsche Ideenlehre hat für mein ganzes inneres Leben bleibende Bedeutung bekommen.

Das Hebräisch war für den künftigen Theologen Pflichtfach von Obersekunda an. Professor Grund, der Religionslehrer der Parallelklassen, hat mich darin unterrichtet. Exakt, hart, fordernd; ich glaube aber, daß diese Methode für den Anfänger die richtige war. In den "Geist der hebräischen Poesie" und des ganzen israelitischen Schrifttums kommt man als Student noch zeitig genug hinein. Zunächst war es gut, daß man die schwierigen Formen beherrschen lernte.

Das also war meine Schule. Wenige Wochen nach meinem 19. Geburtstag schloß ich sie ab.

Dresden Neumarkt im 18. Jahrhundert. (Canaletto)
Dresdner Neumarkt im 18. Jahrhundert (Canaletto)

Ich war - leider - ein "Staatskrüppel" und für die Einjährigen-Dienstpflicht nicht angenommen. Damals hat, mich das gefreut, weil ich nun ein Jahr früher als die anderen auf die Universität durfte, später habe ich es sehr oft bedauert.

Zu den Elementen meiner Bildung gehört aber nicht nur Verkehr und Schule, sondern auch die Natur und die Kultur meiner Heimat. Von unserem Hausgärtchen und dem darin mit Mimi Schüler und Immisch getriebenen Sport habe ich schon gesprochen. Jetzt denke ich daran, wie unser Vater - manchmal auch mit Mutter - uns mehr oder weniger willig durch die Bürgerwiese und durch den Großen Garten schleifte. Solche Spaziergänge sind einem Jungen wohl gewöhnlich nicht das Ideal seiner Freiheitswünsche. Vor 1873 geschah es manchmal, daß wir dem alten König Johann dort draußen begegneten. Dann standen wir tief dienernd in einer Reihe an der Seite des Weges, und wir Kinder waren stolz, daß unser Vater einen besonders freundlichen Gruß bekam.

Aber was waren alle jenen kurzen Spaziergänge gegen die köstliche Zeit unserer Sommerfrischen! Durch einen seiner Grenzkontrolleure, unseren alten Freund Lohse, war unser Vater der Entdecker der Sommerfrische Schmiedeberg geworden. Jetzt ist es ein rußiger Industrieort, soviel ich weiß. Aber Jahrzehnte lang haben Hunderte von erholungssuchenden Dresdnern meinem Vater gedankt. Schmiedeberg! Dort habe ich die ersten Heuschrecken gesehen, dort ist für lange Zeit das kleine Löwenmaul, linaria officinalis, meine lieblingsblume geworden, dort habe ich überhaupt das innige Verhältnis zur Natur gewonnen, das ich jedem Menschen wünsche, und das ich bei Großstadtkindern so selten finde.

Was waren in dieser Hinsicht aber auch unsere Eltern für besondere Lehrmeister. Mutter malte die Landschaft und die Blumen und lehrte sie uns lieben. Vater aber duldete nicht, daß wir an irgend einer interessanten Erscheinung in der Natur achtlos vorübergingen. Wir kannten Namen und Eigenart aller Bäume, Gräser und Steine, mußten auf der Landkarte Bescheid wissen und so weit das Auge reichte die Berge, Städte und Dörfer benennen. Mir hat es immer selbstverständlich geschienen, daß man die Welt mit offenen Augen anzusehen hat. (Beiläufig: Vaters klarer Blick war der Entwicklung in mancher Hinsicht voraus: so hat er, um uns praktisch und sozial zu fördern, uns während mehrerer Jahre, bei dem Buchbinder Lohse in der Gr. Plauenschen Straße allsonntäglich Werkunterricht nehmen lassen.) Das danke ich meinem Vater und in diesem Augenblicke erinnere ich mich auch noch der tiefen Mißbilligung, welche die Weltferne eines lieben Jugendfreundes, Paul Meier, des Sohnes meines überaus verehrten, ja geliebten Oberhofpredigers D. Meier, bei einem anderen Sommerfrischler, der meinen Eltern als einer der ersten gefolgt war, Professor Friedrich Polle vom Vitzthumschen Gymnasium, auslöste.

Professor Polle war ein merkwürdiger Mann, sehr gelehrt, Herausgeber einer anerkannten Ovidausgabe, wie Fama sagte einst Kellner gewesen und aus eigenem Arbeitsverdienst aufs Gymnasium und auf die Universität gegangen. Ein Mann, der den Nachtschlaf geopfert hatte, um seine Examina zu machen, ethischer Idealist von höchster Kraft. Dieser Mann hing an meinem Vater, bei dem er einen ähnlichen Geist fand. Unser verehrter D. Meier schwebte als ein Idealist von höchster Flugkraft immer in anderen Welten und hat es wohl nicht so wie mein Vater verstanden, seine Söhne auf der Welt zuhause werden zu lassen. Deshalb zog uns Polle an sein Herz und teilte uns vieles von seiner wunderbaren Naturkenntnis mit, während Paul Meier in den Hintergrund treten mußte. Wunderschöne Wanderungen durften wir machen mit Vater und Professor Polle. Nach Altenberg, wo wir Erz und Amethystkristalle aus der Binge klopften, nach dem Mücken-türmchen, von wo man so herrlich weit ins Böhmische Land hinausschaut, nach Frauenstein mit seiner Ruine. Ja, Schmiedeberg ist langezeit das Paradies meiner Kinderfreiheit gewesen. Wir waren wohl 6 oder 8 mal von meinem 5. oder 6. Lebensjahre an dort in der Sommerfrische.

Später kam Postelwitz bei Schandau an die reihe -, der Höhepunkt unserer Kinderparadiese, das Jahr 1878, wo wir mit Schumanns aus Berlin das Täubrichsche Haus gemeinsam bewohnten und die Kinderfreundschaft mit den Schumannschen Töchtern für mich und meinen Bruder Otto zur Anbetung wurde für die Heiligen unserer Jugend, Käthe und Kläre Schumann. Wir rasaunten auf der kleinen Feldbahn des Täubrichschen Zimmerplatzes und waren ausgelassene Kameraden, und doch war das Herz von Ehrerbietung für die feinen Mädchen erfüllt und es ging ein warmer Strom durch uns hindurch, wenn sie uns erlaubten, ihre Mäntel zu tragen.

Über diesen Schandauer Eindrücken, die so bedeutungsvoll fürs ganze Leben waren, habe ich fast Kundratitz, die hochgelegene Villa über dem böhmischen Städtchen Leitmeritz, vergessen, die doch landschaftlich die schönste von unseren Sommerfrischen gewesen ist. Weit hinaus schaute der Blick über das bewegte Gelände des böhmischen Mittelgebirges, und das immerhin schon fremdartige Volksleben gab Anlaß zu völkischen und geschichtlichen Betrachtungen, die der Vater mit seiner reichen Geschiehtskenntnis wertvoll ausbaute.

Das waren die Natureindrücke, die in meiner Seele bedeutsame Lehren zurückgelassen haben; noch wichtiger sind aber wohl die Eindrücke der Kultur, die meine Dresdner Heimat mir bis zur Begeisterung hin durch alle meine Jugendjahre schenkte. Die wundervolle Silhouette von Dresden! Dieser Idealbau der Chiaverischen katholischen Hofkirche, dem aber vollständig die Wage hält unsere Frauenkirche, vom Ratszimmermeister Bähr erbaut, eine protestantische Kirche im edelsten Sinne, die wie eine Henne als Rundbau die Gemeinde mit ihren Flügeln deckt und dabei von höchstem ästhetischen Werte ist. - Der Zwinger, dieser unvergleichliche Lustgarten der Rokokoarchitektur, und die Bildergalerie, jener Anbau der neuen Renaissance, den unser prächtiger Semper mit kongenialem Geiste schuf, derselbe Semper, der freilich in unserer Kreuzschule ein Beispiel gegeben hat, daß man die Gotik damals nicht mit gleichem Genie zu erfassen vermochte wie die alte Renaissance. - Die Brücken über die Elbe, das alte Hoftheater, das 1869 abgebrannt ist, das alles hat auf meinen kindlichen Geist schon in zeitigstem Alter einen Eindruck ausgeübt, der von großer bildender Kraft gewesen ist.

Hier, wo ich von unserem schönen Dresdner Stadtbild erzähle, steht plötzlich ein Bild vor mir auf, das ich wegen seiner allgemeinen Bedeutung für meine Lebensentwicklung festhalten will. Der 7jährige Junge steht mit seinen Geschwistern und seinen Eltern an einem der hohen Fenster des alten, dicht an der Augustusbrücke und Terrasse gelegenen Finanzministeriums. Erwartungsvoll sind alle Augen der zahlreich versammelten Gesellschaft nach der Neustädter Seite hin gerichtet. Da blitzen die Lanzenspitzen und Fähnlein der Gardereiter oder Ulanen auf. In fliegendem Trab kommen sie näher. Unten zwischen dem Schloß und der katholischen Hofkirche steht König Johann zu Pferde mit einem großen Stab von Generälen. Die siegreichen Truppen sollen empfangen werden. Hinter den Reitern wieder ein Troß von hohen Offizieren und endlich der sechsspännige, offene, mit Lorbeer bedeckte Wagen, in dem der Generalfeldmarschall Kronprinz Albert, den Marschallstab in der Hand, dem dankbaren Grusse seines Vaters entgegenfährt. Das ist eine meiner ersten deutlichen Kindererinnerungen. Und damit verknüpft sich die ihr schon vorhergehende, wie ich in all den Monaten vorher in meines Vaters Stube den Tisch alltäglich mit einer großen Karte von Frankreich bedeckt sah und oft den Vater darübergebeugt, wie er die blau-weißroten und deutschen Fähnchen umsteckte, um den jeweiligen örtlichen Standpunkt der kämpfenden Parteien sich zu verdeutlichen. Wir wurden von unseren Eltern mit Jubel begrüßt, wenn eine neue Siegesnachricht kam, wurden auf die Höhe hinausgeführt, von der aus man das Victoria-Schießen nach dem Fall von Sedan, nach den Schlachten von Beaumont und St. Privat, nach der Kaiserproklamation von Versailles und endlich nach dem Friedensschlusse über die Stadt hin rollen hörte.

Daß man das Vaterland von Herzen lieben muß, das haben unsere Eltern uns vorgelebt, wie bei allen wichtigen Dingen in unserem Hause nicht mit hohen Worten, sondern mit einer stillen Selbstverständlichkeit. Aber wie waren wir Kinder von damals auch glücklich. Wir waren noch das einheitliche, fromme deutsche Volk! Es rieselte wohl in seinen Mauern, aber uns Kindern nie und den älteren nur selten ward der unheimliche Klang bewußt. Fach dem, was vor Augen lag, waren wir alle als "einzig Volk von Brüdern" für unser Vaterland begeistert. Noch gab es keine mächtige Sozialdemokratie und noch gab es das nicht, was jetzt unendlich viel ernster als jene wirtschaftlich orientierte Gegnerschaft im Weltanschauungskampfe uns auferlegt ist.

Ich danke Gott, daß ich ein Dresdner Kind bin! Solche Bildungskräfte kann man in Deutschland sonst wohl nur in München und aus anderen Gründen in Berlin erfahren. Die Bildergalerie und das früher im gleichen Semperschen Gebäude untergebrachte Gipsabgußmuseum, einige Zeit später auch das Antikencabinet in der Neustädter Bibliothek sind sehr zeitig auch mit ihren Kunstschätzen die Bildner meines kindlichen Geistes geworden. Ich kenne sie genau. Wenn ich hier nur die Namen Polyklets und Raffaels festhalte, so trage ich ein Dankesopfer auf die Altäre der Antike und der italienischen Renaissancezeit. Die stille Größe der Griechen und die gläubige Ehrfurcht Raffaels haben in mir ihre Wirkungskräfte zeitig angefangen und nie verloren. Später ist freilich durch Abbildungen bald Michel Angelo hinzugetreten, den ich in Rom aufs höchste zu verehren und zu lieben gelernt habe. St. Peter und die Vatikansche Kapelle in Rom mit ihren Bildern!- ohne sie vermöchte ich mir meine seelische Entwicklung kaum zu denken. —

Aber diese selbst hat ihre eigentliche Vertiefung doch in ihrem Glaubensleben gehabt. Ich betrachte es als wertvollstes Erbe von beiden Eltern, aber besonders doch vom Chalybaeus'schen Geiste, daß ich fromm veranlagt bin. Ich habe mich dessen wohl in der Burschenzeit durch einige kurze Entwicklungsperioden hin geschämt; aber viel längere Zeit hindurch bin ich mir des großen Segens bewußt gewesen, den das religiöse Erbe meiner Familie mir geschenkt hat. Manches Jahr hindurch habe ich's mehr träumerisch als mit klaren Gedanken gepflegt.

Trotz meiner Liebe und Verehrung für meinen Onkel Ernst Kühn haben die Konfirmandenstunden keinen wesentlichen Einfluß - wenigstens nicht bewußter Weise - auf mich ausgeübt. Es waren zuviel rohe Burschen unter unseren Kameraden, die die mit einem Riemen zusammengebundenen Bibeln und Gesangbücher mehr als Schlachtgerät als als etwas anderes benutzten, und in der Stunde mußte die Disciplin zu oft erzwungen werden, als daß die von mir gewünschte Innerlichkeit zu einem wesentlichen Einfluß hätte kommen können. Was mein ebenso tatkräftiger wie innerlicher Konfirmator mir an religiösem Gut zu geben hatte, das ist mir erst später von ihm zuteil geworden. Dafür aber bin ich ihm übers Grab hinaus heute herzlich dankbar. Und - ohne daß ich mir darüber Rechenschaft gegeben habe - ist seine reine männliche Persönlichkeit und sein wahrhaftiger Glaube mir doch auch in der Konfirmandenzeit schon ein wichtiger Eindruck geworden.

Aber, wie gesagt, erst nach jener Zeit habe ich bewußt das religiöse Leben gepflegt, und da sind es neben Onkel Kühns Predigten die von Hofprediger Rühling, ganz besonders aber die vom Superintendenten und späteren Oberhofprediger D. Meier in der Frauen- und Hofkirche gewesen, welche mich tief erfüllt und zu einem frohen Christen und freudigen Mitglied unserer Kirche gemacht haben. Meier war ein Christ von höchstem Idealismus. Durch Schleiermachers, aber auch durch die Schule der alten sächsischen Orthodoxie gegangen, verband er eine gläubige Dogmatik mit einem ungemein freien, weiten Blick in den deutschen Idealismus. Schiller und Goethe standen bei ihm mit echter Wahrhaftigkeit ganz dicht neben seiner Bibel, und die deutschen idealistischen Philosophen waren seine geistigen Väter oder Brüder und, da ich mich wirklich zu Meiers geistigen Söhnen rechnen darf, so habe ich von deren Geiste auch einen Hauch verspürt, eine Tatsache, für die ich in der Tiefe meines Herzens dankbar bin. Was später an religiöser Vertiefung hinzugekommen ist, gehört in die Entwicklungen der Studenten- und Jungmännerzeit hinein und deshalb in ein späteres Kapitel.

Ich schließe dieses Kapitel mit meinem Konfirmationsspruch, 1.Tim.6,12: "Kämpfe den guten Kampf des Glaubens; ergreife das ewige Leben, dazu du auch berufen bist und bekannt hast ein gutes Bekenntnis vor vielen Zeugen." Ich darf wohl sagen, daß ich mir - allerdings mit wechselnder Stärke - mein Leben lang Mühe gegeben habe, diese Mahnung meines Apostels Paulus und meines lieben Onkels Kühn für mich zur Wirklichkeit zu machen.

Ehe sich die Pforten meiner Jugenderinnerungen auf diesen Blättern schließen, geziemt es sich wohl nun aber endlich auch noch einen Blick auf meinen Geschwisterkreis zu werfen. Nach einer Totgeburt, die meiner Mutter manche Träne gekostet hat, erschien als erster von uns 1862 mein Bruder Hans auf der Welt. In ihm war der Zenkersche Familienzug, von dem ich schon sprach, wohl am kräftigsten eingewurzelt, daß wir nämlich instinktiv alles ablehnen, was uns nicht liegt, und uns nur mit dem ernstlich beschäftigen, wozu ein Zug des Herzens uns treibt.

Hans Zenker 1862 - ?
Hans Zenker geb. 1862

In den naturwissenschaftlichen Fächern ist Hans wohl nie ein schlechter Schüler gewesen, umso mehr aber in den Sprachen. Er hat am konsequentesten die schlechten Zensuren heimgetragen. Im Gymnasium ist er dreimal sitzengeblieben. Beim ersten Mal kam ich dadurch mit ihm zusammen, beim zweiten Mal hatte ich das gleiche Unglück und beim dritten Mal überholte ich ihn, sodaß ich ein Jahr früher als er auf die Universität kam. Während seiner ersten beiden Semester als Mediziner war ich in Tübingen. Wer beschreibt meine Überraschung, als ich ihn in meinem 5. - seinem 3. - Semester hier in Leipzig als einen vollständig veränderten Menschen wiederfand. Der Druck des schulischen Mißlingens und die vielfachen, dadurch hervorgerufenen Ärgerlichkeiten im Elternhause hatten ihn früher zu einem verschlossenen, brummigen Jungen gemacht. Jetzt strahlte mir ein frischer, heiterer Mensch entgegen, der mich in den Verwandtenhäusern in der Beliebtheit vollständig ausgestochen hat. Er hat die früheren Sorgen in seinem leider nur kurzen Leben reichlich ausgeglichen. Das medizinische Physikum sowohl als auch das Staats- und Doktorexamen bestand er mit den besten Zensuren und, nachdem er die Übergangszeit eines Hilfsarztes im Dresdner Krankenhaus vortrefflich erledigt, gewann er schnell in Dresden-Friedrichstadt eine gute Praxis, konnte seine Jugendflamme, Marie geb. Reinhard (Tochter des Präsidenten vom Landes-Medizinal-kollegium, Dr. med. Reinhard), heimführen und war, wie wir uns oft überzeugt haben, in der Vorstadt draußen so beliebt, daß ihm die Straßenkinder in Scharen entgegenkamen und ihm die Hand gaben. Ich greife weit vor, wenn ich hier schon erzähle, daß er bald nach Käthes Tod im Jahre 1903 selbst ein Kind des Todes wurde. Während der ja auch kostspieligen Leidenszeit meiner Käthe habe ich unter meiner Schreibmappe manchmal ein Goldstück mit dem fingierten Rezept gefunden: davon täglich 1 Eßlöffel zu nehmen.

Kommt mein Bruder Otto, jetzt Forstmeister in Schmannewitz bei Dahlen. Wie wir zusammen stehen, wissen die Leser. Wir haben immer gut gestanden. Ein wenig verschieden waren wir von Anfang an innerlich gebaut. Otto hatte sich zeitig schon die Charakteristik vom Vater her erworben, die entweder lachend oder ernst mit aufgehobenem Finger in der Anrede "Herr Graf, Herr Graf" ihm entgegentönte.

Und Else? Klein, rundlich, kein Muster der Schönheit, aber mit einem so reizenden, schelmischen Lachen und Lächeln ausgestattet, daß sie nicht nur uns und ihre Eltern, sondern die ganze Welt um den Finger wickelte. Sie hat sich, glaub ich, buchstäblich ohne große Anstrengung durch die Schule hindurchgelacht. Und auch zuhause war es einfach unmöglich, ihr ernstlich zu widerstehen, sie siegte stets. Es war ihr ja auch ein besondres, seltenes Glück auf den Lebensweg gelegt, von dem ihr in der Kinderzeit natürlich nicht im geringsten bewußt war, wie groß es war. Immisch liebte sie,- zuerst in kindlicher Freundschaft, rasaunte mit ihr, wie mit uns anderen, durch die langen Gänge unserer Wohnungen und um die Beete unserer Gärten auf der Ammon- und Sedanstraße, um endlich nach seinem glänzenden Staatsexamen sie entgiltig an sich zu binden. Ich weiß nicht, ob ich ihn heute mehr als Freund oder als Schwager liebe, denn er hat meine liebe Schwester ganz glücklich gemacht. Daß auch in dieses sonnige Frauenleben schweres Leid gekommen, und daß die Mundwinkel jetzt manchmal schmerzlich zucken, die früher nur lachen konnten, wird wohl später noch einmal zu erwähnen sein. ---

Zuletzt: wir vier sind Geschwister gewesen schlecht und recht, haben uns geschlagen und vertragen und alles in allem gegenseitig geschliffen und gefördert. Geblieben ist eine tiefgegründete, wahrhaftige Geschwisterliebe.

Nun bin ich auf

die Universität

gezogen. Vater hatte in Leipzig soviele gute Freunde, daß er wohl nicht nur um meinetwillen Mitte April 1883 mit mir zur Inskription hierher nach Leipzig fuhr. Welchem Rektor ich meinen Handschlag gegeben habe, habe ich leider vergessen. Daß jener Augenblick in der Aula der Universität für jeden ordentlichen Jungen bedeutungsvoll und feierlich ist, versteht sich von selbst. Am Nachmittage fingen wir schon an, in den Verwandten- und Freundeshäusern Besuche zu Machen. Mein Vater war ebenso mit dem Dresdner Oberbürgermeister, Dr. Stübel, wie mit dem Leipziger, Dr. Georgi, befreundet. Von all den lieben Häusern, zu denen ich Zutritt bekam, will ich an anderer Stelle sprechen. Ich habe es sehr gut gehabt dadurch, daß ich in einer großen Zahl von Häusern der besten Leipziger Gesellschaft verkehren durfte. Nur ganz ausnahmsweise habe ich in irgend einem Gasthause mein Mittagessen einnehmen müssen. Die meisten Mittage in der Woche waren eben in jenen Häusern meiner Gönner fest belegt; nur wenige blieben für außerordentliche Einladungen frei.

Durch Onkel Kohlschütter standen mir auch die Häuser aller theologischen Professoren offen, und besonders bei Professor Fricke und bei Professor Woldemar Schmidt habe ich manche schöne Stunde verlebt. Ach, was war das für ein Augenblick, und wie denke ich heute daran mit ernster Bewegung, als ich in den ersten Tagen meines Hierseins wohl eine ganze Stunde lang in demselben Vorzimmer wartete, in dem die Gemeindeglieder jetzt auf mich warten, um von dem immer überlasteten Geheimrat Fricke endlich in meine jetzige Studierstube vorgelassen zu werden! Fricke war ein jüngerer Kollege meines Großvaters Chalybaeus in Kiel gewesen, hatte nach dessen plötzlichem Tode über die jüngeren Geschwister meiner Mutter die Vormundschaft übernommen und war von herzlichstem Interesse für unsere ganze Familie erfüllt. Das habe ich von dem ersten strahlenden Augenaufschlag an, wo er diese Beziehungen zwischen uns bemerkte, bis zu meiner Prüfung in Leipzig von ihm und ebenso auch von seiner guten, ihm und uns allen imponierenden Frau erfahren. Es war ja manches komisch an dem leiblich so kleinen und zarten Manne. Wenn er seine doppelt so ausgebildete Frau mit "mein Herzchen" anredete, haben wir Studenten uns fröhliche Zeichen über den Tisch gemacht. Aber das verschwand im inneren doch ganz vor dem tatsächlich großen Respekt, den ich und wohl mancher andere vor diesem reinen, weiten und tiefschürfenden Geiste hatten.

Geistig wohl weit weniger bedeutend als Fricke waren der neutestamentliche Exeget, Woldemar Schmidt, und der praktische Theologe, Rudolf Hofmann. Aber auch in deren Häusern bin ich nach liebevollstem Empfang oft sehr angeregt worden. Dieser persönliche Verkehr der Professoren mit einem ausgewählten Kreise ihrer Studenten scheint mir eine der wertvollsten Wirkungen auf die akademische Jugend zu bezeichnen. Der damals weithin berühmte Alttestamentler Franz Delitzsch, Prof. Kahnis, der in den ersten Semestern von mir gehörte Kirchenhistoriker, und Ernst Luthardt, der damals wie ein Halbgott verehrte, auch in seiner Erscheinung so gewaltige Dogmatiker, den wir freilich später vielmehr nur als einen Dogmenhistoriker als als einen selbständigen Denker erkennen konnten, - diese 3 habe ioh auch in ihren Wohnungen besuchen dürfen, aber ich habe weder persönlich noch auch wissenschaftlich einen tieferen Eindruck von ihnen bewahrt. Ich glaube, daß die damalige Leipziger Fakultät, die schon seit langem den Ruf einer kraftvollen Orthodoxie begründet hatte, in den 80er Jahren fast durchweg überaltert war.

Universität! Wie leuchtete dieses Wort mir von dem Augenblicke an entgegen, wo mein Maturitätszeugnis mich zu einem neuen Ausblick berechtigte. Universitas literarum. Daß hier nicht nur ein Weltbild, sondern eine Weltanschauung und Welterkenntnis meiner wartete, diese Empfindung trug mich wie mit Flügeln. Und die Hochschätzung unserer deutschen Universitäten hat mich nie verlassen, wenn auch ich wie alle anderen heilsamerweise bald habe erfahren müssen, daß der Weg in die Universitas, in das Studium generale doch immer auch ein sehr mühsamer, steiniger Weg durch das Studium speciale ist. Wenn ich auch selbst über Kniffeleien und Kleinigkeitskram in Vorlesungen und Büchern damals oft unzufrieden war, so möchte ich heute jedem Anfänger zur Geduld raten und zum Fleiß. Auch die ganz großen Gebäude bestehen aus lauter Sandkörnern, und eine große, umfassende Gedankenwelt kann man nur aufbauen, wenn man auch im kleinsten zur Klarheit gekommen ist.

Wie bin ich eigentlich Theologe geworden? Da komme ich auf eine von den Grundtatsachen meines persönlichen Erlebens. Wir sind eine alte Juristenfamilie, meine Eltern haben nicht entfernt auf mich zu wirken gesucht bei der Bestimmung des zukünftigen Berufes, ebenso wenig wie auf meine Brüder. Und dabei waren wir drei doch schon in unserem 8. oder 9. Lebensjahre so fest in unserem Willen, daß die Schmiedeberger Kameraden oder deren Eltern meinen Bruder Hans den Doktor, mich den Pastor und Otto den Förster nannten. Es ist eben wohl eine besondere Bestimmtheit der Zenkerschen Seele, die uns leitet. Ich bin an meinem so früh gefassten Entschlüsse nicht einen Augenblick irre geworden, auch dann nicht, als mir, dem auch als Primaner noch sehr schüchternen Jüngling, einfiel, daß ich als Pastor ja auf die Kanzel müßte. Darüber habe ich mich getröstet mit dem Plane, vielleicht Professor zu werden, wie mir das ja vom Großvater her schon näher lag. Aber daß ich "die Tiefen der Gottheit erforschen" - l. Kor. 2,10 - möchte, das war wirklich der innerste Drang meiner Seele.

Um das gleich hier noch zu sagen, der Wunsch nach einem Gelehrtenleben ist immer in mir geblieben. Ich habe aber einsehen müssen, daß mir die Gedächtniskräfte nicht verliehen sind, die dazu gehören. Und da im Verlaufe des Studiums und nach der ersten Predigt es auch nicht mehr so ganz unwahrscheinlich blieb, daß ich das Widerstreben gegen ein öffentliches Zeugnis und das Ungeschick dazu überwinden könnte, so bin ich eben doch ins praktische Kirchenamt gekommen. Und so möchte ich denn hier schon darauf hinweisen, daß ich in der Tat an eine providentia specialissima, an eine ganz persönliche Führung Gottes glaube. Ich habe sie in wichtigsten Veränderungen meines Lebens deutlich erfahren, ob sie nun vorausbestimmt war in der unabänderlichen, von Gott in mich gelegten Eigenart, oder ob es sich um eine mehr oder weniger plötzliche Entscheidung meines Gottes handelte und ebenso gleichviel, ob ich den Sinn der Führung verstand und dankbar würdigte, oder ob ich ihr rätselnd gegenüberstand. Die Gewinnung meiner ersten sowohl wie meiner zweiten Frau, die Gewinnung meiner besonderen Freunde, Immisch, Hans von Schubert und Neuberg, die Gewinnung aller meiner Amtsstellen erkenne ich neben manchem anderen vielmehr als Gottes Geschenke wie als Früchte des eigenen Willens.

Das Theologiestudium meiner ersten beiden Semester war naturgemäß hauptsächlich der Exegese, daneben auch den Anfängen der Kirchengeschichte gewidmet. Kahnis stand wie ein bronzener Götze in den Schatten des Heiligtums und gab die Orakelsprüche von sich, die er vor unvordenklicher Zeit in ein Heft geschrieben hatte. Von seinem früheren feurigen Leben war rein garnichts mehr zu spüren. - Und sowohl in der alttestamentlichen wie in der neutestamentlichen Exegese bei Delitzsch und Schmidt gab es wohl wirklich nichts weiter als eine rein philologisch-geschichtliche Worterklärung. Die ist sehr nötig und zweifellos immer die Grundlage alles weiteren Bibelverständnisses. Aber wenn man unter der jetzt eben berühmt werdenden dialektischen Bibelerklärung Karl Barths eine Gegenüberstellung aller möglichen inhaltlichen Erklärungen und die gläubige Stellungnahme dazu versteht, so bedaure ich sehr, daß von einer solchen in unseren theologischen Jugendjahren kaum jemals die Rede war. Wenn sich Delitzsch doch bei Jes. 6 über das Wesen dieser Berufung des Propheten, und wenn sich Woldemar Schmidt doch über den Inhalt der Wundergeschehnisse im Matthäus und der Sendung Jesu geäußert hätten! Es war doch nicht ganz unberechtigt, wenn wir am Ausgange uns manchmal wie Verdurstende ansahen. Mein geistliches und theologisches Suchen fand Befriedigung damals nur in Frickes berühmten Kolleg für alle Fakultäten über die "Gottesbeweise", wobei denn freilich auch ein gutes Stück von Eitelkeit dabei war, daß man einem so hochfliegendem Geiste schon glaubte folgen zu können. Und es waren Luthardts Predigten in der alten Paulinerkirche, Frickes damals noch in der alten Peterskirche, dort wo jetzt die Reichsbank steht, und ich glaube wohl auch schon in jenen Semestern Panks, die mein religiöses Suchen befriedigten.

Das war mein erstes Studienjahr. Aus dem ersten Semester kehrte ich zu den Eltern zurück in die schöne Wohnung an der Sedanstraße 1. Wir brachten noch einmal die Sommerfrische in Kundratitz zu. Nach dem zweiten Semester durfte der Entschluß gefaßt werden, ein Jahr in Süddeutschland, und wie das für einen evangelischen Theologen darum selbstverständlich war, in Tübingen zuzubringen. Da kam denn nun die Zeit heran, in welcher der werdende Mann in mir seine wichtigsten Entscheidungen zu treffen hatte.

In Leipzig fühlte ich mich doch eigentlich noch recht als Kind. Aller Augenblicke ein Besuch zu Hause oder von Hause aus, jeden Tag das Mittagessen unter den beobachtenden, treuen Augen irgend einer guten Tante, in gleichem Freundschaftskreise wie in der Schule -, der Veranlassungen waren zu wenige, über neue Fragen nachzudenken. Und, wie gesagt, auch die Kollegien waren mehr schulmäßig eingerichtet, als das für den sich selbst befreienden Geist wünschenswert erschien. Der junge Mann bewohnte ja freilich seine eigene Bude, Pfaffendorferstraße 12 IV war es bei dem Ratsbeamten Kaulisch (dort war es ein besonderes Vergnügen, dem schönen Fräulein Neumeister, die unter meinen Fenstern auf dem Balkon ihren Oleander pflegte, Zuckerfrösche hinunterzuwerfen); aber auch die bewohnte im Nebenzimmer der soviel fertigere Freund Immisch mit -, der eigenen Entschlüsse wurden zu wenige von mir verlangt.

Da war es denn ein außerordentlicher Sprung ins Weite, als ich nach Ostern 1884 meine kleine Bude beim Lindenmaier in der Ammergasse in Tübingen bezog. Das war ein kleiner Weinwirt von starkem Körperumfang und nicht gerade sehr lebendig gebliebenem Geiste, ein guter, redlicher Mann. Der junge Theologe konnte ohne allen Anstoß in einer Weinwirtschaft hausen. Oben über den hohen Giebeln der Gegenseite ragte das Tübinger Schloß empor, in dem schon Eberhard der Greiner und Herzog Ulrich gehaust. Jetzt war droben, wenn ich nicht irre neben dem Amtsgericht, auch die Universitätsbibliothek untergebracht. Dem kleinen Lauf der Ammer nach kam man in wenigen Minuten in die Weingärten des Ammertales, das sich etwa bei Herrenberg unten mit dem Neckartal vereinigt, und ebenso war es nicht weit nach der Bebenhausener Straße zu, an der die neue Universität lag.

Tübingen um 1900 (Quelle: Wikipedia)

Wir Theologen freilich hörten unsere meisten Vorlesungen im alten berühmten Tübinger Stift oder wohl in den Räumen der alten Universität, mit denen das Stift aufs engste verbunden war. In diesen Räumen haben Schelling und Hegel ihre Bildung empfangen und auch gelehrt. Dort war Möricke aus- und eingegangen, und wer weiß wie viele andere berühmte Namen finden sich noch in die alten Bänke eingeschnitten oder an die Wände gekritzelt.

Dort in Tübingen als 20jähriger erwachte mein eigenes selbständiges Ich. Dort habe ich meine Weltanschauungs- und Glaubenskämpfe durchgefochten. Von dorther schreibt sich der bewußte Besitz des Besten, was ich in mir trage.

Nur eine kleine Begebenheit, die sich mir als Sinnbild mancher anderen ganz wunderbar eingeprägt hat: ich stand an einer Wegsäule eben über dem Ammertale, an die ein über und über blühender wilder Rosenbusch sich anlehnte, und machte - vom Gedankensturm überwältigt - einen kurzen Halt in meinem Gange. Da geschah es mir auf einmal, daß gleichsam wie ein körperliches Bild in leuchtenden Farben vor mir die Gewißheit aufstieg: ich glaube, daß Jesus Gottes eingeborner Sohn ist!

Das war die Folge manches ernsten Gedankenringens und manchen religiösen Suchens. In jenem Augenblicke war es da, nicht nur als gedankenmäßige Gewißheit, sondern als unumstößlicher Lebensgrund, was tatsächlich von jenem Augenblicke an ohne Wandel eine Grundlage meines inneren Lebens geblieben ist. In jenen Semestern hat meine Seele gearbeitet, so ernstlich wie es mir nur immer möglich war. Und ich darf es heute sagen, damals bildete sich in mir der aus hohen Überzeugungen lebende und sein Leben bestimmende Mann. Natürlich war es nur ein Anfang. Später im Rauhen Hause, in der Vikarszeit, ja - was sage ich - in den Prüfungen der Mannesjahre ist's ja noch zu manchem Sturm gekommen; aber der Baum war doch von Tübingen her so festgewurzelt, daß kein Sturm ihn mehr aus seinem Boden reißen konnte.

Für diese innere Klärung und Kräftigung waren ja auch die Männer, denen ich dort zu Füßen saß, weit bessere Führer als die alten Leute von Leipzig. Vor allem der Systematiker Robert Kübel, ein körperlich ungeheurer Mensch von breitestem Ausmaß, tiefhängenden Hamsterbacken, Säulen als Beine -, das war schon eindrucksvoll genug, wenn der, hinter unserem Rücken eintretend, die Tür des großen Auditoriums im Stift hinter sich mit Donnerkrachen zuschlug und, wie aus einer Festungskanone geschossen, auf das Katheder jagte. Aber was will dieser seltsame äußere Eindruck besagen gegenüber der leuchtenden Kraft seiner Augen und seines Herzens. Hier lebte ein Mann im Heiligtum eines gedankenmäßig tief durchgebildeten Glaubens. Diese Persönlichkeit mußte einen von der überragenden Macht des Christenglaubens überzeugen.

Der alte berühmte Kirchengeschichtler Weizsäcker, der noch heute unübertroffene Übersetzer des Neuen Testamentes, hob sich von dieser Erscheinung ganz eigenartig ab. Durch und durch ein vornehmer Mann und ein stiller Gelehrter, aber auch er war in seiner Art von einer imponierenden Weihe umflossen. - Der Sachse Emil Kautzsch, damals ein weithin berühmter Kritiker des Alten Testaments, seine Übersetzung davon ist uns ja heute allen ein unentbehrliches Werkzeug. Ich bin oft in seinem Hause gewesen und habe nie einen anderen Eindruck von ihm empfangen, als den eines mit ganzer Gewissenhaftigkeit und Treue seiner Wissenschaft ergebenen Menschen. Viele, die ihn persönlich nicht kannten, haben ihn für einen Zerstörer gehalten. Mich überzeugte nicht nur die Tatsache, daß er an der "pietistischen" Fakultät so hochgeachtet war, von einem ganz anderen, sondern noch viel mehr der Eindruck einer stillen Ehrfurcht, die über ihm lag. Dieser Mann war fromm in seiner reinen Hingegebenheit an die göttliche Wahrheit. - Vom Neutestamentler Buder, der den Philliperbrief las, habe ich nur schwache Erinnerungen. - Bei Kübel hörte ich Ethik, fürs dritte Semester wohl etwas zeitig. Aber bei dem Manne kam's weniger auf die specielle Lehre als auf das Zeugnis seiner Persönlichkeit an, und das trage ich für immer dankbar in meinem Herzen. - In der neuen Universität draußen hörte ich bei Sigwart Psychologie. Der bedeutende Mann war langezeit selbst krank gewesen. Es ging von ihm die Rede, daß er sich selbst für eine Glasröhre gehalten und von dieser Vorstellung die ängstlichsten Konsequenzen gezogen habe. So hatte es etwas erschütterndes an sich, wenn dieser Mann mit imponierendem Scharfsinn in die geheimnisvollen Gänge des menschlichen Gehirns hineinleuchtete.

Das waren meine Professoren. Ach, da fällt mir ein Ausspruch ein von meinem schwäbischen Nachbar im Kolleg, der zugleich die ganze Seele dieses liebenswürdigen und charaktervollen Volkes beleuchtet. Als Kübel einmal mit seinem tiefen Ernste die Fragen besprach, die vom Wiedersehen nach dem Tode handeln, da sagte der junge Schwabe zu mir: "Dem Kibl ischt bang, daß er sei Weible nit widerfindt". Und da sehe ich denn in meinem Gedächtnis dies Weible behaglich neben dem großen Manne mit seiner Pfeife im Sofa sitzen und aus einem großen Korbe vor ihr die wollenen Strümpfe für ihre Kinder stricken und empfinde wieder etwas davon, wie ein hoher Geist als echter Schüler Luthers seine Kraft gewinnt aus den einfachen, heiteren Gründen eines reinen und reichen Familienlebens.

Ich hatte mich einer kleinen, meist aus Norddeutschen bestehenden Wandergesellschaft angeschlossen, die aber auch regelmäßig zum Gespräch in einer Wirtschaft zusammenkam. Hier fehlen mir die deutlichen Erinnerungen. Am nächsten stand mir Walther Ruge, der gescheute und reine Mensch, Sohn des Dresdner Geographen. Köstliche Wanderungen gab es in Hülle und Fülle, und es gab ja auch den Dies academicus, sie auszunützen. Auf der Hohenzollernburg bin ich oft gewesen. Das reizende alte Cistercienser-Kloster Bebenhausen mitten im Schönbuch, dem großen Wald, der uns 6 Stunden weit von Stuttgart trennte, damals ein königliches Jagdschloß, das ganze Neckartal aufwärts und abwärts, in weiterer Entfernung Rottweil, Ulm - das sind gar schöne Erinnerungen!

Ich habe aber auch in einem schwäbischen Pietistenkreise manche wertvolle Stunde verlebt. In meinem Hause beim Lindenmaier versammelte sich der studentische Missionsverein, dessen Gaben und Interessen der Basler Mission gehörten. Außer dem Missionsinteresse empfing ich damals Lebenswirkungen des so tief religiös orientierten schwäbischen Volksgeisten, die sicherlich für meine ganze Weltanschauung nicht ohne Wert geblieben sind. Dort war ja alles, und zwar ganz ungesucht und unabsichtlich, von dem Gefühl des gegenwärtigen Gottes begleitet. Und nicht nur bei Theologen, sondern auch bei den anderen Fakultäten, und man merkte, daß die das aus ihrer Heimat mitgebracht hatten.

Zuletzt bin ich auch einmal nach Bad Boll gekommen und habe ungefähr eine Woche lang bei allen Mahlzeiten und Andachten dem jüngeren Blumhardt gegenüber gesessen. Ich gesellte mich zu den Kindern und jungen Leuten, die ihn am Morgen droben im Kindersaal erwarteten, und fühle noch die Weihe des Augenblicks, als Blumhardt vom einen zum anderen ging, Kindern und Erwachsenen und so auch mir die Hand auf den Scheitel legte und jeden beim Namen nennend, die Worte sprach: der Heiland segne dich, mein lieber ... - Von den unzweifelhaft großen Segenswirkungen auch des Sohnes Blumhardt habe ich eine familiäre Erinnerung. Meine Tante Anna von Heintz hatte langezeit unter schweren seelischen Depressionen zu leiden. Ihre einzige Hilfe war Bad Boll, von dem sie nach monatelangem Aufenthalt jedesmal wesentlich gestärkt zurückkam.

Ein jetzt wohl schon untergegangenes Beispiel der studentischen Freiheit in Tübingen will ich doch hier der Vergessenheit entziehen. Vor dem südlichen Stadttore überschreitet eine weite, mit einem Nepomuk gekrönte Bogenbrücke den Neckar nach der jetzt mit Villen überdeckten Talebene hinüber. Und am Neckar entlang zieht sich rechts die mächtige Allee auf der Wörth, links aber die malerische Neckarhalde mit ihren hohen Giebeln. Oft im Frühjahr sammelte sich dort die Studentenschaft an, wenn plötzlich aus irgend einem Fenster oder von der Brücke her der Ruf erschallte und sich durch die ganze Stadt hin fortpflanzte: "Jockele, spea- ea- ea- rr." Es kommen nämlich aus dem Schwarzwald herunter mächtige Flöße aus den im Winter geschlagenen Bäumen, auf der manchmal wilden Flut geschickt von Holzknechten geleitet und durch auf den Boden gestoßene Sperrhölzer vor dem Zerschellen bewahrt. Die wohlgemeinte Warnung, vor der Brücke zu sperren, ist zum Ulk geworden und was nur schreien kann, macht es mit. Die ganze Luft hallt vom fröhlichen Warnungsrufe wider. Aber jahrzehntelang haben die Holzknechte den Spaß noch nicht verstehen gelernt und sie beantworten den Ruf mit aufgehobenen Fäusten und bösen Droh- und Schimpfworten. Es kommt nur deshalb nicht zu Tätlichkeiten, weil sie ja im rasenden Strome hinter der Brücke bald verschwinden. Ganz heftig aber wird der Konflikt, wenn irgendwo aus einem Fenster ein Paar Kanonenstiefel herausgehängt werden. Das sollte nämlich die Erinnerung sein, daß einer der Flößer einst ein Paar Stiefel gestohlen hatte. Dann wußten sie sich vor Wut nicht zu halten und der Jux der Studenten stieg aufs höchste.

Von Tübingen aus habe ich zu Pfingsten 1884 meine erste und dann auf lange Zeit hin einzige Reise in die Alpen gemacht. Über Zürich und den Vierwaldstätter See gings nach dem Gotthard hinauf. Wir wanderten durch die Schöllenen nach der Furkastraße hinüber. Als ein besonders großer Eindruck steht mir der Galenstock in Erinnerung, der im glänzenden Morgenlichte des 2.Pfingsttages mit seinen kleinen Schneeflächen und seinen goldenen Spitzen wundervoll leuchtete. Dann ging's aus dem Rhônetal über die Grimsel zu den Haslifällen hin und nach Interlaken, und wir konnten uns nicht sattsehen an dem unvergleichlichen Aufbau und Farbengebilde der Jungfrau, die dort wie ein Gemälde zwischen den schroffen Wänden des Lütschinetales über dem grünen Vordergrund aufsteigt.

Talschleichen waren wir damals. Aber das war keine Schande. Auch daran erkenne ich den schnellen Umschwung des Zeitrades, wie er sich gerade in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. Über uns standen noch die Schrecken der Abgründe, von denen uns Schiller warnend sagte, daß man sich dort "anleimen muß mit dem eigenen Blut". Wir wagten uns noch nicht zur Eiskönigin hinauf und hätten es für vermessen gehalten, mit den Alpenjägern und Sennen in Wettkampf zu treten.

Von Tübingen aus habe ich dann eine, glaube ich, recht langatmige Beschreibung meiner schönen Wanderung nach Haus an meine Eltern, aber auch nach Paris an Käthe Schumann geschickt. Ich stand seit der Knabenzeit mit ihr in Briefwechsel, denke aber heute mit einer gewissen Zustimmung, die ich damals freilich nicht empfand, daran, wie ihre Briefe immer zurückhaltender, ja immer unpersönlicher und leerer wurden, sodaß auch ich zu scheuer Vorsicht mich gezwungen sah. Es gibt ein Bild von Hodler: ein kräftig knieender zum Leben aufspringender Jüngling und vor ihm ein Mädchen, das die Augen schließt und beide Hände abwehrend emporhebt. Ich glaube, dieses Bild gibt wieder, was unsere sich suchenden und fliehenden Seelen damals unbewußt empfanden.

Ostern 1885 war nun die schöne Zeit in Tübingen und Süddeutschland vorüber, und mit dem Eintritt des neuen Semesters fing denn nun auch eine neue Forderung des Lebens an. Es galt, in Leipzig an das näherrückende Examen zu denken, das ich ja zunächst in denkbar kürzester Frist zu machen mir vorgenommen hatte, das ich aber dann mit der liebevollen und weitschauenden Bewilligung meines Vaters bis in das 9.Semester hinausschieben durfte. Ich meine, der Vater wünschte und gab mir einen Begriff davon, daß man nicht nur ein Brotstudium, sondern eine wahre Vertiefung der ganzen Erkenntnis und Weltanschauung auf der Universität zu suchen habe, und so sind mir die nächsten vier Semester noch zu einem großen Reichtum innerlicher Erlebnisse ausgereift.

Aber hier ist ja wohl zunächst der Ort, wo ich ein wenig von all den lieben Menschen erzählen darf, die mich in Leipzig umgaben, und innerlich und äußerlich so mannigfaltig gefördert haben. Ich war nun mit meinem Bruder Hans zusammengezogen und habe mit ihm bis zu meinem Wegzuge aus Leipzig in der Kramerstraße 6 gewohnt neben dem jetzigen Lehrer-Vereinshaus; die Wohnung lag den medizinischen Bildungsstätten näher und war auch für mich bequem. Mit Hans zusammen lief ich nun 5mal in der Woche zu all den lieben Häusern hin, die uns aus Verwandtschaft oder Elternfreundschaft Freitische gewährten. Montags saßen wir bei Frau Wiegand im großen Kreise; der alte Freitisch der "7 Raben", den einst Frau von Holstein um sich gesammelt hatte, war hier erweitert fortgeführt worden. Dienstags bewirtete uns Onkel Oscar Zenker. Mittwochs war es wohl die Familie Göring, Weststraße 11. Am Donnerstag sahen wir beiden uns bei "Tante" Ida Cichorius liebevoll aufgenommen und Freitags oder Sonntags waren wir fast regelmäßig entweder im Hause von "Onkel" Wachsmuth oder Geheimrat Curtius oder auch - last not least - bei Richard Zenkers, unserer eigentlichen Heimatstelle während der Studentenzeit.

Frau Wiegand, eine überaus ehrwürdige Matrone, evangelische Ungarin, die Witwe Georg Wiegands, des Verlegers von Ludwig Richter, in ihrer vornehmen Mütterlichkeit und geistigen Belebtheit ein Gottesgeschenk für jeden, der ihr nähertreten durfte, war die Mutter von "Tante" Ida Cichorius, die wir mit diesem Verwandtschaftsnamen bezeichneten, weil sie eine intime Freundin meiner Mutter war. Auch sie eine außergewöhnliche Frau, Witwe eines Leipziger Bürgermeisters, ganz erfüllt von den großen Kulturinteressen ihrer Stadt, urteilsreich und auch denen unter uns Studenten, welche sich besonders klug vorkamen, vollkommen überlegen. Wenn mir kulturelle und Weltanschauungsprobleme damls fürs Leben wichtig geworden sind, so verdanke ich dies sehr wesentlich den allwöchentlichen Anregungen in diesem Hause. Dort war auch noch eine Tochter, angenommenes Kind, Helene, jetzt Frau Geheimrat Professor Benecke in Halle, der Mutter merkwürdig ähnlich, ein wenig wohl von sich selbst eingenommen, aber für uns ihr fast gleichaltrige "Vettern" doch auch wirklich von führender Kraft.

Ich denke hier dankbar an eine kleine Scene, die sich so abspielte: "Walther, ich lese jetzt ein herrliches Buch - ach nein, Du bist noch zu dumm dazu, das kannst Du noch nicht lesen", - und sie steckte das vom Bücherbrett schon herabgeholte Buch mit entschiedener Geringschätzung wieder weg. Ich war betrübt, und geärgert kam ich am Nachmittage zu Frau Professor Curtius, die mir sofort ansah, daß mir eine Laus über die Leber gelaufen war. Ich mußte mein Leid klagen, und die Folge war, daß sie zu ihrem Bücherschrank ging, das Buch herausnahm und mir lachend sagte: "Jetzt lesen Sie das Buch und zeigen Ihrer Kusine, daß Sie nicht zu dumm dafür waren." Das Buch war "Charles Kingsleys life and letters", ein Buch, das ich als einen meiner besten Lebensfreunde bis heute lieb habe und verehre. Ich habe es in meinen ersten Mannesjahren unendlich oft durchgelesen und schlage noch heute manche Stellen auf in dankbarer Erinnerung für die Förderung, die sie meiner Geisteswelt gegeben haben. Beiläufig wurde dadurch auch mein Englisch wesentlich verbessert, - und Helene C. wurde aus einer Gönnerin zur Freundin.

Das herrliche Paar Curtius! Der bedeutende klassische Philologe unserer Universität, weit über Leipzigs Grenzen hinaus berühmt, ein zierlicher, zarter, feiner Mann, der mit seinem weißen Backenbärte die Abstammung von einem hanseatischen Patrizierhause nicht verleugnete, war der Inbegriff eines wahren Humanisten. Umhegt und gepflegt von seiner ihm geistig ebenbürtigen Gattin, die uns Studenten, da sie kinderlos war, mit doppelter liebe aufnahm. Immisch besonders ist dort wie ein Kind im Hause gewesen und ist ja heute noch im Alter innerlich erhoben, wenn er des verehrtesten Lehrers gedenkt.

Ich weiß noch von einem fröhlichen Augenblick, wo Georg Curtius' zarter Humor uns aufging. Es geschah wohl, daß einer von uns ein dankbar ironisches Wort über die griechische Schulgrammatik sagte, durch die uns Curtius ja schon seit der Tertia kein Unbekannter mehr war. Da ging er in seine Stube und brachte schmunzelnd ein Streichholzbüchschen, das mit Papierasche gefüllt war, und über dem ein brandumrahmter Büchertitel lag: grammatica graeca, darunter geschrieben: "al maledetto Professore Curtio". Er hatte diese dankbare Quittung für schwere Schulzeit vor ein paar Tagen aus Italien erhalten und schmunzelte fröhlich über diesen Erfolg seiner Arbeit.

Auch des anderen bedeutenden Gelehrten muß ich hier gedenken, bei dem wir oftmals waren: Friedrich Zarncke, der erste Herausgeber des Nibelungenliedes. Er war der Schwager von Vaters älterem Bruder, Onkel Fritz von Zenker, den Bayern wegen seiner Entdeckung der Trichinen geadelt hatte. Zarncke, damals Witwer, hat mit seinen feinsinnigen Gesprächen unser wissenschaftliches Interesse gefördert; seine Tochter und Hausfrau Tilly hatten wir auch sehr gern.

Frau Wiegand und Tante Ida Cichorius wohnten Marienstraße 11, hinter dem kleinen Denkmal von der Leipziger Schlacht. Curtius' hatten eine prächtige Wohnung neben der Universität an der Schillerstraße, dort wo jetzt das Universitäts-Rentamt ist. Ich denke gern, wenn wir in weitblickenden Gesprächen uns ergingen, an den weiten Blick, den vom Balkon aus der Augustusplatz uns gab. (Zarnckes wohnten im Roten Kolleg an der Goethestraße.)

"Onkel" Wachsmuth und seine kränkliche Frau - Freunde meiner Eltern. Er ein herrlicher Mann, damals ein Führer der Leipziger Großhandelswelt, der leitende Direktor der Allgemeinen Deutschen Creditanstalt, ein Mann, vor dessen imponierendem, grauumbuschten, großen Auge ich mich heute noch innerlich neige, gütig, ernst, scharfsinnig, ein Bild der Gewissenhaftigkeit. Wir wußten, daß er den Posten des sächsischen Finanzministers mehrmals ausgeschlagen hatte, weil er die eigene Aufgabe nicht glaubte verlassen zu dürfen. In seinem Hause, das wir im Sommer draussen in Connewitz in einer jener Gartenvillen, die von Blumen und Bäumen umstanden waren, - dem Orte manches väterlich-freundschaftlichen Gesprächs mit uns - und im Winter zuletzt in dem stattlichen Gebäude am Rathausring (Nr. 9) aufsuchten, das dem Rathaus gegenüber an der Pleiße liegt. Dort hörten wir vor oder nach dem Essen, von Frau Wachsmuth und auch von seinen kunstvollen Händen gespielt, manchen Satz der Beethovenschen und Mozartschen Symphonien und durften auch der geistvollen Auslegung lauschen,die dann etwa bei Tische davon gegeben wurde.

Und nun die liebe Verwandtschaft! Da war der Justizrat Oscar Zenker, stellvertretender Vorsitzender der Stadtverordneten, ein hochgeachteter Mann im öffentlichen Leben der Stadt, offenbar ein tüchtiger Jurist, auch Schriftführer des Zentralvorstands vom Gustav-Adolfverein, voll ernster kirchlicher Interessen, mit seiner guten -und feinen Frau, Anna geb. Wendler, und mit seinen 3 Jungen, die jünger als wir, bei uns damals noch keine andre Beachtung fanden, als dass wir uns des Appetits wegen vor dem Essen öfter mit ihnen prügelten. Der älteste von diesen Vettern, Paul, steht mir ja heute noch besonders nahe. Das Haus Königstraße, Ecke Talstraße, erinnert mich heute noch oft an die lieben Stunden, in welchen doch auch manches große Interesse uns aufging, wenn auch der Gesamtton mehr der einer herzlichen verwandtschaftlichen Liebe war.

Ecke Elster- und Promenadenstraße wohnten Rudolf Zenkers. Onkel Rudolf war der ältere Bruder von Onkel Oskar, der Älteste aus der zweiten Ehe meines Großonkels Ludwig Zenker, der im Anfange des Jahrhunderts von Dresden nach Leipzig übergesiedelt, dem alten Juristenstamme abhold und Kaufmann geworden war, mit dem Erfolge eines schönen Vermögens und des Ehrentitels als Stadtrat. - Dessen zweite Frau lebte übrigens noch in meinen ersten Semestern auf der Auenstraße. Eine ehrwürdige, von heiterer Güte umflossene Greisin, die uns Studenten von Zeit zu Zeit bei sich sah und sich dann nicht genugtun konnte, uns mit reichen Speisen zu verwöhnen. Tante Emilie Zenker geb. Baumgärtner wurde übrigens von einer Schwester überlebt, an welcher die stille, und oft auch laut ausgesprochene Liebe der ganzen jungen Neffen- und Nichtenschar hing. Tante "Aujuste Boomjardin" war als junges Mädchen schon der Schwärm unserer Väter gewesen und war es im Alter als "Tante Lomer" auch bei uns.

Onkel Rudolf war ein eigentümlicher Herr, von einer phantastischen Romantik erfüllt, zu gleicher Zeit von einer Vulgarität des Benehmens, die uns für unseren Stand nicht mehr völlig angemessen erschien. Dessen zum Beispiel nur soviel: Zwei seiner Töchter nannte er Mippe und Nulp, und der jüngste Sohn hieß Biebig. Aber an einer Ehrenstelle des Salons stand auf einem Tischchen ein Glaskästchen, unter dem ein echtes Gralsbrot von Bayreuth verwahrt war, und an der Wand darüber hing in feinem Rahmen eine Postkarte mit den Worten: "von 4 Uhr an Ihr Sklave. Richard Wagner." Der sich selbst oft in Worten und Gesichtszügen ironisierende Onkel pendelte eben zwischen höchster Begeisterungsfähigkeit und einer gewissen Tieflage seines Geistes hin und her, und der Eindruck auf uns war weniger erhebend als abkühlend. Wir haben manchmal den Onkel gefragt, was denn das Dreierbrot dort unter Glas und Rahmen bedeute, und dann eine halb wehmütige, halb zornige Antwort bekommen. Die Tante Elise an seiner Seite, gutmütig und vierschrötig, war es wohl wesentlich, die den kleinbürgerlichen Ton des Hauses bestimmte. Immerhin hat ihre große Herzensgüte uns junge Leute erwärmt und angezogen. Das Erbe dieses eigenartigen Paares bei seinen Kindern ist doch kein übles gewesen. Sie sind alle tüchtige Leute geworden, und der hohe und mittelmässige Geist, der so unvereint in den Eltern schlummerte, hat bei ihnen allen einen Ausgleich auf einer größeren Höhenlage gefunden.

Nun bleiben noch Görings und Richards. Tante Luise Göring, die älteste, und Richard, der Sohn aus der ersten Ehe von Onkel Ludwig Zenker. Zwei Menschen von einer ganz außergewöhnlichen Herzensgüte, immer nur bedacht auf die Zufriedenheit ihrer Gäste und Mitmenschen. Onkel Richard war Wollkommissionär und schien ein recht befriedigendes Einkommen zu haben. Von irgend welchem kaufmännischen Egoismus und unreinem Geschäftssinn kann ich mir bei ihm durchaus nichts denken. Er machte mit seiner kleinen Gestalt und seinem feinen, zurückhaltenden Wesen den Eindruck, eines besseren Beamten. - Seine Art der Unterhaltung war nicht gerade von hohem geistigen Interesse, aber eben von solch einer Liebe, daß man unmittelbar zum höchsten Vertrauen bewogen wurde. Ähnlich war's bei Tante Luise Göring. Die hatte nun einen Mann, Seidengroßhändler, bei dem der Geschäftssinn schon deutlicher ausgebildet schien.

Mit seinem Bild hat sich mir in die Erinnerung eingeprägt jene kleine Scene, als Vetter Alfred einmal beim Mittagstische die vor ihm stehende Rotweinflasche mit unserer Karaffe verwechselte. Da rief Onkel Göring: "Ach, nehmen Sie nicht diese Flasche, das ist ein ganz harmloses Weinchen für meinen alten Magen, der Ihrige ist besser." Wir hatten aber davon schon soviel gekostet, daß wir uns von da an öfter in den Besitz dieses "harmlosen" Fläschchens zu setzen versuchten.

Es war nicht Übel, bei Görings nach einem immer reichen Mittagsmahle auf der Veranda in den schönen Garten und darüber hinaus auf den - damals wohl freilich noch nicht vollständig ausgebauten - Johannapark hinauszuschauen, und den besten Kaffee zu schlürfen, den man sich nur denken konnte. Bei Görings war ein von unendlichen Schmissen bedeckter Vetter, der als Referendar am Gericht arbeitete, und unsere liebe Melanie, die das Abbild ihrer guten Mutter war. Die ältere Schwester, Ilse Süssmilch, lebte als Gattin eines österreichischen Oberstleutnants ich glaube in Theresienstadt in Böhmen und füllte, wie viele Gespräche uns zeigten, beinahe ganz das Herz ihrer Mutter aus.

Nun aber zuletzt noch: Lessingstraße 16, unser Studentenparadies bei Richard Zenkers! Neben dem guten, stillen Onkel Richard seine heitere, energievolle, stattliche Frau, unsere liebe Tante Marie. Und neben der wieder ihre meistens mit im Hause wohnende Schwester, kleiner, aber von ebenso feingeschnittenem Gesicht, Tante Helene Krutzsch. Die beiden Schwestern waren Pastorstöchter aus Trautzschen bei Pegau und wurden bei vielen ihrer Bekannten als die jungen Schweinchen aus Pastor K.s Familie bezeichnet. So hatte nämlich einmal ein Viehhändler in Pegau die vorzüglichen Leistungen des in der Viehzucht sachverständigen Pastors von Trautzschen angepriesen. Aber man würde den beiden Schwestern durchaus unrecht tun, wenn man in dem Namen irgend einem Vergleich herbeiziehen wollte. Die denkbarste Heiterkeit der Lebensanschauung paarte sich bei beiden mit einer so edlen, innerlichen Feinheit, daß unsere immerwährende lachende Fröhlichkeit in diesem Hause zugleich etwas von reiner Erhobenheit besaß, die manchem von uns einen unbewußten Segen ins Leben mitgegeben haben mag.

Und die Erbin dieses Geistes war unsere Kusine Marthe. Dreizehn Jahre alt war sie, als ich nach Leipzig kam und fünfzehn, als ich mich mit meinem Bruder Hans in ihre Verehrung teilen mußte. Aber dies von Geist und Herz sprühende Mädchen muß weit über ihr Alter reif gewesen sein. Wir haben sie nie als Kind, sondern immer als uns emporziehende Freundin unseres Jungmännerlebens empfunden. Wir beide waren doch schon zu ernstlich innerlich gebunden, als daß wir zur wirklichen Liebe uns hätten ziehen lassen; sie hat sich noch am Ende unserer Studentenjahre mit dem Doktor Baumbach verlobt, mit dem sie eine glückliche Ehe gefunden, und als dessen Witwe sie jetzt noch in Langensalza lebt. Sie erfreut uns manchmal sehr durch ihren lieben Besuch und mit ihr ihr prächtiger Junge, Friedel Baumbach, der jetzt schon ein beliebter Arzt in der Leipziger Kinderklinik ist.

Neben Marthe verschwand die stille und weniger begabte Lisa fast ganz, aber sie besaß auch die große Bescheidenheit von ihrem Vater, die nichts für sich forderte und froh war, wenn die anderen sich freuten. - Und von diesem Geiste hat auch der Bruder Walther viel bekommen, unser lieber Vetter in der Elsterstraße.

Ja diese Sonntage in der Lessingstraße! Um 1 Uhr zu Tisch waren wir pünktlich dort, und abends um 10 Uhr mußten wir gewaltsam mit dem unerbittlichen Rufe: "es ist um 10" oder mit dem Scherzwort "wenn ich wo wär', ich ginge nun" hinausgeworfen werden. Nach dem schönen Mittagessen war obligatorisch der Spaziergang um die Rosentalwiese, dann wurde musiziert. Auch Marthe leistete schon recht Tüchtiges auf dem Klavier. Ich konnte mich ja damals auch noch ein wenig hören lassen ("Sie haben ein sehr schönes Stück gewählt!"), aber unser Hans schoß den Vogel ab; ihm war es gegeben, Wagner-Motive u.a. in freier Phantasie zu behandeln, oder auch mit Tante Marie die Beethovenschen und Mozartschen Symphonien vierhändig zu spielen.

Noch einmal: Lessingstraße 16!- auf diesem Namen liegt ein Glanz, der über mein ganzes Leben strahlt. Ich bin, sehr glücklich gewesen in dieser Verbindung und wollte nur, daß ich etwas von solcher Lebensharmonie und -Glückseligkeit auch von meinem Hause ausstrahlen lassen könnte, wie sie mir dort geschenkt worden sind.

Zu einem ganz anderen Bilde muß ich nun übergehen. Abgekämpft als unmittelbarer Gegner Bismarcks in der Schutzzoll- und Freihandelsfrage, und mit einem Herzleiden, das meiner Mutter viel Sorge "bereitete, war Vater aus Berlin zurückgekommen. ("Heute war der Alte wieder einmal recht ungnädig!" stand manchmal in Vaters Berliner Briefen. Und das bedeutete Herzweh für den Verehrer des großen Kanzlers!) Er war der Leiter der Zollbehörde geworden und als solcher ganz gewiß auch noch sehr reichlich belastet. In grosser Huld hatte ihm König Albert durch Vermittlung des Finanzministeriums einen Sommeraufenthalt in dem Weinbergschlößchen Hoflößnitz verliehen, das nun in den letzten Jahren seines Lebens ihm mit seiner Zurückgezogenheit an der sonnigen Berglehne eine schöne Erholungsstätte ward.

Das Herzleiden trat manchmal erschreckend auf. Ich erinnere mich, mehrmals gesehen zu haben, wie Vater in Dresden auf dem Heimweg zu unserer Wohnung in der Sedanstraße mitten auf dem Bismarckplatze stehen blieb, den Laternenpfahl umkrampfte und viertelstundenlang den Atem nicht fand, um weitergehen zu können. Mutter stand am Fenster betend und wissend, daß kein Mensch dem geliebten Manne jetzt helfen könnte.

So geschah es denn am 21. Mai 1886, daß auf unserem Tische in der Kramerstraße wir ein Telegramm vorfanden: Vater todkrank, kommt gleich. Hans und ich wußten, daß Mutter das Schlimmste nicht auszusprechen gewagt hatte. Und als wir um die Ecke des Schlößchens bogen, da sahen wir schon durch das Fenster das sicher Erwartete. Mit gefalteten Händen lag der teure Mann auf dem eisernen Feldbett, das ihm, wie uns anderen allen, dort draußen zur Lagerstätte dienen mußte, - ein Teil seines Gesichtes von der blauen Blutwelle des Herzschlages entstellt. Ich habe in diesem Augenblicke ganz seltsam bis in die Tiefe meiner Seele hinein empfunden: das ist nicht das Letzte, "ich glaube an die Auferstehung und das Leben."

"Ach, sie haben einen guten Mann begraben, und mir war er mehr". Diese Goetheschen Worte schrieb unser lieber Immisch damals an uns, und sie geben in ihrer Schlichtheit auch das wieder, was ich in tiefer Dankbarkeit gegen diesen schlichten, reinen, großdenkenden und edlen Menschen immer empfunden habe.

Ich muß hier eine Erinnerung einschalten. Es war in den Weihnachtsferien, etwa am 3. Januar 1886, da nahm mich in ihrer Stube in der Sedanstraße meine Mutter plötzlich beiseite und sagte: "Ich muß mich einmal aussprechen, Du bist mein lieber Theologe, und Dir sage ich's am liebsten. Ich habe in dieser Nacht geträumt, ein Bahnbeamter tritt in der Hoflößnitz zu unserer Hoftür herein und bringt mir die Uhr und das Taschenbuch unseres Vaters. Mich bewegt nun die Angst, was das bedeuten könne". Ich konnte damals unserer Mutter nur mit einem Händedruck antworten, der bedeuten sollte, "bereit sein ist alles".

Wörtlich ist der Traum nicht in Erfüllung gegangen. Aber Vater ist, nachdem er behaglich im Hofe draußen mit Mutter gefrühstückt hatte, nach der Eisenbahnstation Weintraube geeilt, dort in den Zug gesprungen, and hat mit einem Seufzer seinen Geist aufgegeben. Ein Eisenbahnbeamter aber hat unserer Mutter die Nachricht wirklich überbracht.

Das Begräbnis auf dem Trinitatisfriedhofe mit den liebevollen und gläubigen Worten unseres lieben Onkels Kühn und mit einer überaus zahlreichen Trauergemeinde, nicht zuletzt aber auch ein Telegramm unseres Königs aus Sibyllenort haben es uns zum Bewußtsein gebracht, daß Vater wirklich eine außerordentliche Liebe und Verehrung genossen hatte.

So war denn unser leben nun mächtig verändert. Die Beendigung unserer Studien war bei der immerhin nicht hohen Pension unserer Mutter in Zweifel gestellt, und der beste Ratgeber unsres Jugendlebens war uns verloren. Aber Gott hat wundervoll geholfen. Mutter hat mit ihrer Opferfreudigkeit mir durchs Examen geholfen, hat sich Hans' ganzes medizinisches Studium und die Kosten der Ausstattung für meine Schwester Else noch abgespart, und als dazu noch die Kosten des Forststudiums für meinen jüngsten Bruder kamen, da hat Onkel Wachsmuth in großer Güte beigestanden. Vater hatte übrigens noch die letzte große Freude erlebt, daß mein Bruder Hans durch ein wirklich glänzendes Physikum alle die Schmerzen ausglich, die seine schwere Schulentwicklung den Eltern bereitet hatte.

Ich wußte ja nun, daß ich mich mit dem Studium beeilen mußte aber das schwere Ereignis fiel schon in mein 7. Semester. Aufs 8. war eigentlich das Examen gemünzt gewesen, die Erschütterungen dieser Monate haben mich bis ins 9. hineingezwungen.

Nicht gleich nach der Tübinger Zeit hatte ich mich in die besondere Aufgabe der Examensvorbereitung gestürzt, ich durfte ja mich noch etwas ausbreiten. Das habe ich denn auch durch Anhören von geschichtlichen und philosophischen Kollegien getan. Ob ich denn überhaupt wohl mein Studium in der richtigen Weise durchgeführt habe? Es schwebt mir vor, daß sowohl in den exakten wie in den spekulativen Wissenschaften (und die ersteren stehen den letzteren nach der neuen Naturanschauung ja gar nicht mehr fern) die Quellenforschung auch dem Studenten schon ebenso ernstlich am Herzen liegen müßte, wie die Befolgung einer rechten Methode. Wir Theologen müßten nicht nur im Urtext der Bibel Alten und Neuen Testaments vollständig zu Hause sein, sondern auch die Kirchenväter und die Reformatoren in ihren Hauptschriften genau kennen samt den Bekenntnisschriften der Kirche. Notwendig ist ebenso auch das Studium der neuesten, für die einzelnen Fächer bedeutenden Literatur, Ritschl's "Rechtfertigung und Versöhnung", Harnacks "Dogmengeschichte" u.a. waren zu meiner Zeit Bücher, die jeder hätte lesen müssen. Die Einführung ins praktische Amt könnte meines Erachtens den Jahren zwischen den beiden Kandidatenprüfungen überlassen bleiben. Eine Zeit im Predigerseminar müßte obligatorisch sein.

In die Zeit des Studiums aber müßte unbedingt noch mehr, als bisher berücksichtigt war, eine ernste Glaubenspflege aufgenommen werden. Auch der junge Theologe darf sich nicht nur als einen Gelehrten - als einen Theologen -, sondern er muß sich als einen Jünger Christi betrachten lernen, dem an der Ausbildung eines innigen, unverbrüchlichen Verhältnisses zu seinem Herrn alles gelegen ist. In dem, was ich hier zuerst gefordert habe, bin ich wohl nicht bis zu dem Ziele gekommen, das ich hätte erreichen sollen. Ich habe ein paar reformatorische Hauptschriften gelesen, von den Kirchenvätern aber wohl kaum etwas mehr als Augustins Konfessionen; das war entschieden zu wenig. Meine wissenschaftliche Arbeit hat sich, ich sage leider, im wesentlichen auf die Durcharbeitungen meiner Niederschriften aus dem Kolleg und auf ein möglichst eindringendes Studium der biblischen Schriften beschränkt. Darüber hinaus bin ich lediglich ein Grübler gewesen, der sich im eigenen Denken sein dogmatisches und ethisches System, ebenso wie seine philosophische Weltanschauung auszubauen suchte. Ich bedaure diese Arbeiten meiner Studentenzeit keineswegs, sie haben mich ja schließlich zu einem innerlich ausgereiften Christen und Theologen gemacht; aber die Früchte hätten doch eine bessere Reife und einen kräftigeren Saft bekommen, wenn die Wurzeln des Baumes in tieferes Erdreich gesenkt worden wären.

Vielleicht liest doch einmal ein junger Nachfolger diese Zeilen; dem möchte ich sie zu bedenken geben. Zur Vertiefung unsres Glaubenslebens wurden uns in meiner Studentenzeit eigentlich nur die Predigten in der Kirche geboten. Auch die Gemeinden trieben ja damals noch keine so ausgebreitete Seelsorgearbeit und Vereinspflege wie heute, - und im Kolleg war der seelsorgerliche Ton doch nur ausnahmsweise zu spüren. Das darf ich wohl ohne Überhebung sagen: ein betender Leser und Hörer des Grotteswortes bin ich immer gewesen, und dem Streben nach wenigstens habe ich mich unter diejenigen rechnen dürfen, die nach Jer. 29, 13 Gott "von ganzem Herzen suchen".

Nun aber "drohte" das Examen. Mit ein paar Kameraden, von denen ich leider nur noch Weineck, jetzt Pfarrer von Groß-Erkmannsdorf, auch ein Mitschüler in der Kreuzschule, erinnerlich ist, tat ich mich zur Paukerei zusammen. Kirchengeschichte nach dem "Adreßbuch" von Kurtz und systematische Theologie nach Luthardts Kompendium fragten wir uns mit emsigen Fleiß in täglichen Stunden ab. - Hier muß ich aber doch bemerken, daß Luthardt mir auch heute noch wertvoll ist. Diese Nebeneinanderstellung der Meinungen von Theologen aller Zeiten über die Hauptlehren der Kirche wurde auch für die ganz persönliche Überzeugung sehr wertvoll und hilft mir noch heute oft zur Klärung meiner Gedanken.

So bin ich denn ins Examen gestiegen, aus dem ich am 4. August 1887 mit der 2. Zensur ohne Minderung als "wohlehrwürdiger Kandidat der Theologie" hervorging. Als Klausur hatte ich neben den regelmäßigen Exegesen eine systematische Arbeit lateinisch zu schreiben, deren Thema der verehrte D. Fricke mir zu geben hatte. Das Thema habe ich leider vergessen. Ich erinnere mich aber mit Rührung daran, wie Fricke mich noch nach dem Examen und der Zensurerteilung an seinen Schreibtisch rief und Gedanken für Gedanken wie auch jede lateinische Wendung, die ihm nicht gefiel, eingehend mit mir durchsprach. Da habe ich noch einmal etwas von seiner väterlichen Gesinnung für mich gespürt.

Ehe ich nun mit meinen Erinnerungen in die Kandidatenzeit hinüberwandle, sind doch noch zwei Ergänzungen nötig. Ich war ja Verbindungsstudent gewesen. Wir nannten freilich unsre Vereinigung "Fridericiana" noch nicht eine Verbindung, aber wir trugen unsren hellblau-silber-dunkelblauen Bierzipfel mit demselben Stolz wie der Verbindungsmann sein Band und sagten auch selbstbewußt jedem, der es hören wollte, daß wir satisfaktionsfähig wären. Damit hat es für mich eine eigne Bewandtnis gehabt. Ich bin ein paar Semester auf dem Paukboden gewesen und gab mir auch Mühe, ein guter Fechter zu werden, als aber einmal eine Kontrahage sehr nahe kam, war ich doch froh, daß sie sich ohne Schande für mich wieder löste. Mein Arm war zu schwach, als daß ich die linke Wange hätte vor einem kräftigen Durchzieher sicher schützen können. Und den mit auf die Kanzel zu nehmen, schien mir doch schon damals sehr bedenklich. Auch da war Freund Immisch mein Schutzengel. Wie er alles vorzüglich leistete, so auch das Fechten. Er zog die Gegner, die etwa auftraten, auf sich und hat von seiner Mensur nur einen kleinen, auch nicht zu schönen Haken auf der Nase behalten.

Sowohl die regelmäßige Kneipe, die bei uns Fridericianern einmal in der Woche mit einem literarischen Abend mit Vortrag verbunden war, als auch den Fechtboden stelle ich in meiner Erinnerung doch recht hoch. Eine gewisse Selbstüberwindung in gesellschaftlicher und leiblicher Beziehung, Mut, Anspannung und Verachtung kleiner Unbequemlichkeiten werden geübt und bringen für die spätere Lebenshaltung einen wertvollen Besitz. Den Fridericianern von damals haben mich die Verhältnisse später leider ferngerückt. Die mir freundschaftlich nahestehenden auch aus jener Schar sind mir durch andere gemeinsame Schicksale verbunden worden. Aber kein Vorkommnis etwa hat grundsätzlich eine Entfremdung zwischen uns hervorgerufen. Ich grüße die Turnerschaft Fridericiana, wie sie heute durch Leipzigs Straßen zieht, und nächstens ihr 45jähriges Stiftungsfest feiert, in treuer Gesinnung.

Endlich möchte ich auch auf die kulturellen Einflüsse Leipzigs für mich noch einen Blick werfen. Mein Wechsel war allenfalls genügend, um doch dann und wann im Theater oder im Gewandhaus mir einen Hohen Kunstgenuß zu verschaffen. Auf das Theater sahen wir in Dresden Verwöhnten ein wenig hochmütig herab; aber Gewandhauskonzerte habe ich manche mit heller Begeisterung genossen. Und wenn mir heute noch trotz aller langen Entbehrung Beethovens Eroica und die Fünfte und Neunte Sinfonie oft wieder auftauchende, sehr geläufige Klänge sind, Schuberts Unvollendete H-moll mich bis in die Tiefe bewegt, so danke ich das jenen herrlichen Abenden. Sehr oft bin ich auch durchs Museum gegangen; es wurde mir genau vertraut. Ich habe zwischen der bildenden Kunst und dem Bekenntnis der Kirche immer eine enge Verbindungslinie gezogen, auch einmal einen Vortrag drucken lassen über "Kunstgeschichte als bekennende Kirchengeschichte". Zu diesen, jetzt von Preuß in Erlangen gepflegten Gedanken habe ich immer geneigt. Wenn ich Professor geworden wäre, dann hätte ich ihm dieses Arbeitsgebiet vorweggenommen.

Alma mater! Du bist mir wahrhaftig immer eine gütige Mutter gewesen. Das gefühl, als "bemooster" Bursche auszuziehen, habe ich nicht gehabt. Viel näher lag mir die Empfindung, als ich in den Dresdner Zug stieg, um zu meiner Mutter ins stille, anmutige Witwenheim - Bienertstr.17 in Dresden-Plauen - zurückzukehren, daß das eigentliche Leben erst noch kommen sollte. Aber daß dieses Leben der Manneskraft jetzt vorbereitet war durch die hohe Schule mit all ihrer Verwandtenliebe und Freundschaft, das habe ich damals und immer dankbaren Herzens empfunden.

Die Kandidatenzeit

Das Witwenheim meiner Mutter war anziehend genug, um sich gern dort lange aufzuhalten. Mutter, mit 54 Jahren zur Witwe geworden, trug ihre tiefe Trauer - denn ihre Ehe war überaus glücklich gewesen - mit gläubiger Ergebung und mit einer Liebe, die dem Verklärten nur immer gern in allen Handlungen nachfolgen wollte, sodaß wir alle die Heimat nicht entbehrten. Auch in viel höherem Alter waren wir Kinder noch immer gewöhnt, mit all unseren wichtigen Erlebnissen zur Mutter zu gehen, und uns an ihre Schulter zu lehnen. Wie oft hat mich aus ihrem Munde und unter ihren streichelnden Händen das Wort aus einem ihrer Lieblingslieder getröstet: "Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll; Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl". .. .

Aber der Kandidat war durchaus nicht gewillt, sich schon zur Ruhe zu setzen, und strebte ins Weite. Was Gott mir zuweisen würde, das wollte ich gerne annehmen. Es bangte mir wohl ein wenig vor einer Hauslehrerstelle; aber ich wäre auch damit zufrieden gewesen. Noch hatte sich keine Türe aufgetan, und ich mußte ernstlich anfangen, mich umzutun. Allerdings hatte mir Onkel Kühn einmal gesagt, daß er im Rauhen Hause für mich um eine Oberhelferstelle gebeten habe; seine Bitte aber sei ihm abgelehnt worden, weil ich doch noch gar keine Unterrichtserfahrung hätte.

Da erlebte ich vielleicht nicht die erste, aber eine der mächtigsten von jenen wunderbaren Führungen, die mir der liebe Gott so oft hat zuteilwerden lassen. Ende August, also noch nicht 4 Wochen nach meinem Examen, lagen auf dem runden Tisch in Mutters Stube zwei Telegramme. Das eine, offene, hatte Onkel Kühn gebracht. Es enthielt die seltsamen Worte: "Heißt Ihr Neffe Zenker, dann veranlassen Sie ihn, sich hier sofort vorzustellen. Wichern. " Das andere war an mich gerichtet und lautete: "Bitte um baldmögliche Vorstellung im Rauhen Hause" mit derselben Unterschrift. Die geheimnisvolle Gedankenverbindung der beiden Depeschen war damals nicht zu deuten. Daß die Möglichkeit sehr naherückte, trotz der vorherigen Ablehnung doch noch eine Oberhelferstelle im Rauhen Hause zu bekommen, erfüllte den jungen Theologen mit freudigstem Schreck.

Ich packte meinen Koffer, fuhr über Nacht nach Hamburg und stand am anderen Vormittage vor Herrn Johannes Wichern in der berühmten "grünen Tanne" im Rauhen Hause. Wichern sprach mit mir freundlich, gab mir dann einen Führer, der mir alle die Häuser der Anstalt zeigen sollte. Ich aß in einem nahen Gasthaus. Und als ich dann gegen Abend ermüdet von all dem Erlebten und Gesehenen wieder zu Herrn Wichern kam, sagte er, der von einer Anstellung bis dahin nicht gesprochen hatte, ich möchte nun am nächsten Tage eine Probelektion ablegen, er habe wohl Lust, mich zu berufen.

Ich kam nach einer im Hospiz in Hamburg tiefdurchschlafenen Nacht erst kurz vor der angesetzten Stunde in das Schulhaus der Anstalt; von einer Vorbereitung war bei meiner großen Müdigkeit kaum die Rede gewesen, nur eilig hatte ich mir die Hauptgedanken der Geschichte vom Verlorenen Sohn - ein prekäres Thema im Rauhen Hause! - zusammengelesen. Zu meinem Schrecken waren auch 2 andere Kandidaten zum Wettbewerb berufen worden. Mit etwa 12 Knaben hielt ich meine Lektion, während der ich die strengen Augen Herrn Wicherns und etwa noch 4 anderer Lehrer auf mich gerichtet sah. Das erhöhte natürlich nicht des Anfängers Freudigkeit.

Mit dem sicheren Gefühle, meine Sache recht schlecht gemacht zu haben, ging ich die Treppe hinab ins Freie. Ich war ja sicher, daß die Konkurrenten viel besser abschneiden würden; aber siehe, da legte mir Herr Wichern von hinten her schon die Hand auf die Schulter und sagte mir: "Wenn Sie wollen, so sind Sie von heute an Oberhelfer des Rauhen Hauses".

Es war ein Augenblick von überwältigender Freude! Natürlich mußte ich noch wieder nach Hause reisen, und mein Dienst mußte erst nach den Michaelisferien beginnen. Ich werde gleich zu erzählen haben, welches neue große Geschenk auf der Heimreise mir mein Gott geben wollte. Zunächst aber noch eine Aufklärung über die seltsame Art, wie es zu meiner Berufung gekommen war. Wie konnte Herr Wichern in dem einen Telegramm erst nach meines Namen fragen und in dem anderen zu gleicher Zeit schon mich berufen?

Um das zu erklären, gibts eine neue wunderbare Erinnerung, zu der ich ein wenig zurückgreifen muß. Bei unserem Besuche 1882 in Kiel hatten wir einen prächtigen, bildschönen Studenten in Onkel Heinrichs Hause kennen gelernt, der Julius Wassner hieß, aus dem obersten Norden von Schleswig-Holstein gebürtig war und Philologie studierte. Wir drei Schüler waren sterblich in Wassner verliebt, umsomehr als dieser frische Mensch von geistreichen Scherzen und lustigen Liedern überquoll. Der nun hatte bei seinen schönsten Liedern mir manchmal als Dichter seinen Freund Hans von Schubert, den Sohn eines Dresdner Generals, genannt. Er hatte in Bonn mit ihm zusammen einem Freundeskreise angehört, zu welchem sich auch die mir später bekannt gewordenen Krug von Nidda aus Sachsen, Simons aus Elberfeld, Prinz Ernst von Sachsen-Meiningen aus Saalfeld zählten. Von jenen Erzählungen 1882 an hatte sich in mir wie ein goldener Traum der Wunsch ausgebildet, Hans von Schubert kennen und lieben zu dürfen. Seltsam, als ich 1884 in Tübingen in jenem Missionsverein zu Gast war, sagte mein schwäbischer Nachbar: "Wären Sie das vorige Mal dabei gewesen, da hätten Sie einen glänzenden Menschen kennen gelernt: Hans von Schubert." Und noch an mancher anderen Stelle wurde ich von den besonderen Eigenschaften Schuberts überzeugt. Ihn aber zu sehen, war mir noch nie gelungen. In seinem Vaterhaus ihn aufzusuchen, wagte der jüngere und schüchterne Student eben nicht.

Welches Erstaunen nun, als Herr Wichern mir jetzt sagte: "Nun machen Sie gleich Ihre Antrittsbesuche, wenigstens bei den führenden Lehrern. Mein Stellvertreter ist Pastor Röhricht, der ist aber verreist. Und da gehen Sie zu allererst einmal zu Herrn von Schubert." So hatte Hans von Schubert unter meinen Kritikern gesessen bei der Probe, - und war der Langgesuchte mein Kollege geworden. Als ich im Schulhause oben in seine Wohnung trat, und seine liebe Frau - Bertha geb. Köppern - zum ersten Male sah, wußte ich, daß meine Sehnsucht sich nicht getäuscht hatte. - Und nun nach 40 Jahren darf ich mit tiefem Dank gegen Gott bezeugen, daß über unsere Freundschaft niemals ein Schatten gekommen ist. Sie ist mir von unendlichem Segen gewesen!

Mit den Telegrammen wars nun so gekommen: Man hatte für die Kandidatur an Wassners jüngeren Bruder gedacht und sich deshalb an Julius Wassner gewendet. Der hatte abgeschrieben, aber zugleich gemeldet, es würde sich wohl ein gewisser Walther Zenker in Dresden für die Stelle eignen. Da war dem Dresdner Schubert das Blatt geschossen, - wenn Konsistorialrat Kühn in Dresden einen Neffen empfiehlt, dessen Namen er nicht nennt, und Wassner später auch auf einen Dresdner hinweist, - dies wahrscheinlich mit einigen näheren Winken -, so ist es sehr möglich, daß die beidenen Empfohlenen identisch sind. Herr Wichern mit seinem frommen Glauben an Gottesfügungen und mit seiner stets leidenschaftlichen Entschiedenheit macht die Vermutung zur Tat und sendet gleichzeitig die beiden Fragen ab und hat sich, wie ich auch heute noch glaube, in dem Bewußtsein der Gottesfügung auch durch die Enttäuschung nicht irre machen lassen, die ihm meine mißglückte Probestunde bereiten mußte.

So fuhr ich denn nun nach ein paar Tagen der ersten Bekanntschaft mit dem Rauhen Hause und der neuen Heimat Hamburg als wohlbestallter Mann wieder heim. Am 5. September machte ich Rast in der Kommandantenstraße 42 II in Berlin. Onkel Schumann hatte in den letzten Jahren geschäftlich Unglück gehabt und eine Wohnung nehmen müssen, welche gegen die vorherigen in der Friedrich- und Schützenstraße sehr ungünstig abstach. Dort fand ich aber doch ein kleines Gaststübchen, oder schlief ich im Kontor, ich weiß es nicht mehr. Und nun mit dem so plötzlich veränderten Gefühle eigenen Wertes stand ich vor Käthe Schumann. Die durch manches Jahr gereifte Liebe drängte hervor, - und nach einer durchbeteten Nacht faßte ich am 6. September früh sie im Salon beim Staubwischen ab, und unsere Herzen senkten sich ineinander. In jener Woche hat Gott an mir Wunder über Wunder getan. Der größte Segen meines ganzen Lebens ist damals über mich gekommen.

Es war ein Gemisch von stolzer Freude und bescheidenem Bangen, mit welchem ich Ende September meine Reise ins erste Amt antrat. Nach einem kurzen Beisammensein mit meiner Braut zog ich denn in die Kandidatenstube ein, die 2 Treppen hoch im "Adler" für einen solchen bereit steht, wenn er noch nicht zu einer Familienleitung berufen ist. Mein Amt sollte zunächst nur Unterricht und Hilfeleistung bei der Aufsicht sein.

Johann Hinrich Wichern (1808-1881)
Johann Hinrich Wichern 1808 - 1881

Das Rauhe Haus! Johann Hinrich Wicherns herrliche Schöpfung. 1833 hatte er die "grüne Tanne" dort am Teiche bezogen, und ein Strom von Segen war seit 55 Jahren von dort ausgegangen. Wie erfüllte mich bald die Größe der Aufgaben, welche mit dem Worte Innere Mission umschrieben werden. Wie bin ich dankbar, daß mir diese Worte, die für viele Christen doch nur ein leerer Schall bleiben, an ihrer Heimatquelle lebendig geworden sind. Weit über die Grenzen des Rauhen Hauses hinaus hatte D. Wichern den neuen Grundsatz des Glaubens, der in der Liebe tätig ist, verkündet und vorgelebt. Seine Berufung in den preußischen Oberkirchenrat war nicht nur eine Dekoration gewesen, sondern hatte die Ehe zwischen Kirche und Innerer Mission, die unbedingt bestehen muß, endgiltig befestigt.

Jetzt wohnte Johannes Wichern mit seiner lebensvollen, energischen Frau, der Schwester des berühmten naturwissenschaftlichen Geleherten, Du Bois-Reymond, in dem eigenartigen Hause, dessen spitzes Dach auf beiden Seiten bis zum Erdboden herunterreichte, von den Fenstern nur durchbrochen, sodaß die Front mit ihrer roten Ziegelfläche und ihrer weit offenstehenden weißen Türe einen doppelt einladenden Eindruck machte. In einem großen Rosenbeete auf runder Wiese stand eine Tanne mit weiten Ästen, ihre Vorgängerin mochte dem Hause den Namen gegeben haben: die "grüne Tanne". Es war etwas Sinnbildliches in diesem mütterlichen Baume; die "grüne Tanne" ist wirklich ein Mutterhaus für uns Rauhhäusler alle in des Wortes höchster Bedeutung.

Amtliche Gänge zu "Herrn Wichern" und Freundschaftsgänge in das liebe Damenzimmer unserer "Mutter" waren gleich freudig und gleich bewegt. Nicht immer freilich freudig, denn Herr Wichern stand in hohem Respekt, und wenn man etwas zu beichten hatte, so kam sein mildes Verzeihen erst dann zuwege, wenn er einem gehörig den Kopf gewaschen hatte.

Aber ein Beispiel, das freilich meine Person nicht angeht, mag statt vieler die Erinnerung festhalten, mit der seine echte Jüngerpersönlichkeit in mir lebt. Wir waren zu einer Lehrerkonferenz versammelt, und herein schlürft auf schweren Stiefeln der alte Sievers, unser Bote, eine halbe Kraft, die das Gnadenbrot aß und eben zu leichten Gängen allein noch benutzbar war. Herr Wichern, in einer seiner interessanten Darlegungen gestört, braust auf und schreit, in solchem Augenblicke sich selbst nicht kennend, Herrn Sievers an, daß er so schnell wie möglich das Zimmer verlassen möchte. In demselben Augenblicke aber krampft er sich förmlich zusammen, blickt sekundenlang ernst und traurig vor sich hin, läuft dem alten Manne nach, führt ihn wieder zu uns hinein, ergreift seine beiden Hände und sagt: "Entschuldigen Sie bitte, meine Herren, ich habe mich vergessen gehabt. Verzeihen Sie, lieber Herr Sievers, mir mein unchristliches Verhalten. " Man wird verstehen, daß ein solcher Augenblick aus dem Leben des Meisters dem nachstrebenden Kandidaten unvergeßlich bleiben mußte.

Jene schweren Gänge ins Mutterhaus waren aber doch nur seltene Ausnahmen. Für gewöhnlich klopfte das Herz gar hoch, wenn man im ersten Stockwerk in das geräumige Amtszimmer eintreten durfte, in welchem der große Wichern seine Schöpfungen durchdacht und bearbeitet hatte, und das nun als ein echtes Gelehrtenzimmer mit vielen, vielen Büchern Johannes Wichern benutzte. Von der "grünen Tanne" aus trat ich nun diesmal den ersten Rundgang durch den Gottesgarten an, wie man das liebe Rauhe Haus mit seinen Rosen und Georginen, mit seinen kleinen Wäldchen, Spielplätzen und 20 verschiedenen Familiengärten wirklich nennen darf. Zuerst gings ins "weiße Haus". Dort wohnte damals noch die Mutter, Johann Hinrich Wicherns Witwe, Amanda geb. Böhme, nicht bloß von der Familie, sondern von allen Brüdern und Kandidaten innerlich verehrt. Ich bin der letzte Kandidat gewesen, der das Glück hatte, die ehrwürdige Greisin besuchen zu dürfen. Von da an hat sie sich wegen ihrer zunehmenden Schwäche ganz fernhalten müssen. Aber die, welche sie einmal angenommen hatte, umfaßte die ehrwürdige Greisin mit der kleinen Gestalt und der großen liebe in immer neu bewiesener Treue.

Das Rauhe Haus um 1850
Das Rauhe Haus um 1850
(Quelle: http://www.rauheshaus.de/)

Um das Wirtschaftsgebäude, in dem der große Speisesaal war, herum zogen sich nun die Familienhäuser des Paulinum oder Pensionats. Unsere Jungen waren ja alle in "Familien" eingeteilt, an deren Spitze als Mutter ein Bruder und als Vater der Oberhelfer stand. Der "Köcher" - Psalm 127, 4-5 - hatte 2 Familien, links und rechts zu ebener Erde mit reizenden Veranden, die von blauen und roten Winden übersponnen waren. Dort waren die Großen, die Sekundaner; denn bis zum Freiwilligen-Zeugnis und allenfalls noch darüber hinaus führten wir unsere Jungen. -- Dann kam der "Weinberg". Dieses auch vom Stellvertreter Herrn Wicherns, Pastor Röhricht, bewohnte Haus enthielt einige Oberhelfer-Wohnungen und eine Knabenfamilie, die nächste Altersklasse. - Zwischen dem Köcher und dem Weinberg lag unser herrlicher Spielplatz, eine Talmulde zwischen hohen, alten Eichen und Buchen, deren Fläche groß genug war, um kräftig Fußball- und Croquetspiele auszuführen. - Auf Familie Röhricht komme ich wohl an andrer Stelle zurück.

Nun mein "Adler" - "die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler" - Jes. 40, 31. Unten die Turnhalle, auf mächtigen Eisenträgern darüber Schlafsaal und Wohnraum der Adler-Jungen, und oben im 2.Stock wohnt einstweilen der Oberhelfer Zenker, bis er nach einem halben Jahr als Familienleiter in die Mittelzimmer zwischen den Knabenräumen hinunterziehen darf. Das Adlerhaus ist 2 1/2 Jahre lang meine Heimat gewesen, solange ich im Rauhen Hause war.

Folgt die "Eiche", die für die Jungen von Sexta bis Quarta war, während der Adler die Zwischenstufe der Tertianer beherbergte. Dort war der Eingang in unseren großen Gartenkomptex, der von der Horner Landstraße aus hineinführte. — Jenseits ging nun die Knaben- und Brüderanstalt an, das eigentliche Rauhe Haus; denn mit der Sammlung von kleinen Volksschülern hatte Wichern ja begonnen, und die Brüderanstalt war daraus entwickelt worden, längst ehe das Pensionat der höheren Schüler sich auftat. Erst der Ökonomiehof; seltsam, um den habe ich mich eigentlich nie gekümmert. Das Stadtkind hatte eine törichte Abneigung gegen die "Schweinewirtschaft". — Der "goldene Boden" war ein großes Gebäude, in welchem die Lehrlinge, die zumeist wohl in der "Fischerhütte" wohnten, ihr Handwerk lernten. Dort waltete der prächtige Bruder Uhlig - wenn ich nicht irre nach seiner handwerklichen Ausbildung Schlossermeister - seines Amtes. Ihm waren all die jungen Lehrlinge auf die Seele gebunden; und dieser jugendlich frische, schöne, bärtige Mann, der auch vor der Welt mit seiner Erscheinung wohl bestehen konnte, war ein Jünger unseres Herrn, von dem ich zum ersten Male in meinem Leben den Eindruck empfangen habe, wie ein Mann des Volkes zu einem ehrwürdigen Mann Gottes zu werden vermag. In dem Hause waren grosse Schlosser-, Tischler- und Schneiderwerkstätten, vielleicht auch noch andere -, eine Buchbinderei gab es jedenfalls auch in der Anstalt.

Wie die anderen Häuser hießen, ist mir doch nur teilweise noch in Erinnerung, "Schönburg" der eine Name. Dort tollten, wenn sie nicht in der Schule waren, kleine Kerle in grauen Hosen und blauen Jacken. Die Uniform ergab sich ja von selbst, weil die Jungen auch in der Kleidung von der Anstalt versorgt werden mußten. - Die "Brüder", welche für alle Zweige der Inneren Mission im Rauhen Hause ihre Ausbildung empfingen - und zwar war dies die Hauptarbeit unsres lieben Herrn Wichern und der "Brüder" P. P. Röhricht und Hans von Schubert, aber auch wir Kandidaten wurden nach dem Maße von Zeit und Kraft daran beteiligt - wohnten wohl alle an der Stätte ihrer besondren Tätigkeit, also meistens in den Knabenfamilien, wo sie ein Wohnzimmer für sich hatten, aber mit den Jungen gemeinsam schliefen. Sie waren also Tag und Nacht in dem schweren Dienste, dessen Bürde nur durch die Liebe wesentlich gemildert wurde, mit welcher das ganze Haus sie trug, und ebenso durch die sonnige Gartenwelt, in welcher dort alle selbst wie die Blumen gedeihen durften. Dieser sehöne Garten, in dem ich ja noch das Schulhaus mit seinen auf 2 Stockwerke verteilten Klassenzimmern und seiner im 3. Stock gelegenen Direktorwohnung, die jetzt meine lieben Schuberts bewohnten, und - wahrhaftig nicht als geringstes - unseren Betsaal mit seinen 400 Plätzen zu erwähnen vergessen hatte, lag im Nordwesten Hamburgs zwischen der Hammer- und der Horner-Landstraße.Von der ersteren mußte man zu ihm ziemlich hoch emporsteigen. Die Hornerstraße trennte unser Gelände von einer weiten Hochfläche, an derem Horizont zwischen Baumwipfeln die Kirchspitze von Altrahlstett herübergrüßte, wo damals schon mein lieber Onkel Walther Chalybaeus als Pfarrer und Propst von Stormarn wirkte. Die Hamburger Rennbahn war auch von unseren Fenstern aus zu übersehen, sodaß wir an manchem Rennen lebhaften Anteil nahmen.

Von unseren Jungen ist bisher nur beiläufig die Rede gewesen. Aber dieser große Gegenstand meiner nunmehrigen Arbeit bedarf doch einer besonderen Berücksichtigung. Rauh-Häusler-Jungen! Das Rauhe Haus ist, wie man weiß, ein Rettungshaus ursprünglich und hauptsächlich für Kinder aus dem Volke. Es war ja früher einmal die Einbildung da, als ob nur für solche an eine Rettung gedacht werden müßte. Bei den Kindern höherer Stände verbirgt die Not der Seelen und ihre große Gefahr sich ja soviel leichter hinter den Wänden der wohlhabenden Häuser. Meine Arbeit gehörte aber im wesentlichen den Söhnen gebildeter Stände, die in besonderen "Familien" des Paulinum erzogen wurden und einen Flügel des Schulhauses für sich hatten.

Ich kann mich deutlich nicht mehr an sehr viele der Knaben erinnern und will im folgenden nur einige Beispiele der inneren Nöte geben, an deren überwindung wir zu arbeiten hatten. Eine meiner ersten Religionsstunden in Untertertia galt der Geographie des Heiligen Landes. Ich sprach von den Nebenflüssen des Jordan und vom Jabbok. Da höre ich, wie das Wort "Schafkopf" als Reim empfunden von Munde zu Munde geht, so laut, daß die Jungen sich ihrer Herausforderung bewußt werden. Ich fühlte sofort, daß ein entscheidender Augenblick für mich gekommen war. Wenn ich jetzt nicht Ernst machte, war es um meine Autorität für immer geschehen. Es galt, den Urheber zu erraten. Ich blicke die kleine Schar einige Sekunden lang mit ernstem Auge an, rufe zwei aus der Bank und schlage ihnen mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, - es waren sehr stämmige Knaben - einige Ohrfeigen hinein. Mit gesuchter Ruhe erkläre ich der Klasse dann den Grund meines Mißfallens und meines Verhaltens und fahre nach einer Pause kurzen Schweigens freundlich mit dem Unterricht fort.

Ich bin heute noch glücklich darüber, daß es mir mit dieser instinktiven Entschiedenheit meines Auftretens gelungen ist, meine Autorität im Rauhen Hause ein für allemal zu sichern. Ich halte es für geboten, daß der Lehrer mit denkbarer Güte und fühlbarem Verständnis sich seinen Schülern hingibt, sodaß eine Herzensverbindung entsteht, aber daß in Augenblicken des Widerstandes oder innerlich empfundener Gegensätzlichkeit mit fester Härte das richtige Verhältnis wieder hergestellt wird.

Einer von den beiden etwa 14jährigen Jungen (die Jungen erreichten die Klassen infolge ihres Vorlebens meistens viel später als es normal war) war Friedrich. (Sie wurden bei uns nur mit ihren Vornamen genannt.) Dieser - als Sohn eines Baumeisters in Helsingfors (Finnland) - hatte schon vor 2 Jahren, also im 13. Lebensjahre, die Räuberlaufbahn betreten. Im tiefen Walde nahe seiner Vaterstadt hatte er sich unter Baumwurzeln eine Wohnung gegraben, war seinen Eltern davongelaufen, und nach 6 Wochen wurde er diesen von der Polizei wieder zugeführt. Er hatte die ganze Zeit über in jenem Versteck gewohnt, mit dem Revolver in der Hand sich seine Nahrung dadurch verschaffend, daß er die durch den Wald kommenden Landfrauen bedrohte, die auf den Markt nach Helsingfors Brot, Eier und andre Lebensmittel trugen. Ein psychologisches Rätsel! Dieser Friedrich, den ich mir mit meiner Festigkeit gewann, wurde während meiner Zeit ein wirklicher Freund des Lehrerkollegiums, ein wahrhaft gutmütiges Herz offenbarte sich je mehr und mehr, und wir konnten den schon vollkommen mannbaren Jungen mit vollstem Vertrauen zu ernsthaften Aufträgen verwenden. Er hat manchmal während der Pausen in der Laube zwischen uns Lehrern gesessen und dann zur Laute uns finnische Volkslieder vorgetragen, deren wehmütiger Ton noch in mir klingt. Dann geschah es wieder, daß er sein Hauptkunststück im Winter uns vormachte. Er entblößte seinen kräftigen Körper bis zur Hüfte, der tätowierte russische Adler zeigte sich auf Brust und Armen, und er warf sich bei 10 Grad Kälte in den Schnee und schlug mit Armen und Beinen und mit dem Kopfe hin und her, und als er aufstand, zeigte sich im Schnee das deutliche Bild des zweiköpfigen russischen Adlerwappens. Dieser unser liebe Friedrich ist dann in die Seemannslaufbahn getreten. Ich war schon lange fort aus dem Rauhen Hause, als ich die Nachricht bekam, daß der in allerlei Sport so tüchtige Mensch, dessen Charakter sich auch auf dem Schiffe völlig bewährt hatte, bei einem seiner Kunststücke, nämlich beim Tauchen unter dem Kiel des Schiffes hinweg, zu zeitig aufgetaucht war und seinen Kopf an der Schiffswand zerschmettert hatte.

Da war ein ganz anderer, Henning v. d. O., ein unglückliches Kind mit versteckten Mienen, scheuem Auge, immer in stiller Opposition, niemals heiter, hämisch gegen seine Kameraden, schadenfroh, auch als Tertianer schon über seine Jahre entwickelt, aber mit seiner unreinen Haut und seiner gelben Blässe ein unheimlicher Anblick. An ihm habe ich zum ersten Male in meinem Leben die deutliche Erscheinung der sinnlichen Gemeinheit und Verdorbenheit gesehen. — Erich M., Sohn eines wohlbestellten Kaufmanns aus Berlin, ein Tunichtgut geworden, weil er den Versuchungen der Großstadt haltlos überlassen war. Der Vater bringt ihn zu mir als Familienleiter - ich war das nun geworden - und schildert mir die Ursachen von seines Kindes Verirrungen. Ich bitte ihn dringend, da er ihn vor dem Abschied noch einmal mit nach Hamburg nehmen will, an diesem Nachmittag nur noch einen stillen Spaziergang an der Alster zu machen, und ihn dann beizeiten wieder herauszubringen. Lange warte ich am Abend, bis endlich um 10 etwa eine Droschke vorfahrt, Erich, mein neuer Zögling, herausspringt und der Vater, ohne noch etwas zu sagen, im Wagen davoneilt. Der Junge gestand mir, daß er noch einmal mit seinem Vater im Zirkus gewesen war. Da wußte man also, woher die Leichtfertigkeit des Jungen stammte. Es war doch auch sehr bezeichnend, daß in Erichs, mit der Fracht ankommendem großen Korbkoffer ein leibhaftiges Präriemesser, Spielkarten und ein großes Paket von Räubergeschichten zu oberst lagen. Die regelmäßige Stille und gleichmäßige Ordnung in der Anstalt haben unserem Erich dann bald sehr gut getan.

Eine eigentümliche Nummer war Kurt N. Ich glaube, er war nicht geringer Verfehlungen zu uns gekommen, der Leichtsinn hatte diesen 14-Jährigen schon sehr verdorben. Mit flotter Kleidung, die aber nicht mehr propre war, trat er bei uns ein, ohne Hut, das eine Hosenbein zerrissen, mit vollständig niedergetretenen Schuhen. Man sah es schon, ohne davon gehört zu haben, der Junge war auf der Walze aufgegriffen worden - tatsächlich, von zwei Vettern, die ihn suchten, schließlich gefunden, auf die Eisenbahn gesetzt und in einem Wagen dem Rauhen Hause zugeführt. Aber noch vor dem Eingang war er herausgesprungen, mit dem Rufe "ich soll hier ins Zuchthaus" war er durch die Hecken, und erst nach stundenlanger Jagd hat man ihn uns zuführen können. Während ich mit meinen "Brüdern" beriet, in welches Bett wir ihn legten und welchen Schrank wir ihm gäben, war ich eine Weile abwesend - da finde ich ihn beim Wiederhineinkommen am Klavier sitzend und einen Berliner Gassenhauer nach dem anderen höchst fingerfertig und mit Gesang dem staunenden Chore vortragen. Auch das war kein geringes Erziehungsproblem.

Kurt N. kam übrigens zwei Tage nach seiner Ankunft gravitätisch auf mein Zimmer: "Herr Zenker, ich erlaube mir eine Erklärung: ich wollte eigentlich wieder fortlaufen, aber es gefällt mir doch ganz gut. Ich werde dableiben!"

Weiter scheint mir von der Art unsrer Jungen noch das folgende Bild charakteristisch. Eines Tages kam in unsere Arbeitsstube ein langer Jüngling, schwarzäugig und gut gekleidet, dem man die besondere Vornehmheit auf den ersten Blick ansah. Es war der etwa 15jährige Alexander Prinz von Hohenlohe-Oehringen, der von nun an unsere Kameradschaft teilen sollte und von seinem Vormund, dem Fürsten von Hohenlohe, Herzog von Ujest, zu uns gebracht wurde. Alexander war ein guter Kerl, aber der Sohn eines in Paris verbummelten Magnaten und selbst zu schwach, um den Verführungen zu widerstehen, welche solch einem jungen Herrn sich massenhaft entgegendrängen. Das zeigte sich denn auch in meiner Jungenstube schon. Fünf Minuten nachdem der Herzog uns verlassen hatte - die Jungen hatten natürlich weder seinen noch des Knaben Namen erfahren, - umstanden sie ihn staunend, und zu mir kamen die kühnsten und fragten: Herr Zenker, auf dessen Koffer steht A. z. H., und es ist eine Krone darüber. Des Prinzen Stand sickerte natürlich trotz aller Vorsicht zu ihnen durch, und wenigstens die Hälfte seiner Kameraden klebten an ihm wie die Fliegen an der Honigtüte.

Welche Verschiedenheiten der Charakteranlagen wurden dem jungen Pädagogen damals offenbar. Der weinerkiche, ängstliche kleine Werni in der "Eiche", der vor lauter Lebensfurcht niemals zurecht kam. Der hochmütige Henny von A., dessen schöne prächtige Mutter jedesmal, wenn sie zu Besuch kam, etwas wie Sonnenstrahlen in meinem Zimmer zurückließ, der aber mit einer unsäglichen Verachtung auf alles Durchschnittsmenschentum herabsah und sich durch seinen alten Adel vor jeder Niedrigkeit und Verirrungsmöglichkeit gefeit glaubte. Er war aber zwar kein schlechter jedoch sehr schwächlicher Charakter, der jedem schlechten Einfluß hilflos nachgab. Da waren Jungen, denen die Schularbeit sehr schwer fiel, und die darunter sichtlich litten, wenn sie auch ihre Schwachheit schweigend zu verbergen suchten. Da waren andere, die spielend fertig wurden und auch gute Zeugnisse erhielten, aber in ihrer Oberflächlichkeit zu keinerlei ernstem geistigen Besitz kamen. Da waren höfliche und aufmerksame, offene und verschlossene Gemüter; und der Kandidat hatte Zeit und Pflicht, mit jedem Einzelnen sich zu beschäftigen und fühlte sich so - mehr als daß es ein Studium war - in die Tiefen der Erziehungskunst ein.

Der alte D. Wichern hatte über jeden seiner Zöglinge ein alltägliches Tagebuch geführt. Ich habe zu dieser Treue mich leider nicht erzogen; aber es ist wohl selten die letzte Abendstunde gekommen, ohne daß ich den Tag noch einmal überdachte, zu besserem Verständnis meiner Jungen durchzudringen versuchte und sie fürbittend vor Gott brachte. Mehrmals habe ich auch auf meinen Knien und mit Tränen Gott um Licht und Lösung in den ungeheuren Rätseln gebeten, die die Erlebnisse mir auferlegten.

So habe ich mit dieser Erzählung von meinen Jungen - und ich habe nie aufgehört, mit Liebe mich ihrer zu erinnern - denn auch schon einiges von den pädagogischen Grundsätzen berichtet, die wir uns selbst aufstellten, aber zu denen unser unvergleichlicher Johannes Wichern uns doch auch die Richtung gegeben hatte, indem er uns beobachtete und mit zarter, zurückhaltender Achtung uns auf häufigen Spaziergängen durch den Garten die nötigen Winke gab. Monatliche Lehrerkonferenzen brachten auch einen Austausch über unsere pädagogischen Meinungen zuwege. Man darf das Prinzip des Rauhen Hauses wohl kurz mit dem Satze bezeichnen: "Eingehendes Verständnis durch Liebe; die Liebe aber darf nicht weich, sie muß zielbewußt und ernst sein; und Liebe ist nichts anderes, als volles Hingegebensein der Seele an den anvertrauten Menschen". Dieses Erbe meines "Herrn Wichern" trage ich dankbar - aber auch beschämt durch mein Leben, denn ich habe es nicht immer genügend verwirklicht.

Vielleicht interessiert es, nun von unserem Lehrerkollegium und von unserer Brüderschaft noch etwas zu hören. Auch zwischen uns Oberhelfern sollte eine wahrhaft christliche Gemeinschaft das Band sein. Wir waren zur Hälfte wohl Theologen und schon durch diese Vorbildung zu einem gewissen Bewußtsein des christlichen Ideals gekommen, die andere Hälfte waren klassische und Neuphilologen, und auch ein Mathematiker war da. Diese Sorte Menschen habe ich immer mit einem gewissen verständnislosen Staunen betrachtet, obgleich ich ja selbst in der Schule kein schlechter Mathematiker gewesen war. Heute ist mir noch in der Erinnerung, als seien die Nichttheologen manchmal geradezu verwundert in die christliche Lebensluft hineingezogen, vor der sie aber dann mit deutlicher Ehrfurcht, oft sogar mit begeisterter Hingabe kapitulierten.

Aber was wüßte ich von dem allen, wenn nicht eben Herr Wichern das Ideal eines wahrhaften Christenmenschen gewesen wäre. Diese schlanke, ja hagere Erscheinung mit dem gepflegten grauen Vollbart erinnerte mehr an einen alten Reitersoldaten als an einen Pastor. Aber was auch von seinem Munde oder von seinen Handlungen ausging, war Christusliebe und demütiger Christusdienst. Das mußte auf uns wirken und hat es getan.

Pastor Röhricht mit seiner kleinen Frau, geb. Rosenlöcher, - Frau Wicherns Tochter aus deren erster Ehe - waren etwas eigentümliche Leute. Er fühlte sich wohl mehr als Gelehrtennatur und deshalb in der praktischen Arbeit nicht völlig am Platze. Es lag ihm eine gewisse Sehnsucht nach Zurückgezogenheit auf dem Antlitz, und oft gelang es auch bei längerem Zusammensein kaum, sein Schweigen zu durchbrechen. Und seine Frau hatte zuviel von dieser Eigenart in sich aufgenommen, um die Brücke zu unserem starken Leben in der Anstalt immer schlagen zu können. Doch hatte auch das sein Gutes, wenigstens für uns theologische Kandidaten. Pastor Röhricht hat zweifellos in uns die Gefahr überwunden, daß wir über der Praxis zu zeitig die Wissenschaft verloren. Seine Anregungen in Bezug auf die damals im Aufsteigen begriffene Ritschl'sche Theologie und über die historisch-kritische Einstellung zur Bibel waren unbedingt wertvoll.

Dann kam Hans von Schubert. Nach Frau D. Wicherns Tode war er mit Frau und Kindern der Bewohner des "weißen Hauses", und heute noch fühle ich, wie wohl mir wurde, wenn ich den Klingelzug an der Glastür anfaßte, die dort hineinführte. Im weißen Hause sind Schuberts ältere Töchter geboren worden, ich weiß jetzt wirklich nicht mehr, ob auch noch die jüngsten Kinder, mein Patenkind Erika ist doch wohl schon in Heidelberg geboren. Schubert, der kleine Mann mit dem dünnen Vollbart, ohne jede äußere Schönheit, ist ein leuchtender Mensch. Ich habe kaum jemals sonst einen Menschen kennen gelernt, der so ganz von dem Bewußtsein einer hohen, heiligen Pflicht und Aufgabe erfüllt wäre. Darin streng gegen sich selbst und gegen andere steht er immer vor Gott. Aber eben weil er das tut, und weil er ein bewußter Christ - d.h. ein in der Gnade lebender Mensch - ist, umleuchtet ihn auch eine derartige Fröhlichkeit, daß man selten aus seinem Hause kommt, ohne tüchtig mit ihm gelacht zu haben.

Mir fällt eine niedliche Begebenheit aus Lockwitz ein. Nach einem Mittagessen biete ich ihm zur Ruhe mein Sofa an. Er wirft sich drauf, strampelt mit Händen und Füßen in die luft und ruft immer wieder: "Das ganze Sofa soll mein sein!" Da war der große Gelehrte, der jetzt ein dreifacher Doktor und Geheimer Rat ist, wahrhaftig nichts anderes als ein fröhliches Gotteskind.

Schubert versammelte im Bewußtsein einer gewissen Führerpflicht die ganze "Kandidatur" zu regelmäßigen Monatsabenden in seinem Hause. Dann saß Bertha würdig in einer Sofaecke mit einer Handarbeit, sie war selbst auch Lehrerin gewesen und wohl imstande, anregende Bemerkungen in unsere Debatte hineinzuwerfen, und ihr Mann warf eine Frage nach der andern auf, die der Besprechung und Klärung wert erschien,philosophische und theologische, politische und geschichtliche, und hatte eine glückliche Gabe, aus jedem von uns das Beste herauszuholen, was in ihm war. Auch die, die ihm nicht so nahe standen wie ich, fühlten sich immer gehoben, wenn sie das Haus verließen.

Und nun unsere Kandidatur. Manchmal gab's doch eine Stunde, wo wir uns von unseren Jungen trennen und mit gleichaltrigen und gleichgesinnten Kollegen Zusammensein durften. Paul Bornhak, mein lieber Freund, Du bist nun auch schon droben in der Vollendung, nach der Du Dich von jenen Jünglingsjahren her so innig gesehnt hast, Du frommer Mensch mit Deinem reinen, pietistischen Herzen. Aber Du lebst in der Erinnerung Deiner Freunde auch hienieden mit großem Segen! Paul Bornhak hat sich damals aus der Nachbarschaft unserer Anstalt seine liebe feine Frau geholt, ist später Pastor in Barmen geworden; ich bin zur Taufe seiner ersten Tochter Erika, die mein Patchen ist, im dortigen Hause gewesen. Später aber ist unser Verkehr leider ganz auf den Briefwechsel beschränkt worden, der nicht allzu häufig sich vollzog, weil wir beide nach unsrer Art uns dem augenblicklichen Dienste vollständig hingeben mußten. Bornhak war auch wie Schubert ein Pflichtmensch, aber ebenso wie er nicht etwa im pedantischen Sinne sondern einer, der seine Pflicht von oben empfing und mit leuchtenden Augen als einen Gottesdienst erfüllte. Nach des Philologen Hauschild Abgang wurde er Familienleiter im "Köcher" und damit ein ganz vorzüglicher Berater der im schwierigsten Alter stehenden ältesten Zöglinge unseres Hauses.

Ernst Bunke - ein Kraftmensch, sein Name scheint mir manchmal noch ein Klangsymbol zu sein. Wenn der auf dem Spielplatz den Faustball von sich stieß, dann hatte man das Gefühl, man möchte in ein Mauseloch kriechen. Und so war sein Regiment in der "Eiche" von solcher Energie, daß man wohl hätte die Jungen bedauern können, wenn jene nicht von einer gleichen Kraft des Glaubens und der Liebe wäre gebändigt worden. Bunke war zweifellos schon mit seinen 22 oder 23 Jahren damals unter uns der ausgereifteste Charakter.

Nicht lange nach dieser Zeit trat Martin Hennig unter uns auf. Von Bunke hingezogen, war er auch von gleichem Wert und Wesen. Wir besitzen jetzt seine Lebensbeschreibung aus der Hand seiner Witwe; es bleibt mir nur das Recht, eine Blume der eigenen Erinnerung auf sein Grab zu legen. Martin Hennig - stattlicher junger Mann mit hoch erhobenem Haupte und mächtig emporquellendem, blonden Haar - ging vom ersten Tage an durch unsre Mitte wie ein König. Es lag wohl ein auffällig starkes Selbstbewußtsein in seinem Wesen, doch war dies mit so viel Güte, Aufopferungsfreude und persönlichstem Interesse verbunden, daß es viel mehr zu wahrhaftem Respekt als zur Abneigung hinführte. Von Hennig gingen immer nur anfeuernde Kräfte aus. Als er meinen Freund Bornhak in der Leitung des "Köcher" ablöste, da gab es trotz Bornhaks nie versiegender Treue, und obgleich auch dieser ein Mann von starkem Leben gewesen war, einen unverkennbaren Aufschwung. Hennig ist als Direktor des Rauhen Hauses gestorben, sicherlich Wicherns würdigster Nachfolger.

Von den anderen Kollegen nur noch wenige Worte. Da war der biedere Altphilologe Kausch, der hochgewachsene Kahlkopf Lepzien aus Mecklenburg; da war ein Mathematiker, dessen Namen ich jetzt vergessen habe. Ich denke mit komischer Erinnerung daran, daß Herr Wichern mich, als er meine gute Mathematikzensur im Abiturientenzeugnis gesehen hatte, zum 2. Mathematiker ernannte. Ich habe ein Jahr in großer Hilflosigkeit dieses Amtes gewaltet.

So denn noch ein Wort von meinem Unterricht. Religionsstunden in fast allen Klassen, Deutsch, Geschichte und eben auch Mathematik mußten in wohl 19 Wochenstunden bearbeitet werden. Daneben gingen die "Brüder"-Stunden; wöchentlich zweimal habeich während der ganzen Zeit biblische Bücher mit den Brüdern durchgesprochen, selbst von dieser Beschäftigung wahrscheinlich mehr erhoben als die Schüler, die meistens älter waren als ich. Diese frommen Handwerker aus allen Gegenden Deutschlands waren dem jungen Theologen wie ein Geländer, an dem er seinen Weg nach oben sicherer finden konnte. Ihr ernstes Suchen und Fragen hat mir manches religiöses Problem zunächst gezeigt, dann aber auch aufgeschlossen, und ich kann nur tief dankbar sein, wie diese Männer, ohne jemals die dem Lehrer schuldige Achtung zu vergessen, mit ihrer manchmal tiefen Erfahrung mich vorwärtsführten. Diese "Brüder" hatten tagsüber schweren Dienst. Manche waren Familienleiter in der "Knabenanstalt" und gaben selbst in der Volksschule drüben Unterricht, manche leiteten die Lehrlinge im "goldenen Boden" an, der Rest waren unsere Gehilfen in den Familien des Pensionats. Sie hatten alle ihren Mann zu stehen und kaum eine Minute der Ruhe am ganzen Tag.

Unser Tageslauf begann mit dem Geläute zur Andacht, welche täglich um 7 Uhr morgens meist von Herrn Wichern, oft aber auch von uns Kandidaten im Betsaal gehalten wurde. Da kam denn das ganze Rauhe Haus mit mehr als 400 Einwohnern zusammen. Es ward gesungen, ein Abschnitt der Heiligen Schrift verlesen und dieser in einem freien Gebete betrachtet und angewendet. Ich weiß von damals her, daß solche Andachten nicht nur eine fromme Übung sind. Sie heiligen den Tag und stellen das Leben unter Gottes Urteil. Und die Gebete unseres Herrn Wichern zu erleben, war immer eine Gottesgnade.

Dann kam das Frühstück, nach der Schule das Mittagessen im Speisehause, dem unser Bruder Hartmann mit seiner Familie großartig vorstand. Nach einer kurzen Mittagsruhe, die die Knaben an ihrem Tisch, der Oberhelfer wohl manchmal auf seinem Sofa zubringen durften, ging's ans Spiel im Garten oder an einen Spaziergang. Dann kamen die Schularbeitsstunden, die der Familienleiter auch zu seiner Schulvorbereitung brauchte.

Nach dem Abendbrot gab es Spiele am Tisch und auch wohl ein stilles Lesen in den Lieblingsbüchern, die bei mir doch meistens theologischer Art waren, und dann sank man, oft recht müde, ins wohlverdiente Bett.

Einmal im Jahre um die Pfingstzeit machten wir unsern 3 - 4tägigen Übungsmarsch. Da zog das ganze Paulinum in der Turnerkleidung nach kurzer Bahnfahrt in die schöne ostholsteinsche Schweiz hinaus, ein Trommler- und Pfeiferzug voran. In Scheunen wurde übernachtet auf der Streu, alle "unsere Lieder" erschallten und am Ukleysee oder einem der anderen ostholsteinschen Seen zwischen den wundervollen Buchen führten wir unsere Schlachten aus, die manchmal die Nachahmung irgend einer wirklichen historischen Schlacht sein sollten. Wir kamen über die Maßen fröhlich heim. Auf diese Wanderung hat man sich das ganze Jahr gefreut.

Ein- oder zweimal ist meine Käthe bei Wicherns auf eine Woche zu Gaste gewesen, auch das ist ein Zeichen der wahrhaften Liebe, mit der das Mutterhaus uns Oberhelfer und Brüder umfaßte. Ich weiß aber auch mit tiefer Dankbarkeit, wie Käthe sich damals die Herzen unserer lieben Hauseltern erwarb, und nach ihrer Abreise habe ich viel gutes Lob von diesen wertvollen Lippen über sie gehört.

Natürlich hatte ich selbst auch manchmal Urlaub; die Schulferien konnten als solcher nicht ganz uns gegönnt werden, denn es gab ja immer Jungen, die nicht in ihre Heimat konnten und betreut werden mußten. Aber vier Wochen im ganzen Jahre waren auch mir verbürgt, und die teilte ich dann redlich zwischen Mutter und Braut.

So denke ich denn heute an die Weihnachts- und Neujahrstage 1887/88. Es war das letzte Neujahr, das unser alter Kaiser Wilhelm - in seinem 91. Jahre - erlebte. Bebenden Herzens stand ich mit meiner Braut drüben an der Bibliothek, dem historischen Eckfenster gegenüber. Da kam das klingende Spiel des Garderegiments, der ehrwürdige Greis trat ans Fenster, dessen Scheibengardinen er beiseite schob, und schaute gütig zu seinen Soldaten hinüber. Aber das nach Zehntausenden zählende Volk ließ sich von den Schutzleuten nicht mehr halten, sie turnten an dem Denkmal Friedrichs des Großen in die Höhe, auf dessen Armen und Kopfe sie saßen, wir alle liefen dem Fenster unaufhaltsam zu und brausender Jubel füllte minutenlang die Luft. Mich selbst hatte das Erlebnis im ersten Augenblick so ganz ergriffen, daß ich von meiner Braut erst noch erinnert werden mußte, den Hut vom Kopfe zu nehmen. Ich war doch völlig außer mir selbst, und heute noch überrieselt mich die Ehrfurcht bei der Erinnerung dieser herrlichen Augenblicke.

Ich hatte den alten Kaiser 1882 als Primaner schon einmal ganz nahe gesehen, als er zum Manöver in Dresden war. Da stand ich am Schloßtor und sah, wie der kaiserliche Wagen an einer der Wachen zu nahe vorbeifuhr, als daß diese ihre Haltung hätte bewahren können, der Mann fiel zurück und ließ das Gewehr fallen. Da war es ergreifend, wie der alte Kaiser sich weit zurückbeugte und immer der Schildwache bedauernd zuwinkte.

Hier denke ich noch einmal daran, was auch mein Vater von diesem Fürsten gehabt hat. Er war unter, den ersten gewesen, die 1878 nach dem Nobilingschen Attentat den Kaiser hatten begrüßen dürfen, und hatte die unendlich gütigen Worte gehört, mit denen der Kaiser seinem Volk das unverminderte Vertrauen bezeugte. Vaters persönliches Schicksal war eine Zeit lang merkwürdig eng mit den höchsten Schicksalen des Vaterlandes verbunden, ist er doch schließlich selbst ein Opfer von Bismarcks hoher Politik geworden, mit dem er in der Frage des Schutzzolles und Freihandels in Opposition stand, und hat sich daher sein Herzleiden geholt. Um so tiefer wirkte auf uns die unsägliche Verehrung, die Vater wie ein bescheidenes Kind dem großen Kanzler entgegenbrachte.

Nur noch ein paar Erinnerungen. Wie schön waren unsere Osterfeiern an den Wichernschen Gräbern auf dem lieben Hammer Friedhof, wo unter dem Kreuz mit seiner Inschrift "unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" auf einfachem Steine zwischen Efeublättern der große Name D. Wicherns feierlich grüßte, und wo wir dann auch Amanda Wichern bestattet haben. Früh zur Stunde des Sonnenaufgangs am Ostertage wanderte das ganze Haus hinüber, und Herrn Wicherns Andacht wurde unter unseres Posaunenmeisters - Bruder Winter - Leitung von den mächtigen Klängen der beiden Choräle "Jesus, meine Zuversicht" und "Jerusalem, du hochgebaute Stadt" umrahmt. Diese in großer Vollendung vorgetragenen Lieder haben jedesmal einen gewaltigen Eindruck auf uns ausgeübt, und das letztere Lied, das ich damals erst kennen lernte, ist mir seitdem eines der schönsten geworden, die ich im Innersten besitze.

Meine freien Sonntage führten mich an den Vormittagen oft in die mächtige Große Michaeliskirche in Hamburg, deren feiner Turm im klassizistischen Stile so malerisch über die Masten und Schornsteine des Hamburger Hafens hinausragt, und deren weites Schiff die Spannung der Frauenkirche in Dresden noch übertrifft. Dort hat mir Senior Behrmann mit seiner wundervollen Stimme, aber auch mit seinem reichen Glauben das Herz geweitet und erhoben. - Am Nachmittage wanderte ich dann wohl nach Altrahlstett zu Onkel Walthers. Einmal bin ich mit Käthe an einem schlimmen Nachwintertage so gewandert, und an einer tüchtigen Frostbeulennarbe trage ich heute noch die Erinnerung von jenem schönen Tage am Fuß.

Die Rauh-Häuslerzeit hat Ostern 1890 ihr Ende gefunden. Nicht leichten Herzens habe ich von Wichern und meiner bisherigen Heimat und Hamburg Abschied genommen; aber es wartete meiner nun doch auch wieder eine schöne Zeit. Erst sollte ich nach den großen Anstrengungen der bisherigen Arbeit wieder zu Kräften kommen, dann galt es, die letzten Vorbereitungen für das 2. theologische Examen zu treffen. Und dazu bot sich mir die liebe Mutterheimat in Plauen, wo ich mit meinen Büchern tagsüber im Garten und abends bei der traulichen Petroleumlampe am großen runden Tisch mich sehr wohlfühlen durfte.

Es kam das Examen pro ministerio wohl Anfang Mai. Oben im alten Ministerpalais an der Seestraße, dessen 2. und 3. Stockwerk das Komsistorium innehatte, saß der vornehme Herr von Berlepsch als Präsident. In feierlicher Reihenfolge als Neutestamentler D. Ackermann, dann das Alte Testament in Händen meines lieben Onkels Kühn. - An dieser Stelle sah die Liebe freilich sehr nach Strenge aus. - Die Systematik folgte mit den frohen Augen meines teuren Oberhofpredigers D. Meier, von der Kirchengeschichte kann ich mich nicht besinnen, wer sie mir abgehorcht hat, in der praktischen Theologie war wohl Hofprediger Löber der prüfende Mann. Das Kreuzfeuer ging gnädig vorüber; am nächsten Morgen hatte ich eine lateinische Karte meines lieben Onkels Kühn in der Hand, die mir mitteilte, daß ich die Zensur II erhalten hätte.

Nun war denn der Flug freigegeben ins schöne romantische Land des Amtes!, und die Augen wanderten im Lande und in den Zeitungen herum, um irgendeine Stelle zu finden, auf der ich mich - womöglich gleich mit meiner Käthe - niederlassen könnte. Doch hat mein treuer Gott auch hier wieder es gefügt, wie Er es haben wollte. Ich hatte als Student ein einziges Mal in einem Gottesdienst gepredigt - im lieben Priesteblich, das mir jetzt so nahe steht, hat meine Fuchskanzel gestanden und dann natürlich auch in der Filiale Frankenheim. Auch das war aber nur die Ausarbeitung einer homiletischen Übung im Seminar gewesen. Ich fürchtete mich ja tatsächlich vor der öffentlichen Rede.

Nun mußte es aber endlich Ernst werden. Ich bot mich deshalb an verschiedenen Stellen zur Aushilfspredigt an und kam so auch einmal nach Rothschönberg bei Meissen. Nicht lange darauf bekomme ich vom Konsistorium die Weisung, als Vikar nach

Taubenheim bei Meißen

zu gehen. So war's also zunächst noch nichts mit der Heirat; aber das war auch gut so, denn nun erst merkte ich, wieviel es noch fürs praktische Amt zu lernen gab.

Mein liebes Taubenheim! 1 ½ Stunde von der Bahnstation Miltitz gelegen, nach der anderen Seite ebenso weit von Wilsdruff entfernt, war es ein richtiges Bauerndorf, eine kleine Chamottewarenfabrik veränderte seinen Charakter nicht. Malerisch von dem alten Schlosse überragt, in dem die Kirchenpatronin, Madame Roßberg, hauste, bot der etwa 1000 Seelen umfassende Ort besonders im Frühling einen lieblichen Anblick. Und dort nun im hochgelegenen, geräumigen Pfarrhaus das eigenartige, kinderlose, alte Pfarrehepaar Crusius. Er war als Sohn und Enkel längst verstorbener Landpfarrer der rechte Typus eines solchen; 60jährig, aber schon so greisenhaft, daß er nicht mehr allein durchkommen konnte und einen Vikar vom Konsistorium erbeten hatte. Dabei hatte er meinen Namen genannt, er hatte in Rothschönberg mir zugehört und, warum soll ich's nicht sagen, einen Narren an mir gefressen.

Ich bin dieses 3/4 Jahr meines Aufenthaltes in Taubenheim der nur zu sehr verzogene Liebling der alten Leute gewesen. Frau Pfarrer Crusius war aber keineswegs alt, sie hatte wohl damals ihre 54 Jahre; eine geradezu leuchtende, vornehme Schönheit voller Geist und Leben, war sie nur durch die Weltentfremdung ihres hypochondrischen Mannes zu gleicher Gewöhnung und Neigung gekommen. Aber sie bedurfte ja auch der Gesellschaft nicht, denn ihr reicher Geist hatte soviel mehr als alle anderen zu geben, daß diese nur bettelnd vor ihr standen.

Ich will gleich hier auch ihre Schwester, Frau Wassermann aus Paris, erwähnen, - als Erscheinung nicht gleich bedeutend, aber ebenso wie sie eine höchst interessante Persönlichkeit. Sie hatte einen jüdischen Bankier geheiratet, ohne selbst Jüdin zu werden, war aber nun selbstverständlich zum Freigeist geworden und brachte in unser stilles Pfarrhaus eine Note hinein, wenn sie da war, die jedenfalls für die sächsischen Christen doch eine gewisse Dissonanz gab.

Man kann sich aber denken, daß das "Vikärle", wie es von der Crusia genannt wurde, oftmals Mund und Augen aufriß in dieser Gesellschaft; zwischen dem zweifellos recht engen Horizont des alten Pfarrers und der Weltweite, die in den beiden Frauen sich offenbarte, pendelte sein junges Gemüt oft hilflos hin und her, und es wäre vielleicht nicht gut gegangen, wenn Frau Pfarrer Crusius nicht doch zugleich ein überaus warmes Herz besessen hätte, das alle Gegensätze ausglich und alle trüben Stunden durchgoldete. Dies reiche Leben hatte sich ja auch mit der engen Armut ihres Lebensgefährten zurecht zu finden gewußt. Sie war eine arme Lehrerin auf einem Schloß gewesen und hatte sich von dem immerhin stattlichen jungen Pfarrer aus ihrer gedrückten Lage gern befreien lassen — aber Freiheit ist ein recht dehnbarer Begriff.

Dort in Taubenheim bin ich denn am 17. August 1890 von meinem Onkel Johannes Kohlschütter, dem Nachfolger meines späteren Schwiegervaters - D. Ackermann - im Meißner Ephoralamte, ordiniert worden. Wenn ich jetzt als Superintendent junge Geistliche ordiniere, dann steigt jene feierliche Stunde jedesmal, mich tief bewegend, in meiner Erinnerung auf. Kann jemand solche Stunde unberührt erleben? Das geistliche Amt, die Verkündigung des Evangeliums, der Bau des Reiches Gottes auf Erden, die Sorge um das ewige Heil von 1000 Seelen legt sich einem aufs Herz, ein gewaltiger göttlicher Ruf durchschauert einen und zwingt wohl uns alle im Kämmerlein auf die Kniee: "Ich bin nicht wert, daß Du unter mein Dach gehst; aber sprich nur ein Wort, so wird Dein Knecht gesund!" Von jener ersten starken Bewegung meines Innenlebens her klingt mir bis heute immer wieder in der Seele: " Laß dir an meiner Gnade genügen, dann meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" - 2. Kor.12, 9.

So galt es denn nun, jeden Tag aufs neue tastende Schritte in das unbekannte Land zu tun. Es hatte mich gestärkt, daß Onkel Johannes auf meine bange Frage mir die Antwort gab: tue nur immer treu, was jeder Augenblick dir nahelegt. Aber das ist ja eben im Pfarramte so ganz anders als wohl in den meisten anderen Berufen. Es gibt sehr viel freie Entschließungen. Es ist nicht immer selbstverständlich, daß man in der Stunde persönliche Seelsorge und in jener die Vorbereitung einer Rede zu vollbringen hat. Es ist erst recht nicht selbstverständlich, was man einem Trauernden oder einem zerbrochenen Gewissen sagen muß, wenn man erst nämlich es soweit brachte, das Herz des anderen Menschen zum Vertrauen sich zu öffnen. Ich habe mich da immer als ein tastender und wenig fähiger Pastor gefühlt. Aber gerade dies gestehe ich auch hier in meinen Erinnerungen gern, weil ich auch heute noch glaube, daß eben diese Stimmung die einzig rechte Grundlage für einen einigermaßen befriedigenden Dienst gibt. Des Herrn Kraft muß alles tun, und die will aus der Tiefe erbeten sein.

Mein alter Crusius predigte manchmal mit zerstörter Stimme, und ich glaube auch, daß seine Predigten inhaltlich nicht mehr viel boten. Im übrigen führte er seine Kirchenbücher mit feiner Schrift sehr peinlich, in dem Aktenschranke sah es schon weniger großartig aus. Das Wesentliche des Pastorenamtes war auf mich gelegt; es war doch gut, daß der Fisch eben schwimmen lernen mußte, der ja davon in seinem bisherigen Arbeitsleben noch vieles versäumt hatte. Ich machte regelmäßige Besuche bei einem Alten, der dauernd bettlägerig war; ich suchte auch die zeitweilig Kranken auf, die in einem solchen Dorfe gewöhnt sind, nach dem Pfarrer zu verlangen. Das ist das Schöne in einer Gemeinde mit mittlerer Seelenzahl, daß sie einen alle brauchen und man sie auch alle erreichen kann. Für den Anfänger war's doch manchmal ein bißchen viel, nicht an Zeit- aber an Gedankenbelastung. Vereinsarbeit gab's so gut wie keine. Dann und wann, aber selten genug ward ein Familienabend gehalten im Gasthof unten, und ich habe dieses eigenartige Vergnügen, in rauchüberfüllten Sälen mit klappernden Biergläsern die Sammlung der Gemeinde vorzunehmen, nicht gerade als sehr wohltuend schätzen gelernt; dennoch wird diese so eigenartiger Krücken in manchen Orten nicht ganz entraten können.

Meine Hauptarbeit war natürlich in der Woche die Vorbereitung der Predigt, vor der ich mich jedesmal sehr geängstigt habe, und ich will es nur gestehen, ich bin in den ersten Monaten nicht selten stecken geblieben. Meine Konzepte arbeitete ich sehr genau aus und habe lange Jahre dabei auch großen Wert auf eine ästhetisch schöne Durchbildung des Stiles gelegt. Crusius schenkte mir damals 2 Bände von Rudolf Kögels Predigten. Ihn nicht abzuschreiben, aber doch auch fast über das Erlaubte nachzuahmen, habe ich mir lange angelegen sein lassen. Das ist wohl doch ganz gut für meine Ausbildung gewesen. Etwa in meinem 15. Amtsjahre habe ich mit diesem Ideale bewußt gebrochen. Aber meine Stilistik hatte ja wohl nur gewonnen. Mein alter Crusius hat in dieser Hinsicht mir auch manches aus guter Erfahrung heraus gebotene Wort der nützlichen Kritik gesagt.

Ein eigenes Kapitel waren unsere Kirchenvorstandssitzungen. Oft brauchte ich sie nicht mitzumachen, denn Crusius fühlte sich da noch ganz als Herr. Aber wie war das seltsam, wenn er dann aus dem Gasthof heraufkam in später Abendstunde und grimmig in der Stube auf und ab wandelte und über den engen und wohl wirklich oft hämischen Geist seiner Bauern schalt. Ich hatte mir die Arbeit am Kirchbau so ganz anders gedacht und habe mich damals im Blick sowohl auf das Ehrenamt der Kirchvorsteher als auf die pfarramtliche Gesinnung in gar manches hineinfinden müssen. Dann und wann bin ich ja auch dabei gewesen, dann aber nur als ein stiller Hörer und oft sehr zweifelhaft, welcher von beiden Parteien ich innerlich rechtgeben sollte. Die Heimkehr des lieben "Chefs" aus solchen Abenden unterbrach dann unerfreulich die schönsten Stunden, die mir als Vikar beschieden waren. Mit meiner geistvollen Frau Pfarrer Goethes oder Shakespeares Dramen zu lesen und zu besprechen oder irgend eine von Schillers Prosaschriften, oder auch mit ihr geistliche Gespräche zu führen - denn auch hier hinein reichte das Interesse der weltoffenen, hochgebildeten Frau -, das war stets eine Erhebung und Bereicherung meines eigenen geistigen Lebens.

Ich will die Erinnerungen an jene Zeit abschließen mit der dankbaren Freude, daß ich mit Frau Pfarrer Crusius noch lange Jahre hindurch - auch nach dem Tode ihres müden Mannes - in innigster Verbindung geblieben bin, und daß meine Frau sie ebenso hat lieben und verehren lernen wie ich selbst. Sie kam von ihrer Witwenwohnung in der Wilsdruffer Vorstadt oftmals in unser Lockwitzer Pfarrhaus und ist die Patin meiner Tochter Marianne geworden. - In einem schweren Krebsleiden hat sie ihre Charakterfestigkeit und Freudigkeit dann bis zum Ende wundervoll bewährt.

Da steht denn der Name

Lockwitz

plötzlich da, das mir nun 17 Jahre lang zur Heimat werden sollte. Der Name, in dem für mich Freuden- und Tränenbäche gleichermaßen rauschen, aber von dem her mir sie alle zu einem Strom des Segens sich vereinigt haben. Lockwitz ist die einzige Stelle gewesen in meinem Amtsleben, die ich durch Bewerbung erhalten habe, in die spätren bin ich alle gegen Wunsch oder Hoffnung wunderbar von meinem Gotte geführt worden. Aber auch Lockwitz hab ich sicherlich einer besonders gnädigen Führung meines Gottes zu verdanken. Es war immerhin eine schon große Gemeinde, und daß ich vom Kirchenpatron, dem Rittmeister a.D., Freiherrn von Kap-herr, mit zum Vorschlag gebracht worden war, geschah fast zu meiner eigenen Überraschung. Es war bei der Wahl denn auch ein großer Zwiespalt; aber die Stimmenmehrheit fiel auf mich, und Ende Juni hielt ich die Berufung zum Pfarrer von Lockwitz in meiner Hand. Gerade die Kirchvorsteher, die mir ihre Stimme verweigert hatten, sind dann später meine besten Freunde geworden.

Walther und Katharina Zenker geb. Schumann.

Also, heiraten durfte ich! Ich fuhr nach Berlin. Zum Tag meiner Einweisung wurde von meinem Superintendenten der 9. August festgesetzt, und wir wagten es, den 4. August zum Tag unserer Hochzeit zu bestimmen. Dienstag den 4. August fuhr ich denn von unsrer alten Kommandantenstraße aus mit meiner lieben Käthe Schumann zunächst aufs Standesamt, und es berührte einen wie ein komischer Schlag, als der Lohndiener die wieder in den Wagen Steigende als gnädige Frau anredete. Ein paar Stunden später hat unser lieber Freund, der Konfirmator Käthes - Prediger Knauert - uns in der Luisenstädter Kirche mit dem Paulusworte Philipper 3, 12 getraut, einem Worte, das uns beiden innerlich gehörte: "Nicht, daß ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin". Wir waren - Gott sei Dank! - beide von Christo Jesu ergriffen, und solange unsere kurze Ehe währte, sind wir ihm mit ernstem Willen nachgejagt, "ob wir es auch ergreifen möchten", und unser Ringen ist durch die Gnade nicht vergeblich gewesen.

Es gab nicht viel Geld und auch nicht viel Zeit zur Hochzeitsreise; wir waren froh, doch wenigstens 3 Tage in Herrnskretschen an der Elbe in der sächsisch-böhmischen Schweiz miteinander verbringen zu dürfen, nicht weit von unserem lieben Postelwitz, das uns ja 1879 zu Freunden hatte werden lassen.

Aber nun kam der Sonnabend, der 8.August. Da stand in Niedersedlitz eine geschmückte Kutsche, und wie die jungen Fürsten wurden wir an der Flurgrenze von Lockwitz unter einer Ehrenpforte empfangen. Da standen die beiden im Kirchenvorstand befindlichen Gemeindevorstände von Lockwitz und Nickern und sprachen mich festlich an. Da jubelte der Kirchenchor unter der Leitung meines lieben Kantors und Freundes, des späteren Schuldirektors Möbius ein frommes Lied. Da zogen wir zu Fuß vom ersten Hause - an der Kirche vorbei - bis über die Brücke und an das Pfarrhaus, das zwischen seinen zwei hohen Linden mit seinem traulichen Giebel uns liebevoll aufnahm, mit Blumen und allerlei Gebäck aus der Verwandtschaft und Gemeinde uns empfangend. — Mein hochverehrter Superintendent, D. Benz, wies mich ein. (Luc. 9, 62.)

Lockwitz-Kirche Innenansicht
Lockwitz-Kirche Innenansicht
Quelle: Marburg Fotoarchiv

Ich hielt meine Antrittspredigt. Ein festlicher Tisch im Schlosse vereinigte die Patronatsherrschaft, den Superintendenten, die Pfarrersleute und die Kirchenvorstände. Ich staune heute noch, wie ich bei all den festlichen Versammlungen mich durchgeredet habe, und denke manchmal, ich bin wohl ein wenig superklug gewesen.

Freiherr von Kap-herr war ein echter und rechter Kirchenpatron. Damals noch kaum älter als 40 Jahre, hatte er kurz vorher den Dienst eines Rittmeisters bei dem vornehmen Regiment der Hannoverschen Ulanen quittiert. Zwei seiner Brüder waren noch aktiv und erschienen in seiner Uniform, die er auch selbst bei besonderen Gelegenheiten mit berechtigtem Stolze trug. Der schlanke, hochgewachsene Mann mit seinem schmalen Kopfe und seiner kühnen Adlernase, unter der ein kräftiger aber fein geschnittener Schnurrbart saß, sah in der blauen Ulanka mit dem weißen Fond ganz prächtig aus.— An seiner Seite die stolze, stille, aber auch gütige Baronin, geb. Gräfin Bünau aus einer verarmten Linie. Ihr Bruder mußte als Oberstleutnant mit seinem Solde auskommen, und man sah ihm seiner Familie Armut an.

Und nun die Kinder. Meine Amélie und Margot und Richard! Damals die Mädchen wohl 12- und 11-jährig, der Junge so klein, daß er mich mit den Worten begrüßte: "Pascha tomm" (Pastor komm). Amélie und die anderen habe ich dann konfirmiert, in lieben Privatstunden sie im Schlosse unterrichtet, ich habe sie getraut und ihre Kinder getauft, und ich habe Amélie und ihren Mann begraben. Diese älteste Tochter der Familie, ein leuchtendes Wesen; an der - in ihrem schönen schlanken Leibe - war alles Geist und Leben. Und eine Herzensgüte strahlte aus ihr, die absolut keinen Unterschied zwischen einem fürstlichen Besuche und einem Diener oder einer Waschfrau machte. Dies Wesen habe ich geliebt und innerlich verehrt, wie nur ein Mensch einen anderen hochhalten kann.

Ich will gleich hier erzählen, was mich jetzt noch im Innersten bewegt, so oft ich daran denke. Graf Theodor Vitzthum, ihr Mann, war mit seiner kleinen Familie wohl etwa 1911 nach Straßburg versetzt worden. Seine zwei Kinder hatte ich in Döbeln getauft, wo er als Hauptmann bei dem dortigen Infanterieregiment 139 stand. Da ward mir die Nachricht - ich war Pfarrer in Dresden-Striesen,- daß ich Amélie, die junge Gräfin, in Lockwitz bestatten müsse! Ich fuhr hinaus, mußte bei dem tiefgebeugten Vater von Kap-herr lange warten, bis Graf Vitzthum sich entschließen konnte, mich zu sehen. In einer Nacht war die Gräfin gesund und tot gewesen, eine eitrige Mandelentzündung hatte sie plötzlich hingerafft. Ich kam hinauf in die Gaststube, - der junge Witwer stürzt auf mich zu, umkrampft mir beide Hände und ruft mich an: "Jetzt, Pfarrer, sagen Sie mir Ihre wirkliche Überzeugung, vergessen Sie ganz, daß Sie Pfarrer sind, und reden nur die Wahrheit. Lebt meine Frau oder lebt sie nicht?" In meiner Erschütterung mußte ich mich sammeln und meine Tränen zurückdrängen. Aber dann durfte ich - Gott sei Dank - sprechen: "Ich glaube an die Auferstehung und an das Leben! Ich glaube, daß Amélie bei ihrem Gott ist, sowahr sie eine echte Jüngerin ihres Heilands war." Da ließ der Mann mich los, warf die Arme in die Höhe und rief ein über das andremal mit froher Stimme: "Dann will ich's tragen, dann will ich's gerne tragen." Ein Jahr darauf ist er selbst als eines der ersten Kriegsopfer ein toter Mann gewesen - und ich habe ihn an der Seite seiner unvergeßlichen Gattin in jener eigentümlichen Katakombe beigesetzt, die sich die Familie von Kap-herr auf einem Berghügel oben über Lockwitz ausgebaut hatte.

Margot, die zweite, hat einen Freiherrn von Globig geheiratet, den Sohn eines in Dresden sehr bekannten Hofmarschalls, und ich habe auch ihr Kindchen getauft. Sie war ein eigentümlicher Gegensatz zur Schwester, eine stille, sehr zurückhaltende Persönlichkeit, aus der man nicht leicht klug werden konnte. Ich hoffe, daß sie wie auch die Ihrigen in einem glücklichen Leben steht. Leider hat sich das Band zwischen uns in der Länge der Zeit gelöst. Und ebenso stehts mit Richard, der heute wohl bereits Patronatsherr auf Lockwitz ist, den ich aber in meiner Erinnerung als einen höchst stattlichen, blonden Offizier des blau-weißen Gardereiterregiments in Dresden behalte.

Baron von Kap-herr war wirklich ein guter Kirchenpatron. Ich brauchte ihn kaum an einem einzigen Sonntag während meiner 17 Amtsjahre in Lockwitz in der Kirche zu vermissen, und meistens saß er mir in seiner Loge mit seiner ganzen Familie gegenüber, aufmerksam auf jedem Vorgang und auf jedes Wort gespannt. An unseren Kirchenvorstandssitzungen nahm er persönlich fast niemals teil; aber daß Protokoll der Sitzung mußte ihm sofort vorgelegt werden, und es kam niemals ohne Zeichen ernster Durcharbeitung zurück. Er war nicht immer bequem, weil er auch recht schroff tadeln konnte; aber er war immer ein Vorbild ernster Pflichterfüllung und wirklicher Gottestreue. Die Kap-herrs sollten die Freiherrnwürde vor zwei Generationen etwa in Rußland erhalten und damals ein großes Bankhaus in Petersburg besessen haben. Es war einer der erregtesten Momente unseres Zusammenseins, als der Baron mir mit zuckenden Lippen erklärte, es beleidige ihn, daß manche sagten, er stamme von Juden ab.

Die beiden Dörfer Lockwitz und Nickern, die meine zusammen 2500 Seelen zählende Gemeinde bildeten, waren noch deutlich erkennbare slavische Rundlinge. In Nickern, der 700 Seelen umfassenden Filiale, war tatsächlich nur ein Eingang ins eigentliche Dorf vorhanden. Um den alten Dorfteich her, der aber in Lockwitz zugeschüttet und in den "Plan" verwandelt worden war, die Häuser mit ihrem Giebel alle dem Mittelpunkt zugewendet, ein zweiter Kranz von Häusern hinter ihnen. Die Kreisform war nun freilich in Lockwitz schon längst zerstört. Von Niedersedlitz her und nach dem "Grund" zu gab es lange Straßenzeilen. Das Dorf liegt am Eingang des Lockwitztales, dessen Straße nach dem Bad Kreischa herabführt. Dicht an die letzten Häuser treten die Hügel und Berge heran zunächst mit einer Höhe von 50 - 100 m, die sich dann in sanftem Aufstiege immer mehr zum Erzgebirge erhöhen. Hoch ragt dem "Plan" gegenüber das Schloß empor, ein unschöner Kasten, zu welchem die reichen Kap-herrs, die viel Geselligkeit pflegten und Gastzimmer brauchten, das alte, in edlem ländlichen Stile errichtete Herrenhaus der früheren Besitzer, Familie Preusser, umgebaut hatten. Die Kirche, unmittelbar ans Schloß angelehnt, verschwand leider fast neben seinem riesigen Ausmaß. Hinter dem Schloßpark stiegen die Felder zur Krähenhütte auf,- das Krähenschießen war ja eine noble Passion der vornehmen Herren im vergangnen Jahrhundert gewesen - dort ragte ein reizender kleiner jonischer Tempel über die jungen Bäume, zwischen dessen Säulen hindurch man in die Tiefe des Berges hinabstieg, um dort zu seiner Überraschung eine regelrechte römische Katakombe zu finden. In den Felsen hineingehauen waren die loculi für die Särge der Kap-herrschen Familie, die nach ihrer Ingebrauchnahme auf den Verschlußplatten aus Marmor die Namen und die Elogia der Bestatteten aufwiesen.

Beide Dörfer waren früher ausgesprochene Bauerndörfer gewesen, jetzt hatten Kap-herrs und auch die Nickernschen Rittergutsbesitzer fast alle Güter aufgekauft. In Lockwitz gab es außer dem Rittergute wohl nur noch 2 selbständige Bauern, ebenso in Nickern.

Von dem Nickernschen "Bauern", Herrn Wirthgen, eine charakteristische Erinnerung. Zu irgend einer Auseinandersetzung mit seinem dicken Bauernschädel war der geh. Regierungsrat und Amtshauptmann Dr. Schmidt in seiner Dienstkutsche selbst herausgekommen. Dies Amt galt damals noch sehr viel, die Amtshauptleute waren im ganzen Lande wie kleine Könige geachtet. Der Streit war heftig geworden, und Gutsbesitzer Wirthgen braust schließlich auf: "Wenn der Herr Amtshauptmann mir das nicht genehmigt, dann gehe ich eben direkt zum König". Ein wenig von oben herab antwortet der Geheimrat: "Da glauben Sie wohl sicher anzukommen?" Und Wirthgen antwortet heiter lächelnd: "Ja, Herr Amtshauptmann, der König und ich, mir sinn wie Brieder". - Diese Art eigenständige, stämmige Menschen hatten etwas herzerquickendes. Ich fürchte, sie sind auch jetzt schon seltener geworden, als sie damals noch waren.

Ein ähnlicher Charakter war auch der Rittergutsbesitzer von Nickern, Herr Winckler, ein Bauer in grossem Ausmaße, sowohl nach seiner landwirtschaftlichen Tüchtigkeit wie bäuerlichen Grobheit hin. Wenn der mit seinen großen Stiefeln über die Felder Schritt, dann fürchteten sich die Knechte, und ich glaube, auch ich habe mich manchmal gefürchtet, wenn ich ihn unten klingeln hörte. Dieser Kraftmensch stach seltsam ab von seiner auch recht stattlichen aber wirklich vornehmen Frau, mit der er aber in recht guter Ehe lebte. Und noch mehr stach er ab von unserem Rittergutsbesitzer, bei dem ja jeder Zoll etwas adliges hatte. Die beiden standen sich denn auch wie Feuer und Wasser gegenüber.

Im wesentlichen war unser Lockwitz und auch Nickern glücklicherweise noch nicht ein Arbeiter-, sondern ein Handwerkerdorf, die Heimat eines kleinen, ehrsam arbeitenden Bürgertums, mit dem es sich recht wohl leben ließ. In allen den 150 Häusern wohnten unten neben ihren Werkstätten die Meister, während die oberen Zimmer an Kontoristen- und Arbeiterfamilien vermietet waren. An Fabriken gab es in Lockwitz keine. Aber nach entgegengesetzter Richtung hin war 20 Minunten entfernt im Lockwitztale die Rügersche Schokoladefabrik und in Niedersedlitz die Tonwarenfabrik von Otto Kaufmann. Mit dem letzteren bin ich nur wenig in Verbindung getreten. Aber der Kommerzienrat Otto Rüger, bei meinem Anfang in Lockwitz ein Mann von etwa 60, ist mir bald ein väterlicher Freund geworden, von dem mit seiner ganzen Familie ich noch manches zu erzählen habe. Hier nur soviel, daß dieser hochdenkende, fromme und sozial gesinnte Herr den Geist der Fabrikarbeiterschaft bestimmte, die mir in meinem Amtsleben nahe gekommen ist. Ich habe es erlebt, wie sehr viel für eine gute Gesinnung der Arbeiterschaft vom Arbeitgeber abhängt. Selbstverständlich gab es in Lockwitz auch nicht wenige Sozialdemokraten. Aber solche, die sich in unfreundlichen Gegensatz zu ihren Mitbürgern oder auch zur Kirche gestellt hätten, habe ich in den 17 Jahren meines Lockwitzer Lebens nur wenige kennen gelernt. Es lag auch im Wort und Antlitz der opponierenden Arbeiter dort ein stilles Eingeständnis, daß der Familie Rüger gegenüber irgendwelche Feindseligkeit nicht möglich sei.

Noch bleibt bei dieser Schilderung der Ortseinwohner, die ja mein Arbeitsfeld bedeuten, die eine oder andere Gruppe zu bedenken. Eine große Bedeutung hatte Hänichens Mühle. Schon daß die alte verwitwete Besitzerin im ganzen Orte den achtungsvollen Titel "Madame Hänichen" trug, war ein Zeugnis für ihre herausgehobene Stellung, und sie war sich dessen auch recht bewußt. Herzensgütig, fürsorgend, geschäftlich wohl sehr tüchtig und energisch, von einer Weite des Blicks, wie sie auf unseren Dörfern doch selten vorkommen mag; sie hatte einen Sohn, der sehr jung als Reformparteiler, d.h. antisemitisch-konservativer Abgeordneter in den Reichstag kam, und der mir mit seinem politischen Brausekopfe nicht immer angenehm, aber ebenso wegen seines lebendigen Geistes wie wegen seines reinen Herzens doch recht sympathisch war.

Adams Mühle im "Grunde" war damals schon in den Besitz des Ritterguts übergegangen und hatte einen Pächter, der im Dorfe keine Rolle spielte. Der letzte Besitzer hatte den Erlös in einem kleinen Gasthof angelegt, den er mit seiner lieben Frau am "Plane" nun selbst bewirtschaftete. Ein Mühlrad hatte er mitgenommen, das im Wirtsgarten über dem vorbeirauschenden Bache traulich plätscherte. Der Pfarrer durfte in diesem kleinen Wirtsgarten sich manchmal zu den handwerklichen Honoratioren setzen, ja man würde es nicht verstanden haben, wenn er dies unterlassen hätte. Es lag etwas von Hermann und Dorothea - Stimmung noch über unserer Heimat.

Bleiben die Gasthöfe übrig. Der obere Gasthof, drüben dem Rittergutsgarten gegenüber an der Straße nach Borthen, war der Halteplatz für Dresdner Ausflugsfamilien, der Tanzsaal für unsere bessere Gesellschaft und auch der Ort für unsere kirchlichen Familienabende. - Am Ausgang des Dorfes nach der Bahn zu war der untere Gasthof. Er hatte eigentlich immer der "niedere" geheißen; aber mit kräftigen Worten machte uns Herr Klamt, der Besitzer, gelegentlich klar, daß dieser Titel sein Anwesen heruntersetze und er dagegen würde klagbar werden müssen. In Wirklichkeit war der soziale Unterschied zwischen beiden Gasthöfen aber deutlich. Der ebenso große Tanzsaal wurde da unten nur von der proletarischen Jugend benutzt, die damals freilich noch längst nicht so bedenkliche Sitten hatte wie wohl heute.

Noch zuletzt die Gemeindevorstände. Im Ehrenamte Herr Adam. Der war in seinem eigenen Gaststübchen oder Garten des Abends von den Honoratioren umgeben, zu denen auch ich mich denn zählte. Da war der Dr. Bamberg, der Baumeister Kirsten, der Postverwalter und andere würdige Leute, zwischen denen die Tagespolitik mit großer Energie und Weisheit verhandelt wurde.

Unter den führenden Männern unserres kleinen Dorfstaates ragten drei besonders hervor, die ich doch in Erinnerung behalten möchte. Der eine war der Baumeister Kirsten, in dessen modernem Hause, das in geistlosestem Maurerstil gebaut war, wir unsere ersten Monate zubringen mußten, bis die alte Pfarre eine genügende Erneuerung erlangt hatte. Ein selbstgemachter Mann, voll großen Selbstbewußtseins, bissig und verschlossen, aber doch von einer nicht zu verkennenden Herzensgüte, die sich freilich nur immer versteckte. An seiner Seite eine kleine Frau, die sich vor jedem harten Worte ihres Helden ängstigte.— Herr Malermeister Schädel, ein Lübecker von Geburt, feines blondes Germanengesicht, würdig und bedacht, zweifellos einer der weitblickendsten in unserem Kreise. Diese beiden waren Kirchvorsteher und der letztere mein eigentlicher Vertrauensmann.

Aber da war noch ein anderer Mann im Dorfe, - oben im "Sack" besaß der Dr. med. Theile ein winziges Wirtschaftshäuschen, das am Eingang eines großen, mit allerlei nützlichen und seltenen Pflanzen bebauten Gartens lag. Dr.Theile, ein kleiner, gebückter Mann von etwa 70 Jahren, erlebte in meiner Zeit das 50jährige Jubiläum seiner Verurteilung zum Tode. Er war 1849 Mitglied des sächsischen Landtages und ein Führer in der Revolution gewesen, war zum Tode verurteilt worden und hatte dann nach Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus 10 Jahre in Waldheim gesessen, bis er endlich ganz befreit wurde. Dies Schicksal hatte im Herzen und auf dem Antlitz des edlen Mannes tiefe Spuren hinterlassen. Er war ein wahrhaftes Kind von reinstem Herzen, nur von Idealen bewegt, über die er auch in den späteren Jahren seines Lebens noch immer grübelte, sodaß er von der praktischen Seite des Lebens und damit auch von der ärztlichen Praxis sich weit abgewendet hatte. - Was habe ich mit diesem Manne disputiert! Durch und durch philosophischer Rationalist, konnte er wohl als ein Deist und Moralist bezeichnet werden; ihm war mein Christus- und Kreuzesglaube eine rührende, kindliche Naivität. Er hat nicht immer, aber doch sehr oft auf der Empore meiner Kirche, mir gegenüber gesessen, mit häufigem Kopfschütteln meine Predigten begleitet und sich dann lange mit mir darüber ausgesprochen immer mit dem Resultat, daß er mich nicht verstehen konnte, aber mir die Hand schüttelte mit dem Zugeständnis: Sie meinen es so ernst wie ich, Gott wird einst entscheiden, wer von uns recht hat.

Ich habe diesen Mann zuletzt mit dem Worte begraben: "Selig sind, die reines Herzens sind", das war er durch und durch. Der kleine Mann mit seiner noch kleineren Frau, Pauline geb. Binnebösel, steht vor meinem Gedächtnis wie Philemon und Baucis, - liebe Menschen! An denen habe ich gelernt, daß es unrecht ist, mit seiner eigenen Meinung über die Meinung andrer sich zu Gericht zu setzen. "Wer wird auf des Herrn Berg gehen? - der unschuldige Hände hat und reines Herzens ist." Psalm 24,3 ff.

Was ist wohl eigentlich der Wert solcher Dörfer wie Lockwitz eines war? Unser Gott hat uns Menschen doch wohl einen doppelten Zweck gesetzt. Jeder Einzelne soll zu seinem Ebenbilde, zu einer vollen Persönlichkeit werden, und die Gesamtheit soll sich zu einem Volke entwickeln mit reicher und reiner Seele. Es will mir scheinen, als sei an die Landgemeinden neben den Großstädten ganz unentbehrliche Werkzeuge zur Erreichung dieser Zwecke. Sie sind ja gewillermaßen zufällig entstanden. Hier lag eine Mühle, dort ein Bauerngut, dort war eine Poststelle, und diese ersten Ansiedlungen wurden zur Grundlage von Dörfern und Städten. Aber was der Zufall gebildet hat, das ist nun ein Mittel zur Erreichung der göttlichen Zwecke, und jeder Bewohner sollte sich dessen innesein. Die menschliche Schwachheit bringt es nun in den Dörfern ebenso wie in den Städten zuwege, daß nur wenige die gottgewollten Ziele erkennen und noch wenigere sich ihnen mit bewußtem Willen unterwerfen. Oberflächlichkeit und Reizsamkeit in den Großstädten, Kleinlichkeit und Engigkeit auf dem Lande verderben vieles. Da sieht es sich nun ein nachdenklicher junger Pfarrer zur Aufgabe gestellt, daß er den göttlichen Willen in seinem Wirkungskreise zur Erkenntnis und zur Durchführung bringe. Er lebt, man darf wohl so sagen, in der Schnittlinie zwischen Himmelreich und Erdreich. Er muß den heiligen, göttlichen Willen mit dem Willen der Menschen verknüpfen, - und wie er dieses in jeder einzelnen Beziehung erreiche, das ist der tiefste Sinn seiner alltäglichen Arbeit.

Ich war also in des Wortes mannigfastigster und tiefster Bedeutung zum Seelsorger meiner Gemeinden von Lockwitz und Nickern bestellt. Die Predigt am Sonntag ist die wichtigste von allen Arbeiten, die der Pfarrer zu leisten hat. Und wohl dem Pastor, der das fühlt und keine Minute in der Woche ungenutzt läßt, um seine Predigt wohl vorzubereiten. Ich suchte die Aufgabe selbstverständlich hauptsächlich in der rechten Erfassung und Durchdringung des mir in der Perikopenordnung vorgelegten Textes. Seine Bedeutung für die Gegenwart und für jeden Einzelnen mußte erkannt und verständlich gemacht werden. Nun schien mir - wie schon gesagt - damals außerdem auch nötig, durch ästhetische Anziehungskraft den Eindruck zu vermehren. Ich feilte an jedem Satz und an jedem Wort und lernte sehr genau. Später ist mir dies Formale geläufig, aber auch weniger wichtig geworden. Ich halte es heute mit dem Goetheschen Satz: Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor. Aber vom jungen Anfänger will dieser Satz bitte recht cum grano salis verstanden sein.

Während meiner ganzen Lockwitzer Zeit, ja glücklicherweise auch in Dresden-Striesen, habe ich über meine Zuhörerschaft nicht klagen dürfen. In Lockwitz habe ich doch wohl kaum jemals unter 150 Zuhörern in der Kirche gesehen, meist waren's viel mehr, und an den Festtagen war die Kirche immer gänzlich gefüllt. Nicht nur der Kirchenpatron mit seinem Hause, zu dem auch nicht selten der königliche Kämmerer, General von Criegern, sich gesellte, der Schwager des Herrn Baron, sondern auch der ehrwürdige, weißbärtige Kommerzienrat Rüger mit Frau und Kindern und auch die Doktorsfamilie saßen mit großer Regelmäßigkeit unter meiner Kanzel. Neben dem vorderen Eingang saßen die Kirchvorsteher immer fast alle. Und daneben war unser Pfarrbetstübchen, in dem meine liebe Frau mit tiefgeneigtem Kopfe auf das gespannteste der Predigt folgte, sodaß ich danach oft auf jeden Satz einen Widerhall hörte.

Da hat einmal eine Klatschbase im Dorfe verbreitet: unsere Frau Pastorn schämt sich über ihren Mann, die wagt sich garnicht, in die Höhe zu gucken. Ich wußte immer, daß das einen ganz anderen und mich tief beglückenden Grund hatte. Eine solche Gemeinschaft am Allerheiligsten, wie sie mir schenkte, ist wohl auch in den Pfarrhäusern nicht allzuhäufig.

Bald habe ich auch regelmäßige Abendgottesdienste in der Schule zu Nickern eingerichtet und niemals die Predigt des Vormittags dort wiederholt. Ich wählte dort mehr die Form der Homilie, der Bibelstunde und brauchte auf die förmliche Ausarbeitung nicht so viel Zeit zu verwenden. Ich hatte denn auch die Freude, daß die besten Kirchgänger aus Nickern von ihrer alten Gewohnheit, in das Gotteshaus nach Lockwitz zu kommen, nichts abbrachen und dennoch auch abends sich auf die Schulbänke setzten.

Kindergottesdienste habe ich wohl 1 oder 2mal im Monat gehalten; Gruppen mit unterrichtenden Helfern konnten wir nicht bilden, es war eine kleine Kinderpredigt; aber nach und nach fand sich doch ein Stamm von jungen Mädchen, die wenigstens als Freundinnen und Ordnerinnen auftraten. Recht herzlich danke ich meinem Kantor, dem Oberlehrer Möbius, und auch den jüngeren Lehrern, daß sie die Schulkinder gern auf den Kindergottesdienst verwiesen und auch die Lieder der Kinderharfe zu großer Frische einübten.

Die Umwandlung der Politik hat es auch in Lockwitz nach und nach immer mehr erschwert, das Amt des Ortsschulinspektors und Schulvorstandsvorsitzenden, zu dem ich gewählt war, reibungslos durchzuführen; aber das persönliche Band zwischen Herrn Möbius und mir hat niemals gelitten. Auch mit den jüngeren Lehrern habe ich fast ausnahmslos ein freundliches Verhältnis gehabt. Der zweite Lehrer, Herr R., war ein nicht ganz einwandfreier Charakter, mit dem es manchmal eine amtliche Auseinandersetzung geben mußte. Ich blicke aber doch auch darauf mit der Befriedigung zurück, daß offene Herzlichkeit manch ein Hindernis niederlegen kann. Wir sind als Freunde geschieden.

Unsere Schulausflüge machten die Lockwitzer in der ganzen Gegend berühmt. Unsere Lieder konnte weit und breit kein Schulchor nachahmen, und das war das Verdienst von Herrn Möbius, in dem eine große musikalische Gabe mit wahrhafter Frömmigkeit sich mischte.

Die allgemeine Seelsorge muß ein Pfarrer auch durch Familienabende und durch Vereinstätigkeit erfüllen. Es trägt wohl doch zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühles nicht unwesentlich bei, wenn im Gasthofssaal bei Rauch und Bier der Pfarrer die verschiedensten Stände um sich sammelt und ihnen irgend einen Gegenstand der christlichen Kultur ans Herz legt. Ich kann freilich nicht leugnen daß ich in diesen Dingen immer eine gewisse Disharmonie gefühlt habe. — Von Vereinen gab es nur den Frauenverein, als ich hinkam. Er kam im Konfirmandenzimmer - unten im Pfarrhaus - wohl monatlich einmal zusammen. Da waren auf Böcken Bretter gelegt, und es wurde kräftig geschneidert für die Armenbescherung zu Weihnachten. Unsere liebe Frau Gemeindevorstand Adam führte ein humorvolles, freundliches und kräftiges Regiment. Da waren dann meine Aufgaben, zwischen dem Klappern der Scheren vorzulesen oder etwas zu erzählen.

Nicht lange nach unserem Einzug schenkte Herr von Kap-herr der Gemeinde eine Diakonisse, die in seinem Beigut eine stille, recht anheimelnde Wohnung bekam. Schwester Marie Kretzschmar, ein älteres Mädchen, ist ebenso wie ihre Nachfolgerin, die viel jüngere und anmutige Schwester Frieda Tänzler, ein großer Segen für unsere Gemeinde geworden. Die jungen Mädchen kamen bald sehr gern zum Jungfrauenverein, besonders bei der jüngeren Schwester Frieda fühlten sie sich ganz zuhause. So entschloß ich mich denn nun, meinerseits die Jünglinge um mich zu versammeln. In der Konfirmandenstube wurden die Bänke aufeinander getürmt oder in den Hof hinausgetragen, die primitiven Tische des Frauenvereins wurden uns geliehen, und meine Jungen sind in einer doch nicht ganz kleinen Zahl meine sonntäglichen Gäste gewesen. Damals war die Volksseele noch nicht so zerrissen wie heute. Das Problem, in welcher Weise christliche Jünglinge anzufassen sind, war noch nicht so schwer zu lösen. Ernste, wirklich fromme Gespräche und Ansprachen wechselten mit heiteren Spielen am Tisch oder im Garten ab, und ich glaube, die Jungen gingen nicht nur befriedigt, sondern auch ein wenig erhoben nach Hause.

Daß ein Pfarrer den ganzen Sonntag bis in die letzten Stunden der Familie entziehen und der Gemeinde opfern muß, wurde je mehr und mehr zu einer als selbstverständlich anerkannten Pflicht. Leicht ist es einem nicht immer gewesen.

Die sogenannte private Seelsorge halte ich bis zum heutigen Tage für das Herzstück der geistlichen Amtsarbeit. Ich habe auch in Lockwitz und in meinen späteren Ämtern mir möglichst viel Zeit und Kraft dazu abgerungen; aber ich darf nicht leugnen, daß das in ihr liegende Problem mich immer aufs neue ernstlich erschüttert. Es gibt keine psychologische Wissenschaft, keine praktische Theologie, welche einem unfehlbare Regeln dafür an die Hand geben könnte. Man tastet und tastet und geht sehr oft von Krankenbetten und stillen Beichtstuben weg mit dem schmerzhaften Gefühle, den Schlüssel zum anderen Herzen nicht gefunden zu haben.

Vielleicht spreche ich das am besten mit einem Gedicht aus, das ich aus dem Januar 1906 in meinem Buche verzeichnet finde:

Seelsorger?
O laßt mich allein! Ich vermag es nicht,
Was Ihr mit stummen Mienen

Mir alle ruft ins Angesicht,
Was aus jedem Eurer Blicke spricht:
"Unsern Seelen sollst Du dienen!"

O laßt mich allein! Denn Euer Herz,
Das wohnt hinter eisernen Banden,

Die sind für mich undurchdringliches Erz!

Das eben ist meinen Kräften der Schmerz,
Daß sie's suchten und niemals fanden!

O laßt mich allein! Ich hab's ja getan,
Ich wollte erforschen die Tiefen
Von Euren Seelen! Sie gähnten mich an

Wie Schlünde vor Bergen den schwindelnden Mann,
Darin ewige Rätsel schliefen.

Die Kraft ist zu schwach! O laßt mich allein,
Laßt andere Tiefen mich schürfen!
Es kann ja des Menschen Pflicht nicht sein,

In einen Abgrund zu tauchen hinein

Und Verzagen draus zu schlürfen!

O laßt mich allein! Und zu heiligen Höh'n
Will mit treuem Ringen ich steigen!
Und was ich in Sonne und schwarzem Föhn,

Ein innerlich Schau'nder anbetend gesehn,

Laßt das mich zum Segen Euch zeigen!

Walther Zenker 1864 - 1932
Walther Zenker 1864 - 1932

Solche Empfindungen begleiteten mich denn auch oft in die Kasualreden hinein. In den ersten Jahren bin ich stets nur zitternd an die Gräber getreten. Die Herzen an dem Punkte zu treffen, wo sie am tiefsten bewegt waren, und sie zu den Höhen emporzuheben, von welchen uns Hilfe kommt, das ist wahrhaftig keine kleine Aufgabe. Und eine Hochzeit oder eine Tauffeier wirklich zur gottesdienstlichen Feier einer Familie zu gestalten, ist schwer. Doch erinnere ich mich mancher schönen Stunde in Ernst und in der Freude, wo das dennoch gelungen schien. Und dann war es auch ein wirkliches Fest, bei solchen Familienfeiern die weiteren Stunden zuzubringen. Die Konfirmationen der Kap-herrschen Kinder nach den traulich innigen Konfirmandenstunden, die Taufen im Bambergschen Hause, die Hochzeiten in meiner lieben Familie Rüger - das waren solche erhobenen Tage, die einen gewissen Glanz noch lange ins tägliche Leben hineinstrahlen ließen.

Das tägliche Leben! Meine liebe Käthe war von Anfang an sehr zart. Aber in den ersten 5-6 Jahren unsrer Ehe reichten die Kräfte doch immer zu, um nicht nur das Haus zu verwalten, sondern auch mir die treueste Mitarbeit im Amte zu schenken. Wir haben alles gemeinsam durchlebt. Meine Predigtvorbereitungen ebenso wie die Gemeindeabende und die seelsorgerlichen Fragen lagen der Lebensgefährtin genau so auf dem Herzen wie mir. Und wie dankbar konnte ich nur immer sein, wenn sie mich schon an der Haustür fragend empfing, wo etwa einmal ein besonders schwerer seelsorgerlicher Gang mich geängstigt hatte.

Damals gab es noch viele ruhige Abende, wenn auch der Tag in der immerhin nicht kleinen Gemeinde voll Arbeit war. Da haben wir uns vorgelesen, Käthe hat an unserem Pianino gespielt, ich habe auch wohl mal ein Schubertsches oder Mendelsohnsches Lied gesungen; wir haben uns innerlich gemeinsam bereichert.

Ende 1893 meldete sich leise unser Junge an, der am 12. Mai 1894 das Licht der Welt erblickte. Unser Hans wurde naturgemäß der Mittelpunkt unseres häuslichen Lebens, und die Lebensgewohnheiten haben sich von seinem Geburtstage an sehr geändert. Zuerst bedurfte es langer Zeit, bis die Mutter wieder zu Kräften kam, und einen leisen Stoß hat sie damals wohl doch so empfangen, daß er nie ganz wieder überwunden wurde.

Der Junge kam in der 4. Morgenstunde auf die Welt. Ich hatte die Nacht in Unruhe auf meinem Sofa zugebracht und keinen Schlaf gefunden. So kam es denn, daß mich die Botschaft - die unser treues Mädchen, Ida Frey, mir brachte - in verzeihlicher Verwirrung antraf. "Herr Pastor, 's ist ein Junge da!", rief sie in die Stube hinein. Und meine Antwort: "Was will er denn?" Ich fühlte mich durch diese Störung zu so ungewohnter Stunde nur unangenehm in meiner Erwartung gestört, und es mußte mir erst deutlicher gesagt werden, daß es mein eigener Junge war. Da kam ich denn hinüber in unsere Schlafstube und sah den langen, dürren Hecht in seinem Korbe liegen, von unserer lieben Frau Knoch schon schön bekleidet. Aber nichts ist dem süßen Bild zu vergleichen, das die junge Mutter nach der Geburt ihres ersten Kindes dem Vater bot.

Hans hat den Segen einer unsäglich treuen, hingebenden und frommen Mutterliebe 4 Jahre lang aufs allerbeste erfahren. Als sein Gemüt aufwachte, und Mutters Geist den seinen zu befruchten beginnen konnte, sah man sehr bald den wundervollen Einfluß.

Meine Marianne - sie hat sich selbst aber vom ersten Lallen an nur Nanna genannt, und dieser Name ist ihr denn geblieben - hat es darin nicht so gut gehabt; denn nachdem sie am 27. September 1898 geboren war, hat für Käthe die Leidenszeit begonnen, die wohl allerdings gelegentlich zu neuer Hoffnung sich besserte, aber doch zu keinem guten Ende führte. Oder doch zu einem guten Ende??

Hier muß ich ein Bekenntnis machen, das mein tiefstes Herz bewegt, das ich naturgemäß aus den Erinnerungen anderer Menschen nicht habe bestätigen hören, dessen Inhalt aber doch das Höchste ist, was ich meinem Gott zu verdanken habe, und was ich als das Kleinod meines Lebens bis in meine letzte Stunde tragen werde. Käthe wußte sehr früh, daß ihr kein langes Leben bestimmt war. Der Tag — nicht lange nach Nannas Geburt, dessen Datum mir freilich nicht erinnerlich geblieben ist - an dem sie in unserer großen Stube, während Gäste bei uns waren, leise ans Fenster hinter die Blattpflanzen trat und ihr Taschentuch vor den Mund nahm, in dem ich dann die ersten Blutspuren fand, bleibt mir immer vor Augen. Es war ein Tag des tiefsten Opfers!

Dennoch habe ich noch oftmals meine Hoffnung wieder hochsteigen lassen und mich nur langsam in das klare Bewußtsein dessen eingelebt, was mein Gott von mir verlangte. Im April 1899 habe ich z.B. ja noch die schöne Reise nach England machen dürfen, die ich in einem besonderen Tagebuch beschrieb, zur Hochzeit meines Schwagers Walther Schumann mit Edith Barlow aus Little-Stanmore bei London. - Aber für Käthe war das noch übrige Leben von einem zum andern Tage nur immer ein bewußtes tieferes Hinabsteigen in die Krypta, in welche die Christen, die Gott am höchsten begnadigt, dem gekreuzigten Heiland nachfolgen - Matth.16,24: "Will mir Jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich, und folge mir", hat Käthe Wort für Wort und mit bewußtem Glaubenswillen 4 Jahre lang erfüllt.

Ich schaute am Schuppen vorbei von meinem Studierstubenfenster weit über unseren großen schönen Pfarrgarten hin, in dem die Obstbäume blühten - und fühle noch den tiefen Schnitt in mein Herz, wie ich dort im Grase meine Frau tiefgebeugt, ins Plaid gehüllt, sitzen sah - die Hände gefaltet und im deutlichen Ringen mit ihrem Gott. Dieses durch Jahre hindurch sich vollendende Sterben einer Christin, die ganz mein eigen war, ist auch für mich - wie ich schon sagte - ein unermeßlicher Segen geworden. Wir haben's zusammen erlebt und gewollt, was der 73.Psalm sagt: "Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet; so bist Du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil". Und unser gekreuzigter Herr ist uns beiden damals so nahe getreten, daß wir den lieben Strich Seiner Hand auf unserem Scheitel zu spüren glaubten, und in heißer Liebe - wenn auch in wehem Gehorsam - uns Ihm ganz übergaben.

Nur für wenige Tage ist Käthe bettlägerig geworden, aber nun ging es sehr eilend zu Ende. Die Erinnerung werde ich auch nie vergessen, wie ich ihr ihre Kinder brachte - und sie die Hände ihnen entgegenstreckte, dann aber flehte, sie ihr nur ja nicht zu nahe kommen zu lassen - und bald verlangte, daß sie in bessere Luft kämen. Als aber die Kinder das Zimmer verlassen hatten, hüllte sie sich in ihre Kissen und unterdrückte die Laute des Jammers, zu denen sie bei diesem Abschied gezwungen war. Auch ich durfte bei ihr nicht mehr meinen Schlaf suchen, sondern ruhte im Gastzimmer nebenan, und sie duldete nicht, daß auch nur die Türe geöffnet bliebe.

Die letzten Nächte habe ich mich nicht mehr zu Bett gelegt und horchte auf jeden Laut, der aus der Stube kam. Endlich war es soweit. Ich saß an ihrem Bettrand und horchte auf das Klopfen ihres Herzens und auf das stundenlange leise Entatmen der nun wohl zu keinem Gedanken mehr fähigen, still zu ihrem Gott gehenden Seele. Ach, es lag ein so seliger Ausdruck auf dem teuren Antlitz, sehr bald nachdem sie aufgeatmet hatte - und ich weiß, daß ihr Einsegnungsspruch sich an ihr erfüllt hat. Das reine Herz ist selig und schaut seinen Gott!

Am 11. Juni wurde mein Liebling von den treuen Männern unserer Begräbnisgesellschaft vor mir her in die Kirche getragen, und die gaze Gemeinde drängte herein, um an dieser Abschiedsstunde teilzunehmen. Sie wußte, was sie an ihrer Pfarrfrau gehabt hatte, die wirklich auch in den Leidensjahren für sie ein Segen gewesen ist. Freund Reinwarth aus Leuben hielt über das von Käthe selbst gewählte Jeremiaswort (29, 11): "Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, deß ihr wartet" eine herzenswarme Rede, die mir sehr wohlgetan hat. Und dann trugen wir sie von der lieben Stelle, an der sie so oft mit mir gebetet, hinaus auf den Gottesacker am Berge, wo ihr liebes Grab unter dem weißen Marmorkreuze hinausgrüßt über die Felder und Berge unserer Heimat, - und ich zog heim ins leergewordene Haus.

Wie mir zumute war und lange blieb, das mag das folgende Gedicht bezeugen, das ich im Februar 1903 geschrieben habe.

Ich träumte heut', ich hätte Dich verloren,
Du lägest bleich vor mir und stumm und starr,
Der einst mein Herz mit Jauchzen Treu geschworen,
Die, ach, mein ganzes Glück und Leben war!

In deren Augen mir die Heimat blaute,
Die meinen Kindern Gottes Segen bot,
Der ich mein Innerstes so ganz vertraute -
Du lagst in Linnen still - und wärest tot!

Ich suchte Dich mit irgend einem Wehe, -
Du hattest keine liebe Antwort mehr!
Ich sehnte mich nach Deiner süßen Nähe, -
Ein kalter Hauch nur wehte von Dir her!

O wacht' ich auf! O wollt' der Tag nicht säumen!
Was für ein Alb in nächt'ger Dunkelheit! -
Und ich bin wach! O Gott, mein schweres Träumen
Ist mit erwacht! Es war die Wirklichkeit!

Jetzt erst war die schwerste Zeit und die ernsteste Prüfung meines Lebens angebrochen. Ich habe es mir sagen müssen, daß Gott mit mir so handeln mußte, wie Er es getan hat. Die Frau, die so demütig sich mir unterordnete, stand doch in Wirklichkeit sehr hoch über mir, und ich war es, der unbewußt und unwillkürlich sich anlehnte. Sollte ich, was doch Gottes Absicht mit uns ist, eine wahrhaft freie und selbständige Persönlichkeit werden, so mußte mir die starke Kraft genommen werden, die ich nicht aus den Inneren, sondern von außen her erhalten hatte. Jetzt galt es nun, allein vorwärts zu dringen und fertig zu werden. Und seit jenen Tagen ist dies die Aufgabe geworden, nach deren Erfüllung ich ringe bis zum heutigen Tag.

Wir sind ja nach Luthers wahrem Wort "niemals im Gewordensein, sondern stets nur im Werden". Wer dies liest, der mag es wissen - ich will es nicht verbergen - daß ich damals Versuchungen kennen gelernt habe - so ernst und furchtbar, wie ich sie bis dahin nicht geahnt hatte.

Im Glück ist es leicht, Gott anzugehören. Damals kam die Versuchung, die Fäuste gegen ihn zu ballen und bitter zu werden. Mit frohem Herzen arbeitet man gern. Damals habe ich sehr ernstlich darum kämpfen müssen, daß ich, ohne den augenblicklichen Lohn zu suchen, doch im Berufe treu und fleißig bliebe.

Aber das Ernsteste kann nur angedeutet sein. Wem ein hohes Gut - ja das beste seines Lebens - genommen wird, der kommt in Gefahr, sich mit dem Surrogat zu trösten, und an die Stelle des wahren Lebensgutes das unreine, ungeistige, schlechte und sinnliche zu setzen. Vor diesem Wort: Ersatzmittel oder Surrogat erschauert mein Herz in der Tiefe. Ich habe darin die schwerste Erschütterung meines inneren Menschen erlebt und schäme mich der Augenblicke, wo ich dieser Erschütterung nachgegeben habe.

Über diese Erinnerungen würde ich nicht hinwegkommen, wenn ich nicht als den Kern und Stern des Christentums die Wahrheit erkannt hätte: "Ich glaube an eine Vergebung der Sünden!" Wenn ich doch manchmal in die bezeichneten Versuchungen geraten war, dann habe ich mich zunächst einfach zu dem Vertrauen emporgerungen, daß die zentrale Botschaft des Neuen Testaments auch für mich da ist. Und - Gott sei Dank! - im Laufe der Jahre habe ich's erfahren, daß es nicht nur eine Vergebung, sondern auch eine Erlösung von der Sünde gibt durch Jesum Christum, meinen Herrn. O, daß ich diese innerste Wirklichkeit alles Menschenlebens allen denen vererben könnte, die ich lieb habe!

Zwei Jahre lang wohl ist mein Leben entsetzlich tot und leer gewesen. Und auch meine beiden lieben Kinder erinnerten mich wohl an den geliebten Schatz und brachten mir manchen Sonnenstrahl in mein Dunkel, aber im Grunde bestärkten sie ja doch nur das bittere Gefühl des Vermissens. Es ist mir nicht leicht geworden, an die Stelle des Gattenglücks das Vaterglück zu setzen.

Nach und nach beruhigte sich aber die Seele, und es wachte neue Sehnsucht nach wahrem Leben auf. Ich weiß jetzt, daß solange wir leben Gott nicht will, daß dies Leben im Nachtrauern um verlorenes Glück bestehe. "Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größeste unter ihnen".

Während Käthes Krankheitsjahren hätte sie unser verehrter Freund, der kgl. Leibarzt, Geheimrat Dr. Fiedler, der sich in rührender Väterlichkeit um sie sorgte, auf einige Monate nach Görbersdorf in Schlesien geschickt, wo auch ich denn in Dr. Weickerts Marienheim einmal 3 Wochen bei ihr zu Gaste war. Während dieser mehrmonatlichen Abwesenheit und noch lange danach hatte eine Kusine, Grete Schröder, meinen Haushalt geführt und die Kinder behütet. Die durfte ich mir denn jetzt auch wieder rufen. Und sie hat 4 Jahre lang mir in großer Treue beigestanden, ich will ihr das immer herzlich danken.

Ein wesentliches Stück der Beruhigung gab aber die überaus wertvolle Freundschaft der Familie Rüger. Unser verehrter väterlicher Freund, der Kommerzienrat Otto Rüger, hatte meine Käthe halb im Scherz halb aber auch in wirklicher Ehrerbietung stets nur die "regierende Frau Pastor" genannt. Wir haben gemeinsam hinten im "Grunde" köstliche Stunden eines ebenso liebe- wie geistvollen Verkehrs gefunden. Frau Kommerzienrat, Amalie geb. Uhlig, war der Inbegriff einer guten und hochgebildeten Mütterlichkeit. Und in den ersten Jahren saßen um den großen Tisch her die Söhne Konrad, Max, Georg und Alexander, zum Teil schon mit ihren Bräuten, die ich dann bald zu Rügerfrauen trauen durfte. Auch eine Tochter war noch im Hause, Elisabeth (später Frau Geh.Rat Meusel);die ältere Frida war schon an Leutnant Aster verheiratet, eine außergewöhnlich schöne Frau.

Was habe ich an ihren lieben jungen Häusern für Freundschaft gewonnen! Max mit seiner Anna in der Villa im "Grunde", Konrad, der mit seiner Johanna nach Bodenbach zog, die haben mir alle gleich nahe gestanden und tun es noch, wenn auch die Begegnungen ja leider recht selten geworden sind. Damals hat die ganze Familie aufs rührendste für mich gesorgt und über meinen Kummer mich hinweggetragen, auch meinen Kindern viel mütterliche Fürsorge ersetzt.

Eine wertvolle Stärkung meines Lebens und - ja ich möchte sagen Wiederbelebung - verdanke ich auch meinem Kollegen Georg Liebster. Der war als Diakonus der Dresdner Kreuzkirche in Gruna bei Dresden stationiert, und wir kamen uns in unseren damaligen Interessen außerordentlich nahe. Georg Liebster hat später eine nicht unbedeutende Führerstellung in der evangelisch-sozialen Arbeit eingenommen; für diese suchten wir uns damals, indem wir alle 14 Tage zu gemeinsamem Lesen und Besprechen in unseren Häusern zusammenkamen, vorzubereiten. Ich habe später von dieser Specialität mich etwas abgewendet, weil ich die eigentliche Aufgabe des evangelischen Pastors weniger in der sozialen Fürsorge als in der Glaubenspredigt des Evangeliums zu erkennen meinte, aber die gegenseitige Liebe und Achtung ist uns geblieben. Ich habe Georg Liebster immer als einen mir ganz besonders nahen Menschen geliebt und diese tapfere, soviel angefeindete, reine Seele sehr hoch eingeschätzt. Hier in Leipzig bin ich schließlich ja sein Superintendent geworden. Ich schätze es mir jetzt noch zur Ehre, mit ihm gearbeitet zu haben, und zum Glück, daß ich den wundervollen Heimgang dieses wahrhaften Gotteskindes so unmittelbar habe miterleben dürfen. Liebster konnte im Kampfe unerbittlich sein; aber niemals hat er die reine Linie einer unzerstörbaren Nächstenliebe und auch des ehrfürchtigsten Christusglaubens verletzt. - Ein andres Freundeshaus stand mir in Leuben bei Pastor Reinwarths offen, wo ich für viel Herzlichkeit zu danken habe.

Ich hatte wohl im Anfang des Amtslebens meinen Plan darauf gerichtet, daß ich etwa nach 5 oder 6 Jahren mich weiterbewerben wollte. Ich halte es im wesentlichen auch heute noch für richtig, daß man auf einer Stelle nicht einrosten soll. Gottes Fügung band aber meinen Eigenwillen. Nach Käthes Erkrankung durfte ich selbstverständlich nicht an eine neue Bewerbung denken, um einer fremden Gemeinde die darin gelegene Last nicht aufzuerlegen. Und als gegen Ende meines 11. Amtsjahres in Lockwitz der große Schmerz nun eingetreten war, habe ich die Schwungkraft noch lange nicht wiedergefunden. Es band mich ja nun auch an Lockwitz das teure Grab.

So kam es, daß ich noch von Lockwitz aus im lieben Kühnschen Hause ein Mädchen kennen lernte, die bestimmt war, mir die Schwungkraft meiner Seele wiederzubringen und mich zur frischen Inangriffnahme eines neuen Lebens zu bestimmen. Es war eigentümlich, - in einer großen Gesellschaft war mir mit natürlich unausgesprochener aber deutlicher Absicht eine Tischdame gegeben worden, deren Name schon damals aber mehr noch jetzt in der kirchlichen Welt einen sehr guten Klang hat. — Zu meiner Linken saß aber Fräulein Elisabeth Ackermann, die Tochter des damaligen Oberhofpredigers. Ich weiß nicht, wie es kam, aber die hat es mir angetan! Ich bin hoffentlich nicht unhöflich gegen meine rechte Nachbarin gewesen; aber sehr viel mehr habe ich mich damals um die linke gekümmert. Und nach einigen Tagen trieb es mich zu meiner Tante Mathilde Kühn mit der Bitte, mir wiederholte Zusammenkünfte zu ermöglichen. Großes Erstaunen bei dieser lieben Tante, sie hatte sich etwas ganz anderes gedacht. Aber in mir war es deutlich bestimmt, was ich wollte, und ich habe nicht locker gelassen. Ich sah Elisabeth ein paar Mal im Kühnschen Hause, sah ihre strahlende Heiterkeit, die doch einer großen Güte und Innerlichkeit nicht entbehrte, und war entschlossen, um ihre Hand zu werben. Daß zwischen uns der Altersunterschied so groß war, habe ich nicht angenommen, ich hielt Elisabeth für wesentlich älter als sie tatsächlich war, - oder mich für jünger?

Kühns hatten mir unterdes auch den Verkehr im Ackermannschen Hause selbst vermittelt. Kein leichtes Stück, denn der Oberhofprediger lebte in seiner Witwerschaft sehr ungesellig und war überhaupt ein sehr zurückhaltender Mann. Genug, ich saß ein paar mal dort am Tische, - und nun habe ich wieder einmal im meinem Leben die wunderbarste Gottesfügung erfahren. Ich war ja garnicht sicher, ob Elisabeth mich lieben könnte, und wollte keinesfalls sie überraschen. Deshalb gab ich in einem sehr langen Briefe ihr Rechenschaft über alle meinen äußeren und inneren Verhältnisse und bat sie am Schlusse, sich ruhig und langsam inne zu werdn, ob sie meiner Werbung folgen könne.

Elisabeth geb. Ackermann und Walther Zenker.
Drei Tage darauf ging ich hin, der Vater war nicht zu Hause, aber Elisabeth empfing mich mit einer solchen Herzlichkeit, daß ich darindie Bejahung meines Wunsches zu erkennen glaubte. Mein Benehmen führte zur Verlobung. Als wir zusammen saßen, kommt Vater Ackermann herein und macht mir Vorwürfe, daß ich seine Tochter überwältigt habe. Ich weise auf mein gutes Gewissen hin, das ja aus dem Briefe erkennbar sei, den ich Elisabeth geschrieben habe. Bei Beiden ein großes Erstaunen und Erschrecken. Meine Braut wußte nichts von dem Briefe, und Vater Ackermann hatte vergessen, ihn ihr zu geben, als sie von einer kurzen Reise zurückgekehrt war. Gott hat uns zusammengefügt, ohne daß die von mir gewünschte Prüfung hätte erfolgen können! Wahrhaftig, ich glaube fest an diese Fügung meines Gottes.

Das war am 20.April 1906, am 74. Geburtstage meiner Mutter, und wir brachten ihr die Botschaft am Abend noch als ein liebes Geschenk. Sie hat auch diese meine zweite Frau mit freudiger Liebe an ihr reiches Mutterherz gekrückt. Am 29. September haben wir Hochzeit gehalten.

Grete Schröder schloß ihre Tätigkeit in meinem Hause damit ab, daß sie während unserer 14tägigen Hochzeitsreise unsere Kinder noch betreute. Ich bewahre der guten ernsten Seele ein dankbares Andenken.

Vater Ackermann traute uns in seiner Hofkirche mit einer Rede über Micha 7, 7: "Ich will auf den Herrn schauen und des Gottes meines Heils warten; mein Gott wird mich hören." Und in Elisabeths leider mutterlosem Elternhause wurde im Kreise ihrer und meiner nächsten Verwandten das Hochzeitsmahl gehalten, Liebigstraße 9.

In der Nacht aber reisten wir nach Italien. Köstliche Tage in Lugano! Die rocca di Gandria und der kleine, weit über den See hinaus sich senkende Ölbaum davor können etwas erzählen von dem heiteren Glück, das meine junge Frau mir dort bereitete. Mailand mit seinem wunderbaren Dom und mit der Brera, Venedig, der Lido, die Academia haben uns erfreut. Wundervoll waren die Tage am Comersee und auf dem Brenner.

Das war ein verheißungsvoller Anfang meines neuen Lebens. Die Lockwitzer Freunde haben uns mit großer Liebe empfangen, Blumen prangten überall. Leider zu spät waren unsere Kirchvorsteher und vor allem ihr Führer, Max Rüger, sich bewußt geworden, daß mein altes Pfarrhaus an der Erkrankung meiner Käthe wohl einen großen Teil der Schuld trüge. Im Jahre 1904 haben sie mir deshalb das schöne neue Pfarrhaus gebaut, in das ich nun meine Elisabeth hineinführen durfte.

Hier laß mich Dir danken, Du liebe Frau, für das große Opfer, das Du mir willig gebracht hast, als die Fülle Deiner neuen großen Lebensaufgaben Dir zum Bewußtsein kam. In einem freien und frohen Jugendleben groß geworden, mußtest Du nun in wesentlich engeren Verhältnissen Dich einrichten und Pflichten erfüllen, über deren Größe und Schwere ich mir selbst damals erst wirklich Rechenschaft gab. Das große Haus mußte von unten bis oben in Ordnung gehalten, der Garten versorgt werden, die vielen ins Haus kommenden Gemeindeglieder, Händler und Bettler waren zu befriedigen und - nicht zuletzt - zwei Kinder, von denen der 12jährige Hans Dir eine nicht ganz leichte Eigenart entgegentrug, und das 8jährige Mädchen eben an der Schwelle ihrer jungen Wildheit stand. Die beiden Kinder mußtest Du als Deine eigenen ans Herz nehmen, zu verstehen und zu erziehen suchen. Ich weiß, wie Dein gewissenhaftes Gemüt sich nicht vor der Schwere aber vor der Größe neuer Aufgaben ängstigt, und sehe den großen Ernst des lebens, den Du als meine treue Frau damals auf Dich genommen. Ich danke Dir!

Es war für meine Frau auch nicht leicht, sich in alle die eigenartigen dörflichen Verhältnisse einzuleben, die doch ganz anders sind als die städtischen, und sie als die Nachfolgerin einer beliebten Pfarrfrau wurde nicht selten in etwas unangenehmer Weise unter die Lupe genommen. Aber diese Zustände haben glücklicherweise nicht allzulange gedauert. Im Frühjahr 1908 war der 1. Pfarrer der großen Kirchgemeinde Dresden-Striesen, Boess, gestorben, und ich sollte sein Nachfolger werden.

Diese überraschende Tatsache kam so zustande: 1897 war Arthur Neuberg von Döbeln aus als Diakonus an die Erlöserkirche in Dresden-Striesen gekommen und von da aus Mitglied unserer Laubegaster Pastorenkonferenz geworden. Zwischen ihm und mir hat sich bald ein besonderes Band innerster geistiger Gemeinschaft gebildet. Seine lebendige Gelehrsamkeit, die Wahl seiner Vortragsthemen, die Methode seiner Arbeit in Wissenschaft und Amt und dabei eine große Bescheidenheit und Selbstkritik, auch sein literarisches Wissen schlugen so viele verwandte Saiten in mir an, daß ich mich magnetisch zu ihm hingezogen fühlte. Wir wurden Freunde, er kam bald in unser Haus und ist sowohl meiner ersten wie meiner zweiten Frau ein lieber, treuer Freund geworden. In den ersten Jahren unserer Freundschaft beschäftigte uns ganz besonders eine gemeinsame Liebe zu dem Maler Steinhausen, den wir auch einmal auf einer gemeinsamen Reise in seiner Heimat, Frankfurt a. M., aufgesucht haben, doch leider ohne ihn anzutreffen. Wir beide bewahren aber Briefe Steinhausens, die zu den besten unserer Schätze gehören.

Ein Steinhausensches Bild "Christi Seepredigt" ist eine der letzten Erhebungen meiner Käthe geworden. Als ich ihr einen Holzschnitt von diesem Bild auf ihr Sterbebett legte, sah sie es lange an und sagte dankbar und zuversichtlich "der bringt uns noch alle wieder zusammen in Sein Schiff" und gab mir dann tröstend die Hand.

Einer Anregung Neubergs verdanke ich wohl auch eine wesentliche Kraft meines mit dem Jahre 1904 wiedereinsetzenden Lebensaufschwungs. Er hat mich gegen manchen inneren Widerstand dazu gebracht, daß wir im April und Mai 1904 eine Reise nach Rom unternahmen. Über diese Reise habe ich ein eingehendes Tagebuch geschrieben. Hier soll nur ganz im allgemeinen erinnert werden, wie Florenz mit seinem wunderbar erhaltenen und eindringlichen Bilde der Renaissancezeit, wie Rom mit seinen Altertümern und mit seinem Vatikan und seiner Peterskirche, wie endlich auf der Heimreise die Herrlichkeit des Gardasees im Blütenschmucke das Herz aufjubeln machten, das so lange in dunklen Banden gelegen hatte.

Nun war es Neuberg, der in einer mir heute noch wunderbaren Weise mich nach

Dresden-Striesen

gebracht hat. Er hatte im dortigen Kirchenvorstand so von mir geredet, daß diese Männer mich in meiner Kirche und in Versammlungen, in denen ich Vorträge hielt, aufsuchten. Sie haben daraufhin den Stadtrat als Patron nach Boess' Tode um mich gebeten. Ich mußte auf die Aufforderung eines Stadtrats hin pro forma eine Bewerbung einsenden; es stand aber von vornherein fest, daß man mich berufen wollte. Und diese mich beglückende Ehre wurde mir denn auch zu teil.

Im Herbst 1908 packten wir in Lockwitz unsere Sachen, verließen das liebe neue Haus mit seinem schönen Garten ringsumher, mit den alten Linden an der Gartenspitze und mit den seltenen, alten Quittenbüschen, mit deren Früchten wir unsere große Verwandtschaft oftmals hatten beglücken können, und zogen - Paul Gerhardtstraße 21 - in das Striesener Pfarrhaus ein, während Neuberg gegenüber, Nr. 19, das Pfarrhaus der böhmischen Exulantenfamilie bewohnte; dieser gehörte die damals noch einzige Kirche der riesigen Gemeinde.

Paul Gerhardtstraße 21 in Striesen. (Herzlichen Dank an Herrn Gerd Hiltscher!)

Die Versöhnungskirche überlebte den 2. Weltkrieg.
Mit Dank an Herrn Gerd Hiltscher

Welch eine neue Welt umfing uns! Die Gemeinde Dresden-Striesen war 45 000 Seelen groß. Wir waren 5 Pastoren, auf deren jeden denn eine Zahl von 9 000 Menschen kam, und der 3. Pfarrer, Neuberg, hatte noch außerdem die allerdings zahlenmäßig kleine, aber über die ganze Stadt verstreute Gemeinde der böhmischen Exulanten zu pastorieren. Für mich war die Verwaltungsarbeit der Riesengemeinde eine sehr große Belastung, umsomehr als es zu meinen Hauptaufgaben gehörte, die im Bau befindliche, als eigentliche Gemeindekirche bestimmte Versöhnungskirche draußen in der Osthälfte zu ihrer Vollendung zu führen. Eine große aber wunderschöne Aufgabe war das für mich. Die Kirche stand im Rohbau fertig. Die fortwährenden Beratungen mit den Baumeistern Rumpel und Krutzsch, zwei wahrhaft künstlerisch befähigten Architekten, und vor allem die mit dem Bildhauer Wrba, der uns das köstliche Standbild des "guten Hirten" gemacht hat, sind mir in glücklichster Erinnerung. Am 20. Juni 1909 haben wir sie eingeweiht. Der Stadtsuperintendent, D. Dibelius, kam heraus und sprach Worte, wie nur er - dieser gottbegnadete Redner - sie sprechen konnte.

D. Dibelius!, welche eigentümliche Erinnerungen verknüpfen mich mit dem! Er hat mich von meiner Studentenzeit an gekannt. Durch die Familie Kühn auch mit uns gut bekannt geworden, war er wohl in der Lage, sich auch über mich ein Urteil zu bilden. Ich darf wohl sagen: seine rasche und oft heftige Bestimmtheit verschloß ihm auch wieder häufig die Möglichkeit zu einem objektiven Urteil. Und so denke ich jetzt, die offensichtlich nicht sehr hohe Einschätzung, die er mir lange zeigte, lag in dieser seiner Eigentümlichkeit und in der ganz anderen Gemütsrichtung begründet, die ich hatte. Dibelius hat mir nach meiner Berufung - denn so und nicht als eine Wahl darf ich mein Hinüberkommen nach Striesen bezeichnen - ganz offen gesagt, daß er mich nicht gerufen haben würde. Aber beim Mittagessen am Einweisungstage in seinem Hause, als er meine Antrittspredigt gehört hatte, klang das Urteil schon wesentlich anders. Wir haben uns in unseren Tischreden tatsächlich noch ein wenig angegrobst - und sind dann im Laufe der nächsten 7 Jahre je mehr und mehr wirklich zu Freunden geworden. Er hat mich ja zuletzt als Oberhofprediger sich selber nach auf die Hofkanzel und in das Konsistorium gezogen.

Nicht unmittelbar nach der Einweihung, aber doch bald, mußte nun auch die Trennung der großen Gemeinde Dresden-Striesen vollzogen werden, und das halbe Jahr danach war von unendlichen Verhandlungen zu diesem Zwecke ausgefüllt. Damals gab es für mich wahrhaftig nichts zu lachen. Vom Kirchenpatron, dem Stadtrat, zum Konsistorium, von dort in die Finanzbehörden und auf die Standesämter - es war eine unendliche Lauferei und Umwälzung der Gedanken.

Für mich persönlich gab es eine schwere Entscheidung des Herzens. Ich hatte ja natürlich das Vorrecht der Wahl, welcher von beiden neu entstehenden Gemeinden ich als Pfarrer vorstehen wollte, - der alten, guten, eingerichteten Gemeinde um die Exulantenkirche her, der Erlöserkirche, oder der ganz neu einzurichtenden Versöhnungsgemeinde. Der Versöhnungsgemeinde war die größere Seelenzahl zugefallen, etwa 23 000 Seelen. Ich habe diese gewählt hauptsächlich, weil dadurch meinem lieben Freunde Neuberg das Pfarramt der Erlöserkirche geöffnet wurde, zum Teil aber auch, weil mich die Neueinrichtung lockte. Es gab da doch etwas zu schaffen! Mit mir hinausgezogen ist der älteste Kollege, Dr. Martin, den es selbstverständlich an der Erlöserkirche nicht litt, weil naturgemäß Neuberg als Exulantenpfarrer auch Gemeindepfarrer werden mußte. Bei Neuberg verblieb Freiesleben, der jetzt dort erster Pfarrer ist, und v. Brück. Wir wählten uns draußen einen dritten, Pastor Krüger und später Behrend.

Und unsere Versöhnungsgemeinde ist herrlich aufgeblüht! Freudig begeisterte Kirchvorsteher - als Führer der damalige Landgerichtsdirektor und jetzige Ministerialdirektor im Justizministerium Nitsche - halfen an allen Seiten. Frauenverein und Jugendvereine wachten auf. Einen idealen Kantor und Organisten haben wir in Alfred Stier gefunden, den Mann, der jetzt auch in den Umwälzungen der liturgischen und kirchenmusikalischen Fragen an führender Stelle steht, und mit seiner kraftvollen, feinen, blonden Frau uns zu einem rechten Hausfreunde geworden ist. (Wie denk ich so gern der halben Stunden, die mitten in der großen Arbeit ich im Ofeneckchen bei Stier sitzen durfte, um seinem wundervollen Klavierspiel zuzuhören.) Die Gemeinde aber ging mit, wie irgend eine Gemeinde nur mitgehen kann.

Amtlich gesprochen sind die 7 Jahre in Striesen meine besten Jahre gewesen. Die Kirche war allsonntäglich ganz oder wenigstens fast ganz gefüllt. Auf den ersten drei Bänken saßen oft bis zu 30 Emeriti, deren Altersheimat das östliche Striesen geworden war, und die durch ihr regelmäßiges Wiederkommen doch zeigten, daß ihre selbstverständlich scharfe Kritik nicht nur negative Erfolge hatte. Damals gab es oft nicht mehr die Zeit, um die Predigten, so wie ich es in Lockwitz gewohnt war, bis aufs letzte Wort zu feilen. Ich bin aber auch aus innerstem Triebe und aus kontrollierter Überzeugung zu der Ansicht gekommen, daß ein Prediger, der nach langer Übung das Wort in der Gewalt hat, die augenblickliche, freie Formung der Rede nicht mehr zu fürchten braucht. - Die Gedanken müssen natürlich aufs gründlichste durchdacht sein. - Mir wenigstens wäre es heute ganz unmöglich, mich wieder in das schwere und enge Geschirr der vorher fest geformten Rede zu binden. Und wenn meine Reden gelegentlich den gewollten Eindruck verfehlt haben, so - glaube ich - liegt das mehr daran, daß ich wie ein Seiltänzer die vorbestimmte Bahn suchte und deshalb mit dem Herzen abirrte, als daß ich etwa ein nicht ganz zutreffendes Wort in der freien Rede gebraucht hätte.

Bald nachdem ich in der Versöhnungskirche angetreten war, besuchte auch unser Vater Ackermann mich einmal in der Kirche. Ich hatte über die eben bezeichnete Frage manchmal mit ihm gesprochen und seine Zustimmung für meine Ideen nicht voll erreicht. Nachdem er mich damals gehört hatte, kam er aber in die Sakristei und sagte, indem er mir herzlich die Hand drückte: "Wenn Du immer so predigst, dann habe ich nichts mehr einzuwenden". Das war mir aus dem Munde dieses strengen Richters ein überaus wertvolles Urteil.

Neben all der äußeren Einrichtungsarbeit galt es natürlich in Striesen, die großen Prinzipien der Großstadtarbeit immer wieder durchzudenken. Ohne klare Richtung darf ein leitender Großstadtpfarrer jedenfalls nicht arbeiten. Zu den allgemeinen Fragen, welche mit der Kirchenleitung überall verbunden sind, gesellen sich in der Großstadt zwei besondere. Die erste lautet: Wie durchdringe ich mit den geringen mir zur Verfügung stehenden Kräften die riesigen Massen, die hier Seelsorge fordern? Es war eine fast selbstverständliche Folgerung aus dieser Frage, daß mein Herz sich geradezu jubelnd der neuen Idee geöffnet hat, welche der damals einsetzende evgl.Gemeindetag verkündigte, - der Idee der Helferverbände! Ich darf mich nicht rühmen, diesen Gedanken zuerst gefasst zu haben; aber daß ich als einer der ersten ihn in die Praxis eingeführt habe, das darf ich wohl in aller Bescheidenheit behaupten.

Im Jahre 1912 sammelten sich in der Versöhnungsgemeinde eine Anzahl lebendiger Gemeindeglieder, die monatlich im Sitzungszimmer des Gemeindehauses bei der Kirche zusammenkamen, um über die praktischen Aufgaben zu beraten und diese, zu verteilen, welche die Versorgung aller einzelnen Straßen und Häuser uns stellte. 1 Pfarrer kann 8 000 Seelen unmöglich allein bedienen. Hier standen ihm nun Hände und Herzen zur Verfügung, die bereit waren, zu allen kirchlichen Unternehmungen einzuladen, sich um die Armen zu kümmern, wichtige Fragen in engeren Kreisen im kirchlichen Sinne zu besprechen, Flugblätter auszuteilen und Sammlungen zu organisieren. Die Helferarbeit ist zweifellos unter allen Organisationen der kirchlichen Gegenwart die allerwertvollste. Der Pfarrer, der überwältigenden Aufgaben gegenübersteht, fühlt sich von starken Armen getragen und seine Freudigkeit mächtig belebt. Und die Gemeinde tritt nicht nur in den Gottesdiensten am Sonntag und in den Vereinen mit ihren besonderen Zwecken, sondern auch in einer Anzahl von Christen in Erscheinung, deren Glaube in der Liebe tätig ist. Die unsichtbare Kirche wird zur sichtbaren Wirklichkeit. Auch in dieser Sache ging ich mit meinem Freunde Neuberg, der gleiches in seiner Erlösergemeinde organisierte, fröhlich Hand in Hand.

Die andere Frage allgemein kirchlicher Art ist die unerschöpfliche und ich möchte fast sagen unlösbare: Wie behauptet sich die Kirche als Kulturmacht gegenüber all den Kulturerscheinungen und Kräften, die sonst in einer Großstadt die Geister beherrschen? Das war in der Tat eine neue Frage, die sich mit großem Gewicht auf meine Seele legte. Auf dem Lande war und ist auch heute noch die Kirche fast die einzige geistige Macht, gleichviel ob sie anerkannt oder abgelehnt wird. In der Stadt drängen sich die starken Mächte von Kunst und Wissenschaft, von Industrie und Handel und von Verkehr und organisiertem Vergnügen und vom Sport so wirksam an die Seelen heran, daß sie deren Fassungskraft nur allzusehr in Anspruch nehmen und die unmoderne Macht der kirchlichen Gedanken verdrängen.

Ich habe mir Geduld und Energie von Gott erbeten. Ich habe mir gesagt, daß die Hauptaufgabe dieser Frage gegenüber eine vertiefte Predigtleistung ist. Das ewige, gottesmächtige Evangelium muß denen, die es noch immer hören wollen, so ans Herz getragen werden, daß auch alle ihre zeitlichen, irdischen und augenblicklichen Interessen sich damit getroffen und durchdrungen fühlen. Der Prediger muß ein durchgebildeter Mann sein, muß die größte Weitherzigkeit mit einem engen Gewissen und lebendigen Christusglauben vereinigen. Er muß alles verstehen, ohne doch alles zu entschuldigen, aber so, daß er alles unter die vergebende und neubelebende Gnade stellt. Mit dieser Botschaft der Kirche möglichst viele Menschen und insbesondere diejenigen, welche sich der Kirche längst entfremdet haben, zu erreichen, ist eben die Aufgabe, welche im wesentlichen durch die Helfer erfüllt wird. Die kirchlichen Vereine - die ich mir in den beiden Jugend-Vereinen und in einem Männer- und einem Frauenverbande konzentriert denke, - sind außerdem noch berufen, die nötigen Brücken zu bauen.

Gott sei gedankt: an wirklich erfreulichen Fruchten unserer Arbeit hat es nicht gefehlt. Nein, vielmehr hat Gott uns über Bitten und Verstehen und über alles Verdienst und Würdigkeit gesegnet! Es hat sich wirklich eine lebendige und wenigstens eine ringende Gemeinde gefunden. Wir machten die schöne Erfahrung, daß in einem Stadtteil, der schon längst von Zehntausenden bewohnt war, ohne daß irgend gläubiges Leben wäre zu bemerken gewesen, eine bewußte Kirchlichkeit zum bestimmenden Faktor wurde. Unsere stählernen Versöhnungs-Glocken wurden tatsächlich weithin so verstanden, wie sie gemeint waren: "Lasset euch versöhnen mit Gott", - 2.Kor.5, 20. -

Nun ist's wohl Zeit, einmal wieder von der Familie und der Freundschaft zu reden. Auf die Paul Gerhardtstraße Nr.21 hatten wir außer Hans und Nanna auch unsere Agnes Helene mitgebracht, die ihre beiden Namen nach ihren Großmüttern trägt. Sie war am 2. November 1907 in dem sonnigen Südzimmer unserer Lockwitzer Pfarre zur Welt gekommen, ohne der Mutter allzugroße Beschwerden zu machen, - und ist der liebe Mensch geblieben, der um sich eine friedliche, frohe Harmonie verbreitet.

Auf der Paul Gerhardtstraße erschien am 11. Juli 1909 unser Ernst Gerhard Oscar, den aber Elisabeth durchaus nicht Gerhard genannt haben wollte, sondern nur Gert, womöglich mit hartem t, er sollte wie eine Gerte schlank und kräftig ins Leben wachsen. Im täglichen Leben ist's nun beim Gerd geblieben, was denn wohl seinem Wesen auch am deutlichsten entspricht. Unser lieber Junge ist mit großer Wortkargheit, ja, wohl mit einer allzu reichlichen Dosis von Schüchternheit, aber auch mit einer inneren Ruhe und Freudigkeit bis zur jetzigen Unterprima seinen Weg gegangen, daß wir ohne Sorge auf seine Zukunft blicken. Es ist ja seltsam, daß der so ganz aufs idealistische und humanistische Ziel gerichtete Vater an seinen Söhnen die allgemeine Abkehr zum Realismus und Aktivismus so mächtig erlebt. Gerd ist in Fragen des Autobaues und des Radio für uns Autorität - und lächelt milde, wenn von Schiller und Goethe die Rede ist.

Ich will nicht unterlassen, ein charakteristisches Wort von ihm hier festzuhalten. In unserer schönen Sommerfrische in Müllers Gut oberhalb Stadt Wehlen findet ihn die "Oma" eines Tages unter einem Birnbaum sitzen, still und mit den Händen im Schoß. Sie fragt, was er denn da tue. Er: "ich Warte". "Worauf wartest denn Du?" "Auf den Wind!" "Warum wartest denn Du auf den Wind?" "Daß der mir ein paar Birnen 'runterwirft." Ganz unser Gerd. Oder eine andere schöne Geschichte: Im Walde soll er einige Meter an der steilen Böschung in die Höhe klettern, um einen schönen Steinpilz von dort oben herunterzuholen. Da sagt er treuherzig zum Vater: "Wenn ich doch Swinegel wäre -, dann hätte ich eine Frau, die gerade so aussieht wie ich. Die würde ich dann dort 'nauf schicken, und ihr würdet das garnicht merken."

Helene, großmutter Agnes und Gerd um 1912 Helene und Gerd ("Mieze u. Männe")
Helene, Großmutter Agnes und Gerd um 1912
Helene und Gerd ("Mieze u. Männe")

1913 am 4. Juli kam zu dem Geschwisterpaar noch unsere Hertha Margarete hinzu, aufdaß in jedem unserer Pfarrhäuser ein Kindchen seinen ersten Schrei täte. Helene war in Lockwitz, Gerd auf der Paul Gerhardtstraße geboren, und Hertha kam nun auf der Glasewaldtstraße 49 an. Dies Kind hat uns wieder neue Erziehungsfragen gebracht. Sie haben alle ihre Eigenart, aber bei Hertha ist das eigene Wesen doch am meisten ausgeprägt. Mit großen Augen und mit ernster Frage schaut sie ins Leben, liebesbedürftig und erkenntnishungrig; und wenn dann die Tatsachen hart und schwer, wie das Leben einmal ist, an sie herantreten, dann ballt sie ihre kleinen Fäuste und sprüht von Leidenschaft und lehnt sie heftig ab und findet sich nur sehr mühsam zwischen ihnen hindurch. Mein Gebet für meine Hertha ist, daß sie das Göttlich-Heilige und Gute in den Tatsachen des Lebens erkennen möchte, nicht an das Schicksal, sondern an die Schickung glauben lerne, und so sich freudig beuge und ihren Lebensweg im Frieden und in Dankbarkeit gehen lerne.

Ach, ich möchte ja so gerne glauben dürfen, daß meine Kinder glücklich werden und bleiben, wenn sie herangereift sind und ich längst die Augen geschlossen habe.

Hans war schon von Lockwitz aus nach Dresden auf die Kreuzschule gegangen, in unerfreulichem Maße durch die tägliche Bahnfahrt beschwert, von Dresden aus war das dann leichter. Er ist schlecht und recht durch die Schule gegangen, ein Durchschnittsschüler, der mit seinem etwas träumerischen und grübelnden Geiste, dem auch ein Zug von Frömmigkeit nicht fehlte, ganz wie von selbst sich zur Theologie bestimmte. Daß er zum Einjährig-Freiwilligen-Jahre angenommen würde, war bei seiner zarten Konstitution, die er leider von der Mutter geerbt hatte, ganz unwahrscheinlich. Er ist denn auch als 19jähriger nicht zum Militär, sondern als Theologe im 1. und 2. Semester auf die Universität Leipzig und im 3. Semester zu seinem Patenonkel, Hans von Schubert, nach Heidelberg gezogen. Doch das eilt weit voraus.

Nanna war beim Umzug gerade so weit, um von der Volksschule auf die höhere Schule überzugehen, und kam von Striesen aus auf die sogenannte Ratstöchterschule, die 1. Höhere Mädchenschule in der Zinsendorfstraße, wo ein uns durch unsere Schwester Marga freundschaftlich verbundener Direktor, Dr. Wuttig, sich ihrer mit überaus dankenswertem Interesse annahm. Sie war ein kleiner Windhund, und Freund Wuttig hat manchmal über sie den Kopf geschüttelt. Nanna aber hat sich, wie ein rechtes Gotteskind, durch alle Schwierigkeiten hindurchgelacht, ist doch zu einer befriedigenden Abgangszensur gekommen und hat auf der Gartenbau-Hochschule in Pillnitz, ebenso wie in den praktischen Lehrlingsjahren der Gärtnerei ihre Sache gut gemacht.

Ihre öffentliche Laufbahn schloß auf folgende Weise ab: Sie zeigt mir hier in Leipzig ein Gruppenbild ihrer Studienkameraden von Pillnitz. Ich lobe das Antlitz des einen jungen Kameraden. Tief errötend sagt sie "also der gefällt Dir" - und fällt mir um den Hals und gesteht "mit dem hab ich mich vorgestern verlobt." - Wir haben am 18. Juni 1927 das Paar mit herzlich freudiger Zuversicht zusammengetan, und Otto Schweitzer genießt das volle Vertrauen seines nunmehrigen Schwiegervaters.

Helenchen kam Ostern 1914 auf die Seminar-Vorschule in der Marschnerstraße und mußte von ihrer Mutter täglich dorthin gebracht und von dort abgeholt werden. Damals schien uns der Plan recht hoffnungsreich, daß sie durch die Vorschule hindurch ins Seminar emporwachsen und einmal selbst eine gute Lehrerin werden könnte. Das Mädchenseminar und die Vorschule standen in hoher Achtung in Dresden, und die erste Klassenlehrerin, Fräulein Judeich, war offenbar eine wirklich begnadete Erzieherin. Helenchen hat an ihr wie an einer Mutter gehangen.

Auch Gerd hat Glück gehabt mit seinen Anfangsschuljahren. Er ist von der Blasewitzerstraße aus in die Volksschule am Trinitatisfriedhof gekommen, und dort führten ihn Lehrerhände, wie man sie sich nicht besser wünschen kann, in die ersten Gründe der Wissenschaft ein. Herr Kobes war, das soll das dankbarste Lob sein, vielmehr ein Vater als ein Lehrer. Aber damit wird nicht gesagt, daß seine Lehrfähigkeit nichts gälte. - Die alten Seminare, vielfach auf einen lebendigen Christenglauben gegründet, haben Persönlichleiten erzogen, nach denen unsre Zeit wohl noch lange wird hungern müssen.

Meine Striesener Arbeit war so groß, daß von irgend welcher Anteilnahme am Familienleben bei mir kaum die Rede sein konnte. Ich habe meine Kinder - außer ein paar mal in der Sommerfrische in Wehlen - kaum anders als bei den Mahlzeiten gesehen. Sie waren ganz der Mutter anvertraut. Einflüsse empfingen sie auch von meinen und von den Verwandten, welche nun durch meine zweite Verheiratung zur Familie gehörten.

Schwiegervater Oscar Ackermann
Schwiegervater Oscar Ackermann 1836 - 1913

Vater Ackermann hat sich um uns alle mit einem sehr gütigen Interesse gekümmert. Er hatte die Eigenart, immer nur auf ganz kurze Stunden in unser Haus zu kommen. Dann ging er durch alle Räume, setzte sich oft überhaupt nicht, aber beobachtete scharf und brachte das, was ihm auffiel, zur Sprache. Nach einer halben Stunde war er schon wieder auf der Elektrischen, die ihn an seinen Schreibtisch brachte.

Sein Haus wurde nach Elisabeths Wegzug von unserem lieben Fräulein Fischer verwaltet, der überaus tüchtigen, an Herz und Geist gebildeten Tochter eines Chemnitzer Polizeiwachtmeisters, mit der uns bald eine warme Freundschaft verbunden hat. Nach Vaters Tode hat sie sich mit dem Studiendirektor Professor Dr. Bassenge verheiratet, und wir erfreuen uns auch in diesem neuen Verhältnis ihrer Freundschaft.

Unser Vater Ackermann starb 1913. Er war erst kurze Zeit vorher in den Ruhestand gegangen, und mein verehrter Dr. Dibelius war sein Nachfolger im ersten Amte der sächsischen Kirche geworden. Ich will hier nur kurz von seinem Ende sprechen.

Ein schmerzhaftes Krebsleiden hat ihn für einige Wochen aufs schwere Krankenlager geworfen. Da hat sich das, was ich als Sohn in den letzten Jahren je mehr und mehr lieben und bewundern gelernt hatte, in seinem Charakter noch einmal herrlich bewährt. Vater Ackermann war eine - ich möchte fast sagen titanische Natur, voll heißer Leidenschaft; alle Urkräfte des menschlichen Wesens waren in ihm überaus lebendig. Von Glück und Schmerz, von bösen wie von guten Eindrücken wurde er gleicherweise ergriffen und mächtig hin und her gerissen. Die Erde hielt ihn fest mit klammernden Organen; aber mit seinem überaus scharfsinnigen Geiste und mit seinen - dagegen freilich zurücktretenden - Herzenskräften war er in seiner zeitigen Mannesjugend ein überzeugter Christ geworden. Nachdem ich das verstehen gelernt hatte, habe ich manchmal geradezu mit staunender Ehrfurcht dem siegreichen Kampfe zugesehen, den sein Glaube regelmäßig gegen seine starke Erdennatur bestand. "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" - 1. Joh.5, 4 - das Wort paßte durchaus auf ihn. Und wenn ich nicht irre, hat sein von ihm sehr hochgeschätzter - und mein verehrter späterer Kollege und Freund, der 1. Hofprediger Geheimrat Dr. Friedrich über dieses Wort seine Grabrede gehalten.

Mir bleibt es in feierlicher Erinnerung, wie Vater von uns auf seinem Sterbebette bewußten Abschied nahm und eins seiner letzten Worte der Vers war: "An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd'; was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert".

Die beiden Geschwister meiner Elisabeth - Marga, die 12 Jahre ältere Schwester, mit ihrem Mann, dem Geh. Justizrat Schultzky, und Rudi mit seiner lieben Hertha, Tochter des Vizeadmirals Ehrlich, - haben leider immer zu ferne von uns gewohnt, als daß mein Verhältnis zu ihnen bis zur Innigkeit hätte gedeihen können. Geheimrat Schultzkys wohnen in Aschersleben und kamen selten nach Dresden und nach Leipzig. Das tut mir umsomehr leid, als Elisabeth mit dieser ihrer älteren Schwester von jeher fast töchterlich verbunden ist.

Rudolf Ackermann hatte eine überaus aussichtsreiche Laufbahn vor sich, damals als Kapitänleutnant in Kiel. Er hat im Weltkrieg mehrere ausgezeichnete Stellungen verwaltet, zuletzt die deutschen und österreichischen U-Boote im Mittelmeer von seiner Station Cattaro aus kommandiert - und ist derjenige deutsche Offizier gewesen, der unter den feindlichen Schiffen weg in einem U-Boot dem König von Spanien ein Handschreiben des Kaisers zu überbringen hatte. Von dem schmerzlichen Zusammenbruch seiner Hoffnungen erzähle ich wohl noch später.

Hertha Ackermann ist eine Mutter und Tante, wie die jungen Glieder der Familie sie sich nur Wünschen können. Klug, klaren Blickes, von einer eigenen Lebensweisheit; sie hat auf alle meine Kinder trotz seltener Begegnung einen wertvollen Einfluß ausgeübt, und meine Nanna verehrt in ihr eine wahrhafte ältere Freundin.

So lebten wir denn - ich darf sagen in frohem Behagen unser Leben. Für mich war es köstlich, von der Liebe einer zahlreichen Gemeinde mich getragen zu fühlen. Wir hatten keine Sorgen. Vater zahlte an Elisabeth die Zinsen des mütterlichen Vermögens als Taschengeld aus, und nach seinem Tode wurde ihr dann auch ihr Anteil an dem seinigen gegeben. Es war ein schönes Leben.

Da - zuckte der Strahl des Weltkrieges hernieder! Die schwüle Temperatur der Politik war wohl schon längst fühlbar gewesen; aber von der plötzlichen Kriegsnotwendigkeit wurden wir doch alle überrascht. Ich war ahnungslos mit meiner Nanna in den Urlaub nach Königsberg gefahren, wo Immisch damals Professor war. Ich hatte einige Wochen in der interessanten Stadt und in der eigenartigen ostpreußischen Welt verlebt und hatte den Plan gehabt, meine liebe Mutter, die bald nach ihrem 83. Geburtstage fröhlich und mutig nach Königsberg gefahren war, in die Heimat zurückzugeleiten — da verkündigten die Extrablätter den Kriegsanfang.

Die Stadt war wie ein Ameisenhaufen. Jetzt mit Mutter zu reisen, war unmöglich. Ich aber mußte selbstverständlich sobald als möglich wieder in meiner Gemeinde sein. Ich fuhr mit Nanna am Abend und denke noch jetzt mit Erzittern an den Augenblick, der uns das Grauen des Krieges sofort fühlbar machte. Kurz ehe wir über die Weichselbrücke fuhren, stellt sich ein schwer bewaffneter Soldat an der Tür unsres Abteils auf, richtet der Reihe nach auf jeden von uns seinen Revolver und ruft mit barscher Stimme: "wer sich jetzt rührt, ist des Todes". Das war durch die naheliegende Möglichkeit veranlaßt, daß verkappte Feinde die strategisch ungeheuer wichtige Brücke zu sprengen versuchen würden, sodaß jede etwa aus den Fenstern geworfene Bombe hätte gewaltigen Schaden bringen müssen. Wir wurden eben alle als Spione behandelt.

Meine liebe Mutter ist dann bald unser erstes großes Kriegsopfer geworden. Immischs hatten eben in diesen Tagen eine Berufung nach Freiburg bekommen, die sie mit Freuden annahmen. Aber so hörte die Gehaltszahlung in Königsberg auf, und ihres Bleibens dort konnte nicht mehr lange sein. Da kam die Wahrscheinlichkeit, daß Königsberg vom russischen General Rennenkampf würde eingeschlossen werden. So mußten Immischs denn fliehen, weil sie in ihrer bisherigen Heimat nichts mehr zu essen gehabt hätten. Sie entschlossen sich zur eiligen Abreise, und unsere Mutter mußte jetzt unter unendlich viel schwereren Bedingungen mitreisen, als sie noch vor 14 Tagen gewesen waren. Dicht am Schlachtfeld von Tannenberg vorbei, von dem die Verwundeten zurückströmten und alle Züge überfüllten, fuhren die lieben Drei in 40stündiger Fahrt nach Berlin. Mutter mußte froh sein, daß sie nur sitzen konnte; an jeder Haltestelle drohte die Ausleerung des Zuges zu Gunsten der Verwundeten.

Von Berlin aus sind die Geschwister dann nach zweitägiger Ruhe mit Mutter nach Dresden-Plauen gekommen, wo wir sie an ihrer Tür empfingen. Aber wir sahen eine Sterbende kommen. Die vor 4 Monaten so fröhlich und jugendlich abgereist war, schleppte sich jetzt zwischen den Armen ihrer Kinder gesenkten Hauptes und mit zuckenden Mundwinkeln durch das Gärtchen herein. Ihr Bett war ihr in ihrer Wohnstube bereitet, und sie hat es bis zu ihrem lieben, stillen Sterbestündchen am 6. September 1914 nicht wieder verlassen. Wir waren manchmal um sie versammelt und erbauten uns an ihrem kindlichen Gottvertrauen und an ihrer reichen großen Mutterliebe, die je länger je mehr nur immer kindlichere Ausdrücke fanden. Ein reiches, schönes, reines Leben war dahin. Am 9. September haben wir die Mutter zum Vater auf den Trinitatisfriedhof gebettet. Dort hatte sie selbst schon den Spruch hinsetzen lassen: "Gott ist Liebe" - l. Joh.4, 9 - und welcher andere hätte so gut wie dieser unsere beiden Elternherzen bezeichnet.

Von Immischs Kindern will ich gleich hier noch berichten. Kläre war damals wohl in der Ausbildung im Kaiserin Augusta-Victoria Haus begriffen. Sie ist jetzt Oberin eines Säuglingheimes und Pflegerinnen-Seminars in Freiburg und so recht die Stütze ihrer Eltern. Heinz war am Kriegsanfang eben Unterleutnant z. S. geworden, ein stattlicher Junge, von ausgezeichneten Gaben! Er wurde schließlich als Leutnant z. S. in Macedonien stationiert, und meine armen Geschwister haben den großen Schmerz zu tragen, daß seine große Zukunftshoffnung nicht in der Schlacht sondern durch einen Unglücksfall abgebrochen wurde. Er ist durch einen Kopfsprung in seichtem Gewässer beim Baden verunglückt.

Ich hatte mich kaum mit den ganz neuen und doppelt bedeutenden Aufgaben meines Pfarramts wieder eingerichtet, als unser Hans aus Heidelberg ankam, der dort sein 3. Semester unter seines Patenonkels Hans von Schuberts Augen froh und frei durchlebt hatte. Ihm war es selbstverständlich, obgleich er ja bei seiner Musterung als untauglich befunden worden war, daß er seine vaterländische Pflicht erfüllte. Er ist in Dresden von Regiment zu Regiment gelaufen; überall Überfüllung wegen des begeisterten Andrangs zu den Fahnen, überall Abweisung, bis er endlich nach etwa einer Woche mir meldete: das 19. Fußartillerie-Bataillon hat mich angenommen! Also die schwerste Form der Artillerie! Während der Ausbildung bin ich einmal mit ihm über seinen Exerzierplatz gegangen, da standen Granaten von halber Mannesgröße, und Hans sagte stolz: die tragen wir jetzt manchmal zur Übung über den Platz hin und her. Da waren am Rande hohe Silberpappeln, Hans zeigte zu den obersten Ästen und sagte: "dort oben habe ich schon manchmal gesessen, wir lernen dort den beobachtungsdienst. So etwas hatte ich meinem zarten, überschlanken Jungen wahrhaftig nicht zugetraut.

Es war wohl in der ersten Septemberhälfte, daß das nun genügend ausgebildete Bataillon seinen Standort verließ, um in Belgien mit eingesetzt zu werden. Auf dem Loschwitzer Marktplatze stellte die Truppe. Ich stand an der Seite unter zahlreichem Publikum. Da hörte ich neben mir eine Dame zu ihrem Manne sagen: "Sieh mal den zarten Jungen dort in der 4. Reihe, ob der es wohl aushält?" Das war der Abschiedsruf, mit dem ich meinen Jungen in den Krieg hinausziehen lassen mußte. - Und er hat es doch ausgehalten durch Gottes Gnade und ist trotz seiner Verwundung kräftiger wiedergekommen, als er ausgezogen war.

Ich stand denn am 1. Augustsonntage nach vorschnell abgebrochenem Urlaub wieder auf meiner Kanzel in der Versöhnungskirche und predigte einer aufgeregten Gemeinde über den Text: "Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?" - Rom.8, 31 mit dem ernstgemeinten entweder : oder - wir können siegen und doch unterliegen : wir können unterliegen und doch siegen. Ich wurde nachher mehrmals gefragt, ob ich diesen Ton des Zweifels wirklich hätte anschlagen dürfen; aber ich blieb damals klar, daß nur so gesprochen werden durfte, und ich bin mir heute nur zu schmerzlich bewußt, daß wir diesen Ton noch viel ernster hätten anschlagen müssen. Unser Volk ist an seinem Gottesmangel gescheitert!

Eben in jenen Tagen zeigte sich ja auch, daß der Prediger und "Pastor" vor allem mit den ungeheuren Fragen innerlich fertig werden mußte, die ein solcher Krieg in einem entfesselte: Ist Krieg überhaupt dem Christen erlaubt? Soll sich der Christ im Volke den etwa unchristlichen Ordnungen, die von der Obrigkeit kommen, fügen? Ist dieser Krieg erlaubt? Walten hier göttliche oder satanische Mächte? Wie findest Du Dich in Deiner Seele zwischen den Plichten und Empfindungen der Liebe und des Hasses hindurch? In bin in jener Woche wenigstens auf zwei Tage in die Einsamkeit gegangen und in der Sächsischen Schweiz gewandert und habe denkend und betend mit diesen Fragen gerungen. Zurückgekehrt bin ich mit einer Bestimmtheit, die im Grunde doch als ein heiliges Gott will es! erklang, und auf diesem Boden habe ich freudig meine Pflicht zu tun versucht. Daß die Fragen immer wieder kamen, war nicht zu vermeiden. Und so ist der Weltkrieg für sehr viele von uns eine hohe Schule geworden, für die wir unserem Gott doch dankbar sein müssen, wenn wir auch das Examen darin nur schlecht bestanden haben. Ganz deutlich war nur das eine, daß wir mit allen Mitteln unserem Volke mußten klar zu machen suchen, daß dieser Krieg eine Gottesfrage an uns war, und daß wir ihn nur dann zu gewinnen, oder Segen aus ihm zu ziehen nur dann hoffen durften, wenn wir fest dabei blieben: Gottes Wille soll geschehen! Ich glaube und fürchte: daß unser Vaterland im ganzen nicht bei Gott geblieben ist, das ist der Anfang geworden einer neuen Erziehungs- und Prüfungszeit durch den ewigen Gott, der "sich nicht spotten läßt", welche uns und unseren Kindern noch viele Schmerzen auferlegen wird. Möchten wir immer nur uns an die Zuversicht halten, die der Ewige uns zusagt: "Der Herr ist nun und nimmer nicht von seinem Volk geschieden!"

Aber nun galt es, einfach die tägliche, so ganz veränderte praktische Pflicht zu tun. Die Arbeit der Frauenvereine wurde in Permanenz erklärt. Fast täglich kamen die Frauen zusammen, um für die Kämpfer sowohl wie für die zurückbleibenden Familien Wäsche und Lebensmittel zu versorgen. Ich erinnere mich, einmal mit Staunen in unserem Vereinszimmer im schönen Versöhnungsgemeindehaus den riesigen Stapel von Paketen gesehen zu haben, der für die nächste Versendung fertig dalag. Auch meine Frau verwendete ihr ganzes Taschengeld auf die Anfertigung von Feldpaketen, deren jede Woche wohl 10 bis 20 von ihr hinausgingen. Ich muß hier meine beiden Frauenvereins-Vorsitzenden in Dresden-Striesen ein Denkmal der Dankbarkeit setzen. Bei uns war Frau Justizrat Petri durch liebevolle und denkende Fürsorge eine außerordentlich wertvolle Kraft. Sie beherrschte die große Aufgabe vollkommen und verstand es auch, wertvolle Mitarbeiterinnen an sich zu binden. Wir haben es glücklicherweise nicht nötig gehabt, mit äußerlichen Lockmitteln, mit jenen kitschigen Vereinsvergnügen und Lotterien das Geld herbeizuziehen, was wir für die Liebestätigkeit brauchten. Aber uns kam dabei ja natürlich auch die Hochstimmung des Kriegsanfanges entgegen, die solche Dinge selbstverständlich verachtete.

Drüben in der von uns verlassenen Erlösergemeinde waltete unsere überaus verehrte und geliebte Frau Höffer. Meine Frau und ich denken heute noch mit dankbarer Freude an die Freundschaft dieser nun auch längst heimgegangenen edlen Frau. Als Gattin eines erzgebirgischen Fabrikbesitzers war sie das Muster einer Führerin zur sozialen Versöhnung gewesen. In Dresden lebte sie als Witwe; aber mit einem sprühenden, jugendlichen, humorvollen Geiste betätigte sie sich in ihrer Striesener Gemeinde in einer Weise, die uns die höchste Bewunderung abnötigte. Ich schätze es mir zur Ehre, daß sie mich ihrer achtungsvollen Freundschaft würdigte. Sie hat oftmals ausgesprochen, daß sie mit "ihrem Pastor" durch dick und dünn gehe, und ist mir, dem so viele Neueinrichtungs-Arbeiten in großen Gemeinden oblagen, eine außerordentliche Stütze geworden, ohne die ich vieles, was ich wünschen mußte, garnicht hätte erreichen können. Meine Frau, der sie eine rührende Freundschaft widmete, und ich legen die Palme der Dankbarkeit auf ihr Grab.


Ich habe in den späteren Kriegsjahren in Freiburg mehrere wirkliche Fliegerangriffe und Bombenwürfe miterlebt. Aber jetzt fiel eine Bombe in mein Leben, die nicht so blutig war, aber mich und meine Angehörigen doch bis ins tiefste bewegte. Im Februar 1915 empfing ich einen Brief von Sr. Magnificenz: ich solle nicht erschrecken - und er bitte um Entschuldigung, daß er ohne vorherige Anfrage mich den Herren in evangelicis beauftragten Staatsministern zum

zweiten Hofprediger

vorgeschlagen habe. Ich sollte also mein Gemeinde-Paradies verlassen, ich sollte an so exponierter Stelle eine gänzlich veränderte kirchliche Arbeit übernehmen!

Ich wankte geradezu in das Konsistorium, hielt mich am Treppengeländer krampfhaft fest, ehe ich zu D. Dibelius hineinkam und wagte, ihm zu sagen, ich wolle die notwendige Vorstellungspredigt wohl gern halten, könne mich aber für den Fall, daß die Herren Minister mich annähmen, noch nicht entgiltig entscheiden, ob ich dem Rufe Folge leisten würde.

Man merkt, ich hoffte, daß meine Predigt da oben nicht gefallen und man mich schließlich doch in meinem verborgenem Amte belassen würde. D. Dibelius legte seine Hand auf meine und sagte lächelnd, eine derartige Freiheit sei, ihm noch nicht vorgekommen, aber er könne sie auch nicht gelten lassen. Wenn ich mich einmal zur Predigt entschlösse, müßte ich dann eine auf mich fallende Wahl auch annehmen. Ich erfuhr dabei, daß schon 5 Herren von den Ministern zurückgewiesen worden wären; ich also als der sechste die Wahlkanzel bestieg.. Da habe ich mir gesagt, daß ich mein ganzes Leben lang und mit immer festerer Überzeugung mich den Führungen meines Gottes überlassen habe und auch dies nun ganz in die Entscheidung Gottes stellen müsse. Im stillen fragte ich mich freilich, ob nicht die Minister nun auch noch würden den sechsten abfallen lassen, und ich hoffte dies wirklich.

Aber nein, ich wurde berufen. Da drüben, der Kanzel gegenüber, im Excellenzenstübchen saßen 4 Minister und wer weiß wieviele Geheimräte und alte Generäle, und ich predigte zu den Bänken hin, auf denen ich selbst mit meinen Eltern und Verwandten so oft gesessen, und durfte mich kaum für würdig halten, ein Nachfolger der Männer zu werden, die ich damals von Herzen hatte verehren lernen: Rüling, Löber, Kohlschütter, Ackermann und Meier. Wie ernst es die Herren Staatsminister nahmen, das habe ich unmittelbar danach noch erfahren. Unter meinen Zuhörern war der Minister des Inneren, Graf Ernst von Vitzthum, nicht gewesen; er ließ durch den Oberhofprediger meine Predigt herbeiziehen und gab sie mir selbst nach 14 Tagen, als ich meine Antrittsbesuche bei den Ministern machte, mit den herzlichsten Worten zurück; er hatte sie genau gelesen.

Wieder stand ich denn vor einer Gemeinde ganz anderer Art, als ich sie bisher gehabt hatte. Im alten Statut der Dresdner Hofkirche befand sich der Satz, daß den Hofpredigern die Seelsorge an allen "schriftsässigen"- d. h. akademisch gebildeten - Familien der Stadt erlaubt sei. Wir bedurften keines Dimissorials von Seiten der zuständigen Pfarrämter, wenn wir in irgend einer dieser Familien um eine Amtshandlung gebeten wurden.

Aus den Kreisen der akademisch Gebildeten setzte sich denn auch an jedem Sonntag unsere Gemeinde zusammen. Da waren die Bänke der einzelnen Ministerien, der Justizbehörden, der Kreishauptmannschaften und der Amtshauptmannschaften, da waren auf der Empore die gemieteten Betstübchen, deren eines auch unsere Kohlschüttersche Familie von alters her besaß, und alle diese Plätze waren stets gut besetzt.

Da stand an der ersten Säule, halb dem Altar und halb der Kanzel zugewandt, seit mindestens 30 Jahren die hohe Gestalt des alten Grafen Otto Vitzthum, des Vaters von unserem Minister und Führers des Landesvereins für Innere Mission. (Beiläufig: den hat meine liebe Frau wegen seines festen Standortes in der Kinderzeit für den 1. Kirchendiener gehalten.) Mir hat Graf Otto Vitzthum mein Amt in ganz besonderem Sinne zur Freude gemacht. Er wurde mein Beichtkind, hat mich oft in meiner Wohnung besucht und war wohl 4mal im Jahre mein regelmäßiger Abendmahlsgast. In das Gemüt dieses edlen Mannes geschaut zu haben, gehört zu den Heiligtümern meiner Erinnerung.

Ich muß überhaupt hier ein Zeugnis ablegen; in unserer Hofkirchengemeinde ist mir bewußt geworden, wer tatsächlich die Führung im Vaterlande ausüben soll und darf: die hohen Staatsbeamten des alten Regimes waren doch zum großen Teil Menschen von einem ganz anderen Ausmaß, als wir ihnen wohl heute unter den Führern unseres Volkes begegnen. Höchste Bildung, höchste Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, ein unbedingtes Bewußtsein, den Mitmenschen dienen zu wollen und dadurch auch Gott recht zu dienen, ein ernstes Streben, die große und wichtige Berufsarbeit in der Woche am Sonntag durch ernsten Gottesdienst zu heiligen, - das war diesen Männern eigen. Vor Menschen mit erhobenem Haupte, vor Gott in Demut zu stehen, das war ihre Lebensregel. Enger Sinn hat solche Männer oft verkleinert, nach meiner Erfahrung ganz unverdientermassen. Unser Vaterland wird wieder aufwärtsgehen und glücklich zu preisen sein, erst wenn solche Gesinnung bei uns wieder die Führung erlangt.

Mein Hofpredigeramt forderte von mir nicht meine ganze Zeit. Seelsorgerlich war ich natürlich wenig in Anspruch genommen, da muß man ja erst mit der Gemeinde zusammenwachsen, und als dies einigermaßen geschehen war, bin ich schon wieder abgerufen worden. Meine Hauptarbeit war eine gründliche Vorbereitung für die Predigt, die mir etwa 14tägig oblag -, und ich kann es nicht leugnen, daß es mir heute eine glückliche Erinnerung ist, wie D. Dibelius nach einer Predigt über die Auferweckung des Lazarus einmal in die Sakristei kam, mit Tränen in den Augen meine beiden Hände ergriff und mir für die Predigt dankte. Einige Grabreden, - einige Hochzeiten galt's zu feiern und die dabei auftretenden Familienverbindungen weiter zu pflegen. Ein besondre Aufgabe waren die Bibelstunden, die wir beiden Hofprediger abwechselnd in der Sakristei gehalten haben, und ebenso auch die Bibelstunden, zu denen Frau Generaloberst d'Elsa in ihre Dienstwohnung in der Feldgasse viele adelige Damen zusammenrief. In diesem Kreise, wenn ich auch nicht ohne Zagen hinging, habe ich oft große Erhebung gefunden. Es gibt nichts schöneres als eine lebendige, gleicherweise geistig wie geistlich hochstehende Christengemeinde.

Ich mußte nicht nur freie Zeit ausfüllen, sondern auch die gegen Striesen zurückbleibende Besoldung erhöhen, und es war mir deshalb sehr willkommen,daß ich nach dem Herkommen als Hofprediger zugleich auch das Amt als außerordentliches Mitglied des Evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums mit dem Titel eines Konsistorialrats erhielt. Als solcher habe ich nun zunächst um Audienz bei seiner Majestät nachsuchen müssen und eines Tages im Kreise von 8 Herren vor ihm im königlichen Schlosse gestanden.

Unser König Friedrich August! Ich war schon im Lockwitzer Schlosse einmal sein Gegenüber bei Tische gewesen und Zeuge seiner überaus populären Gesprächsführung geworden. Aber ich lache darüber nicht. Unser Land hat durch die Verbindung von Gemütlichkeit und königlicher Würde einen Ausgleichsfaktor in der immer schärfer werdenden Zerrissenheit der Stände besessen, der heute, glaube ich, kaum von irgend einer andren Stelle ersetzt wird. Der König, als er an mich kam, sagte: "Na, Sie sollen so schön gepredigt haben." Ich antwortete darauf: "Es beglückt mich, aus Euer Majestät Munde diese Beurteilung zu hören." Und er: "Nu ja, der Beck und der Nagel, (Kultus- und Justizminister) die haben's mir alle beide gesagt."

Minister Nagel hat mir noch oft sehr freundliche Worte über meine Predigten und auch über meinen liturgischen Gesang gesprochen, was mich natürlich erfreut hat. Bei dem Kultusminister Beck bin ich ein wenig ins Fettnäpfchen getreten mit einer Schwäche, die leider in meinem Wesen liegt, und die ich trotz guter Vorsätze nie ganz habe überwinden können. Es geschieht mir manchmal, daß ich Dinge, die auf der Hand liegen, nicht sehe. So war es mit dem 200jährigen Geburtstag Gellerts. An diesem Erinnerungstage hatte ich unglücklicherweise die Predigt, die gewiß sehr schön war, aber mit keinem Atemzuge des frommen Liederdichters gedachte. Ich war kaum von der Kanzel herunter, als mir das schon bewußt wurde. Und ein paar Tage darauf ließ mir der Kultusminister durch den Oberhofprediger sein Mißfallen aussprechen. Er habe alle Gellertschen Lieder vorher im Gesangbuch gelesen und sich gefreut, das eine oder andre davon zu singen; mir hätte dies Übersehen nicht passieren dürfen.

Im Konsistorium wurde ich von dem von mir überaus verehrten Präsidenten Dr. D. Franz Böhme eingewiesen. Das war auch ein Beamter nach dem Herzen Gottes, von tiefem Ernste und dadurch von einer persönlichen Würde, vor welcher wir alle uns gebeugt haben. Man sah ihm den heiligen Willen zum Gottesdienst in seiner Berufsarbeit täglich an und wurde durch sein Beispiel zu eigener Höchstanspannung getrieben. Selbstverständlich hatte ich im Konsistorium keine laufenden Referate und den regelmäßigen Dienstags- und Freitagssitzungen nur ausnahmsweise beizuwohnen. Hier und da bestellte der Präsident bei den außerordentlichen Räten ein Gutachten in einer Sonderfrage, das man dann in der Sitzung zu vertreten hatte.

In einigen Disciplinarfällen war ich Beisitzer, und es war mir in Nachfolge meines lieben Onkels Kühn die geistliche Inspektion der Gerichtsgefängnisse übertragen. In diesem Amte bin ich im Lande umhergereist - 1. Klasse natürlich - und habe das Gefängnis in der Moltkestraße in Leipzig, die Gefängnisse von Zwickau und Bautzen u.a. besucht. So gab es denn auch Veranlassung, juristische Fragen in den Kreis theoretischer Betrachtung zu ziehen. Wenn ich als erster mit dem Gefängnisgeistlichen in die Gefängniskapelle eingetreten war, und dann nach lautem Schlüsselrasseln die Korridore verschiedenen Stockwerke sich auftaten und in Abständen die Gefangenen in die Kirche traten, hinter jedem 5. Manne etwa ein Aufseher, und jeder einzelne in ein Schilderhaus gesetzt, das nur gegen Altar und Kanzel hin offen war, - dann faßte der Menschheit Jammer einen an, und man fühlte sich zu der Frage getrieben, ob diese Form der Gefängnisstrafen die gottgewollte sein könne, die solche unglücklichen Menschen wieder auf guten und glücklichen Weg zu führen imstande sei. Besprechung der Predigt und der seelsorgerlichen Tagebücher mit dem Gefängnisgeistlichen und danach ein eingehender Bericht im Konsistorium war hier dann meine Aufgabe.

Aber die Hauptarbeit des außerordentlichen Konsistorialrats bestand in seinem Auftrag, an den Prüfungen pro ministerio teilzunehmen. Und es geschah mir wegen der vielen Sonderprüfungen mit Kriegsteilnehmern, daß ich in der kurzen Zeit meines Amtes wohl mindestens 8mal mit geprüft habe. Seltsam die Empfindung beim 1. Male, daß ich mich mit meinem Onkel Kühn zusammen auf dieselbe Seite des Prüfungstisches setzte, an dem ich vor 25 Jahren als sein Prüfling ihm gegenüber gesessen hatte. Die Examinierenden saßen nach der Anciennität, und so nahm denn der Neuling bescheiden den letzten Platz ein. Das war aber in der Regel auch das Richtige wegen des Prüfungsfaches. Die praktische Theologie, die ich als Anfänger zunächst fast regelmäßig übernahm, rangiert ja am Ende der einzelnen theologischen Disciplinen. Ich habe aber auch 2mal in der Kirchengeschichte und 1mal im Neuen Testament geprüft. Und wenn mir ein längeres Leben im Konsistorium beschieden gewesen wäre, so hätte ich mich auch noch nach Onkel Kühns Abgang an das Hebräisch gewagt; ich hatte es schon angemeldet. So mußte denn viel Energie und Zeit darauf verwendet werden, daß ich mich in jenen Disciplinen wieder fest in den wissenschaftlichen Sattel setzte. Eine Mühe, die mich aber tatsächlich verjüngte und mir für meine weiteren Amtsjahre sicher recht gut bekommen ist.

Nicht ohne Rührung verweile ich auch bei der Erinnerung, wieviel doch auch für das Glück oder Unglück der Examinanden auf die Art und Weise des Prüfenden ankam. Einer meiner älteren Kollegen prüfte in der Kirchengeschichte einmal so, daß er nach dem Namen des gegenwärtigen Papstes fragte - Benedikt XIV - und nun unnachsichtlich alle Benedikte durchging, die auf dem heiligen Stuhl gesessen haben, und von denen weder die Kandidaten noch die Konsistorialräte irgend etwas wußten; nur der brave Prüfende hatte natürlich sich befriedigend vorbereitet.

Mit solcher Art stürzt man die jungen Männer in arge Verlegenheit. Es gehört zum Geschick und zur Freundlichkeit des Examinators, daß er ein Thema wählt, welches den Prüflingen bekannt sein muß und auch bekannt ist. Und weiter hat es mir Freude gemacht, daß ich bald jene freundliche Erscheinung entdeckte, die ich das Aufleuchten der Signallaterne nannte. Der Examinator merkt, wenn er die Reihe der Kandidaten betrachtet, bei dieser oder jener Frage ganz deutlich: hier sitzt etwas und dort sitzt nichts. Er sollte auf dieses Aufblitzen immer freundlich eingehen.

Harte Arbeitswochen wurden uns dann zuteil, wenn eine große Zahl sich zur Prüfung eingefunden hatte, wir mußten sämtliche Prüfungsarbeiten lesen, nicht nur die, die in unsrer Disciplin geschrieben waren. So liefen einmal 96 Arbeiten von 10 - 20 Seiten von Haus zu Haus, und in wenigen Tagen mußten sie mit unsrer Meinungsäußerung weitergegeben werden. Das war ohne Anstrengung durch Tag und Nacht nicht möglich. In solchen Wochen war an irgend eine andere Arbeit natürlich nicht zu denken.

Aber trotzdem - zu normalen Zeiten war ich nicht überlastet und durfte ruhig dem vertrauensvollen Angebote folgen, das mir der Landesverband für christlichen Frauendienst durch seine beiden Vorsitzenden, Frau verw. Oberst Marie von Carlowitz und Frau verw. Kreishauptmann von Welck, sehr bald nach meinem Antritt entgegenbrachte. Ich sollte Schriftführer des Verbandes werden und dafür jährlich 1000 Mark erhalten. Die Aufgabe bestad in der Bearbeitung sämtlicher grundsätzlichen Fragen, die an den Verband herantraten und in den Vorstandssitzungen vorzutragen waren, in der schriftlichen Erledigung der Beschlüsse, in Vorträgen, die hier und da im Lande gehalten werden mußte, in der Vertretung des Verstandes bei Festfeiern der örtlichen Verbände und - was fast das Schönste war - in Religionsstunden, die in der sozialen Schule für christlichen Frauendienst zu halten waren. Mit den 2 Klassen, die ich da regelmäßig mit unterrichtet habe - es waren wohl etwa je 15 junge Damen - hat mich bald das herzlichste Band verbunden, das sich nur denken läßt, und heute noch erfreue ich mich zahlreicher Grüße von den damaligen Schülerinnen, die nun längst Berufsarbeiterinnen oder auch junge glückliche Frauen sind. Den beiden Vorsitzenden Damen bewahre ich ebenfalls dankbarste freundschaftliche Verehrung.

O was ist es doch um das heilige Feuer in einem gläubigen Christenherzen, das arbeiten und wirken muß, ganz gleich welcher irdische Lohn dabei herauskommt! Durch böse Gerüchte und gute Gerüchte hat Frau Marie von Carlowitz auf dem Posten gestanden; an ihrer Freudigkeit und ihrem reinen Gewissen, dasimmer den Ausschlag gab, habe ich mich oft erbaut.

So war ich denn ein glücklicher Mann in meiner dreifachen und nun auch vollkommen ausgefüllten Amtsarbeit. (Frau von Carlowitz hat manchmal telefoniert, ob die Examenswoche nur nicht bald zu Ende sei oder so etwas.) In unserer schönen Wohnung, Blasewitzer Straße 39 II, ließ sich's gut leben, und von unserem Hans kamen aus dem Felde immer wieder beruhigende, ja manchmal begeisternde Nachrichten. Das Leben war ernst, aber schön.

Da trat eines Tages Herr Amtsgerichtsrat Dr. Goetz bei mir ein und brachte fast schüchtern seine Frage vor:

In Leipzig in der Petersgemeinde

war man auf mich aufmerksam geworden - wohl hauptsächlich durch eine freundschaftliche Verbindung, die zwischen eben jenem Doktor Goetz und dem damaligen Kirchenvorstandsvorsitzenden, Oberjustizrat Kranichfeld, bestand -, und ließ mir nun die Frage vorlegen, ob ich in Nachfolge des Geheimen Kirchenrats D. Hartung ihr Pfarrer werden wollte.

Das brachte mein und unser aller Blut in gewaltige Aufregung. Wieder ins praktische Pfarramt, aus meiner so geliebten Vaterstadt Dresden fort nach Leipzig mit seiner unschönen Umgebung und mit seiner berüchtigten Unkirchlichkeit - es waren wohl Fragen, die das Gemüt des 52jährigen bedrücken konnten. Die Verpflanzung von Mutter und Kindern aus ihren Freundeskreisen war auch keine Kleinigkeit. Ich glaube, ich hätte nicht Ja gesagt, wenn ich nicht seit langer Zeit mich ganz dem Grundsatz aufgeschlossen hätte: "Wie Gott mich führt, so will ich gehn ohn alles Eigenwählen." Und so bin ich denn nach 14 schweren Tagen der Selbstprüfung auf das Angebot eingegangen. Mein teurer Präsident Böhme und D. Dibelius waren ein wenig überrascht davon, obgleich in Oberkirchenrat Kretzschmar, dessen Nachfolger ich an der Hofkirche geworden war, schon ein Präcedenzfall vorlag. Sie ließen mich aber ziehen; es war ihnen selbstverständlich, daß ich Hartungs Nachfolge auch in der Superintendentur von Leipzig-Land zu übernehmen hatte.

Die Albertstraße 38 heißt heute Riemannstraße 38 und ist immer noch Pfarrbüro. Das Bild wurde 2007 von meiner Kusine Karin Zahn aufgenommen. /SZ

Und so wurden denn am 13. Oktober 1916 die Zelte in Dresden abgebrochen und in Leipzig aufgeschlagen - Albertstraße 38 I. Am 15. Oktober habe ich in der Peterskirche meine Antrittspredigt gehalten, Matth.16, 13-20. "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde!" Der Altarraum war von zahlreichen Vertretern der Landgeistlichkeit sowie der städtischen Gemeinden gefüllt. Mein bisheriger Kollege, Geheimrat von Zimmermann, wies mich ein, und ich war nun der Führer einer wertvollen Theologenschar, die in den Pfarrhäusern rings um Leipzig her wohnt und wirkt, und 33 000 Seelen einer Großstadtgemeinde waren wieder auf meine arme Seele gelegt.

Von den mir damit wieder nahegebrachten Problemen denn das erste Wort. Die Petersgemeinde in Leipzig unterscheidet sich von meiner Dresdner Versöhnungsgemeinde insofern, als jene eine vorstädtische und diese eine innerstädtische Gemeinde ist. Die Bedeutung dieses Unterschiedes begegnet dem kirchlichen Arbeiter immer aufs neue. Auch hier in Leipzig haben die Vorstädte von ihrem früheren Dorfcharakter soviel behalten, daß sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der gegenseitigen Verpflichtung überall mit hinbringen. Trotz ihrer Zehntausende bleiben sie deshalb übersichtlich und in ihren einzelnen Organisationen für die Kirche erreichbar. Im Inneren der Stadt ist eine große Kirchgemeinde so gut wie keine Gemeinde mehr. Kulturell und wirtschaftlich läuft alles durcheinander. Man, sucht seine Erholung und Anregung an den großen Kulturstätten - wie im Gewandhaus, Museum und in den Vortragssälen - und versorgt sich wirtschaftlich in der Markthalle und in den Kaufhäusern. Auch wenn man etwas von der Kirche haben will, sucht man sich die Kirche aus und den Prediger, der einem gerade zusagt, und weiß garnichts davon, zu welcher Kirche man eigentlich gehört. Es war uns Petersgeistlichen doch sehr interessant, daß Herr Landgerichtspräsident von Weber, als er von Plauen nach Leipzig übersiedelte, seinen Sohn zur Konfirmation ohne weiteres in der Thomaskirche anmeldete, und, als er uns kennen lernte, sich ganz verwundert damit entschuldigte, er habe in seiner bisherigen Heimat immer nur gehört, daß man in Leipzig in die Thomaskirche gehe. Jetzt ist er mit seiner Familie eins unserer treuesten Gemeindeglieder. Der Pfarrer, der seine Aufgabe grundsätzlich zu erfassen sucht, muß es sich bei diesen Verhältnissen angelegen sein lassen, Gemeindegefühl zu wecken. Darauf habe ich denn meine ganze Aufmerksamkeit gerichtet.

Unter den mannigfaltigen Interessen, welche die Kirche neben ihrer Hauptaufgabe, der Verkündigung des göttlichen Wortes und der Verwaltung der Sakramente, zu verfolgen hat, (Vereine für Liebestätigkeit, Evangelischer Bund, Sittlichkeitsfragen usw. usw.) ist es von zentraler Bedeutung, daß sich eine Kerngemeinde bildet, die alle jene Aufgaben als ihr befohlene Arbeiten erkennt und ausübt. Ich halte es deshalb für gegeben, daß ein Gemeindeverein alle treuen und bewußten Mitglieder der Kirchgemeinde sammelt. Über die Frage wegen des Unterschieds der Geschlechter bin ich dabei noch nicht hinweggekommen. Ich habe zwei Mittelpunkte der Gemeinde im Auge, den Männer- und den Frauenverband, bin mir aber bewußt, daß diese Trennung irgendwie überwunden werden möchte, und gehe darauf aus, daß dieses durch häufigere gemeinsame Veranstaltungen der beiden Verbände erreicht werden kann. Die Mitglieder dieser Verbände, d.h. den eigentlichen Gemeindekern, müssen wir Pfarrer durch Sammlung der Gläubigen in den Bibelstunden zu begründen suchen. Und wir haben darin doch recht erfreuliche Erfolge, wenn auch der großen Einwohnerzahl der Petersgemeinde gegenüber die wirklich gläubige Seelenzahl immerhin eine kleine bleibt.

Aus der Bibelstunde heraus wächst uns aber noch eine andere Macht zu, welcher in Wirklichkeit der allerwertvollste Bestandteil der Gemeinde ist - unsere liebe Gesamthelferschaft. Wir werben von Zeit zu Zeit, hauptsächlich in den Bibelstunden, um Beitritt zu den 5 Helferverbänden der Einzelbezirke und haben je länger je mehr die Freude gehabt, daß diese sich auch durch sich selbst erhalten und ergänzen. Es haben sich für alle Bezirke lebendige Christen und Christinnen gefunden, welche als Oberhelferinnen uns Geistlichen Dienste leisten, für die kein Dank groß genug ist. Unter ihnen sind zwei oder drei, von welchen ich tatsächlich annehmen darf, daß sie den gesamten Bezirk ihrer Helferschaft genau kennen. Sie wissen, wer in jeder Wohnung haust und mit was für einem Geiste man es in den einzelnen Familien zu tun bekommt, und sind deshalb imstande, den einzelnen Helfern wertvolle Winke und Aufträge zu geben und die Pastoren immer rechtzeitig zu verständigen, wenn eine seelsorgerliche Leistung unerläßlich ist. Die Helfer in ihrer großen Zahl ziehen mit dem Gemeindeblatte, unserem "Petersboten", mit vielen Ankündigungen und Einladungen durch die Häuser und sind wohl an mancher Stelle schon Hausfreunde geworden.

Durch diese Einrichtung wird ein Gemeindegefühl hervorgerufen, das sonst auf keine Weise erreichbar schiene. Das Gemeinschaftsgefühl untereinander, das ja die Grundlage der gesamten Arbeit bietet, pflegen wir durch monatliche Bezirkshelferversammlumgen und vierteljährlich einmal in einer Gesamt-Helferversammlung, die uns nicht nur verbindet und für Einzelfragen interessiert, sondern für die Gesamtaufgabe immer aufs neue begeistert. Ich bin sehr glücklich, daß dieser Helferdienst bei uns so gut gedeiht, und nenne hier einen Namen, den ich neben seinen vielen Verdiensten um unsere Gemeinde auch gerade in diesem Punkte ganz besonders hochzustellen habe - unsere liebe Freundin, Fräulein Marianne Dambacher, die mit ihrer feinen Gabe, andere Menschenseelen zu erwärmen, so recht die innerste Triebkraft unserer Helferarbeit ist.

An dieser Stelle muß ich nun leider bekennen, daß es mir je länger je schwerer geworden ist, einen eigenen seelsorgerlichen Bezirk zu verwalten. Die gesamte Arbeit der Gemeindeverwaltung und noch mehr die Belastung mit den Ephoralgeschäften traf so oft mit augenblicklichen Forderungen der Seelsorge zusammen, daß dieses wichtigste von jenem andern, doch auch unerläßlichen nur allzusehr verdrängt wurde. Nach ungefähr 10jährigem Dienste habe ich deshalb mit Schmerzen, aber doch im Gewissen befreit meinen Seelsorgebezirk an die Kollegen und in der Hauptsache an meinen Freund Rietschel abgetreten, der nun 2 Helferschaften betreut. Aber ich lasse es mir angelegen sein, auch ohne diesen direkten Auftrag sowohl mit den Helfern wie mit möglichst vielen Gemeindegliedern in persönlichem Verkehr zu bleiben. Es liegt doch auch in den oft sehr zahlreichen Verwaltungsgeschäften eines 1. Pfarrers eine vielfältige Gelegenheit, seelsorgerlich auf die Gemeinde und einzelne darin zu wirken.

Deshalb erkläre ich mich ernstlich gegen den §10,3 unserer Kirchgemeindeordnung, wonach der stellvertretende Vorsitzende den ständigen Vorsitz in allen weltlichen Angelegenheiten der Gemeinde übernehmen darf. In einer Gemeinde meiner Ephorie hat der Pfarrer von dieser Bestimmung Gebrauch gemacht, und ich habe oft genug beobachtet, daß er damit in unerwarteter Weise aus dem Mittelpunkt seiner Gemeinde verdrängt worden ist. Ich versuche doch an allen Erscheinungen des Gemeindelebens Anteil zu nehmen und behalte mir ein für allemal auch Urteil und Bestimmung für alle grundsätzlich wichtigen Fälle vor. Dies ist sehr wohl vereinbar mit dem von mir freudig anerkannten anderen Grundsatze, meinen Mitarbeitern in der Kirchgemeinde möglichste persönliche Freiheit zu gewähren, und das dazu nötige Vertrauen immer wieder zu beweisen.

Unter den grundlegenden Arbeiten der Gemeindebildung dürfen natürlich die Jugendvereine nicht vergessen werden. Die sind meinen Kollegen - Pfarrer Richter für die Jungmännersache gemeinsam mit unserem Jugendinspektor, Herrn Paul, und Pfarrer Walther für die Jungmädchensache gemeinsam mit Fräulein Lotte Richter - übergeben. In diesen Leitungsfragen geht es selbstverständlich eben nicht ohne Vertrauen, und ich bin glücklich, daß ich eine Enttäuschung so gut wie niemals erfahren habe. Die Dinge würden zweifellos schlechter gehen, wenn ich überall hineinredete. Nur müssen alle einzelnen Leiter und Vereine immer wieder fühlen, das der Pfarramtsleiter ein Herz für ihre Sache hat.

Jetzt treibt es mich noch zu einer wichtigen grundsätzlichen Betrachtung. Wir haben in der Gegenwart es mit einer gewissen Meinungsverschiedenheit zu tun, welche man etwa mit dem Satze bezeichnen kann: Ist die kirchliche Arbeit Innere Mission oder etwas ganz anderes? In dieser Frage liegt ein Doppeltes. Vor kurzem hörte ich von einem Geistlichen die bitter vorgebrachte Anklage: "Wir Pastoren sollen jetzt ja garnicht mehr Hirten sondern nur Hirtenhunde sein." Die Meinung war: eine Gemeinde ist nach jenem Begriffe von der Inneren Mission garnichts andres als ein Konglomerat von kirchlichen Vereinen, in denen die lebendigen Christen im Unterschied von den toten, oder die gläubigen im Unterschied von den ungläubigen sich sammeln, und die Aufgabe des Pfarrers besteht nur darin, aus der großen "verlornen Masse" einzelne für die kleine lebendige Gemeinde zu sammeln und bei dieser festzuhalten.

Ich glaube nun allerdings, daß es ohne Vereinsbildung nicht abgeht, weil in der unübersichtlichen Großstadtgemeinde gläubiges Leben überhaupt nirgend anders zu erkennen ist als in solchen, auf dieser Grundlage bewußt zusammenkommenden Vereinen. Aber eine ernste Mahnung sollen alle wahren Christen und besonders die Pfarrer doch aus jener Klage vernehmen: daß man über dem "lebendigen" Gemeindekern die anderen nicht verachten und vernachlässigen darf, welche aus irgend einem Grunde von diesem Kern sich fernhalten. Es liegt eine, kleine Wahrheit darin, daß Vereine zwar zusammenschließen, aber doch auch trennen und zerstreuen.

Der andere Gedanke, der mit der engen Verbindung von Gemeinde und Innerer Mission vollzogen wird, ist der, als handele sich's beim christlichen Leben ganz eigentlich um Liebestätigkeit. Eine Gemeinde soll wissen, daß sie im Glauben und um des Glaubens willen zusammenkommt, und daß es bei der Liebestätigkeit sich immer nur um die Glaubenswirkung handelt, welche Liebe heißt.

Mindestens in demselben Maße wie die Kirchgemeinde beschäftigt einen Superintendenten doch auch sein Kirchenbezirk. Als mir das neue Amt so völlig unvermutet und überraschend angetragen wurde, fielen mir die Worte meines Schwiegervaters Ackermann ein: "es wäre eine Freude, wenn Du einmal Superintendent werden könntest. Das Ephoralamt ist das schönste von allen Amtern!" Jetzt nach 11jähriger Ephoralarbeit unterschreibe ich dieses Urteil vollkommen. Es handelt sich bei diesem Amte um einen Auftrag, der zugleich von den höchsten Ideen und der wärmsten Liebe durchdrungen ist, wie das sonst wohl nirgends vorkommt. Ein Superintendent soll der Leiter nicht nur der äußerlichen kirchlichen Verhältnisse, sondern eben erst recht auch der Pastorenseelen in einem verhältnismäßig großen Kreise sein. Um mich her leben 48 Geistliche, die viel von mir erwarten, und 125 000 Seelen, von denen doch ein gewisser Prozentsatz sich geistlich von niemandem so erreichen und beeinflussen läßt wie von dem Ephorus, der freilich solche Einflüsse nur recht selten auszuüben vermag. Für die Theologie seiner Zeit muß der Superintendent ein offenes Ohr haben, damit er das Wichtige den Geistlichen auch wichtig mache. Im Glauben muß er ihnen allen vorangehen, in der Verwaltung muß er ihre Achtung fesseln, damit alles "ordentlich zugehe in der Gemeinde". Den Eifer und Fleiß gleicherweise wie die Freudigkeit muß er hüten und seinen Geistlichen vorleben. Ich wage zu sagen - und bin mir dabei meines Mangels schmerzlich bewußt: er muß die meisten und die schwersten Steine freudig tragen auf's Baugerüst. Wer mich lieb hat, der mag es ermessen, wie oft mich diese Dinge in meiner Stube auf die Kniee zwingen, aber wie sie mich dann auch auf Adlersflügeln wundervoll in die Höhe tragen.

Die erste Aufgabe, die zu erledigen war, sind die Besuche mit meiner Frau in den 48 Pfarrhäusern gewesen, von denen wohl 6 mit einem anderen in derselben Gemeinde zusammen stehen, während 36 in ihren Gemeinden den alleinigen Mittelpunkt bilden. Wie sehr verschiedene Geister und Seelen hat man da kennen gelernt! Es ist doch eben etwas anderes, ob man als neuer Kollege oder als Vorgesetzter eintritt; der Gesichtswinkel weitet sich im letzteren Falle und die Lupe wird schärfer. Da sind die reichgebildeten und eifrigen Arbeiter, da sind die aus kleinem Hause hergekommenen, da sind die wirklich frommen und aus tiefstem Herzen ihrem Herrn dienenden Seelen und da sind auch träge und enge Geister, die nicht das Zeug haben, die Bedeutung ihres Amtes - die auch in einer toten und kleinen Gemeinde noch groß ist - überhaupt zu verstehen. Wir leben heute bekanntlich in der Zeit der Diastase, der immer bewußter hervortretenden Gegensätzlichkeit in der Theologie. Schleiermacher und sein Kulturchristentum wird von der einen Seite noch immer warm verehrt, aber von der anderen - täglich zunehmenden - streng verworfen. Gemeinschaftschristentum und warmer aber enger Pietismus bäumen sich auf gegen die Orthodoxie oder gegen die strengkirchliche Mentalität. Hochkirchentum und liturgische Bewegung erfüllt die Luft, und alle die verschiedenen Richtungen finden in einem Kirchenbezirke ihre mehr oder weniger kräftigen Vertreter, hinter denen dann freilich auch eine Reihe von Kollegen steht, deren geistiges und geistliches Leben offenbar zu wünschen übrig läßt.

Die Richtungsfrage hat mich in meinem Verkehr mit den Geistlichen eigentlich kalt gelassen. Ich stehe auf dem Standpunkt von Apostelgeschichte 10, 35: " in allerlei Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist Gott angenehm". Die Worte liberal und negativ oder positiv und orthodox werden in der Beurteilung von Geistlichen oder theologischen Professoren meines Erachtens oft geradezu unverantwortlich leichtfertig angewendet. Theologen können von ihrem Gewissen und nach dem schriftmäßigen Verständnis der christlichen Wahrhaftigkeit und Freiheit sich innerlich zur Kritik an hergebrachten Glaubensanschauungen verpflichtet fühlen. Um solche Kritik handelt es sich und um die Negation von menschlichen Aufstellungen und nicht um die Verneinung von Offenbarungsworten oder von heiliger Geschichte. Ich glaube nicht, in meinem persönlichen Verkehr solchen Pastoren begegnet zu sein, welche Heilstatsachen oder sichere Worte Jesu geleugnet hätten, und nur solchen gegenüber wäre eine Verurteilung von kirchlicher Seite aus doch berechtigt. Zu einer vollkommen freien Beurteilung der Heilstatsachen und des Offenbarungswortes, ich meine zur gewissenhaften Unabhängigkeit von allen Menschen, welche vor uns auf dem gleichen Gebiete gearbeitet haben, sind wir Theologen einfach verpflichtet, und die persönliche Ablehnung eines Andersdenkenden, als habe er den Glauben verleugnet, wenn er nur eine andere Theologie besitzt, ist einfach, ein Unrecht. Ich bitte Gott um den klaren Blick, der mich die Gewissenhaftigkeit der mir zugeordneten Geistlichen erkennen läßt, und suche dem oben ausgesprochenem Maßstabe gemäß zu allen meinen geistlichen Brüdern das rechte Verhältnis zu gewinnen. "Daß nur Christus verkündigt werde auf allerlei Weise!" Phil.1, 18.

Mit Namensnennungen aus dem Kreise meiner lieben Bezirksgeistlichen will ich mich ganz zurückhalten, nur einem - der nicht mehr lebt - will ich einen Kranz der Dankbarkeit und höchsten Achtung auf sein Grab legen. Georg Liebster ist in diesen Blättern ja schon genannt worden. Wir sind in unserer ersten Amtszeit ein Stück Wegs zusammen gewandert; ich habe beschrieben, wie unser Weg sich gabelte. Hier fand ich nun Liebster als Pfarrer von Thekla wieder und ganz ausgereift zu einer höchst eigenartigen Persönlichkeit, die von links und rechts mit widersprechendster Einschätzung umstritten wurde. Liebster war eine - man darf wohl sagen über die Grenzen Deutschlands hinaus beachtete Persönlichkeit geworden. Auf dem ev.-sozialen Kongreß hatte er eine Rolle gespielt, in sehr verschiedenen Zeitungen und in mannigfachen Büchern hatte er seine Meinung bekanntgegeben -, ein mannhafter und überaus lebhafter Kämpfer für das Recht der Proletarier. Man darf nicht sagen, daß Liebsters Gedankengang sich ganz in das Gebiet der sozialen Gesetzgebung oder gar der sozialen Fürsorge verloren hätte. Er wußte, daß auch dem vom Marxismus vergifteten Arbeitergemüt nur auf dem Wege einer besseren Weltanschauung zu helfen sei. Und bei einem freilich nie vervorgenen Gegensatze gegen jede kirchliche Orthdoxie war seine geistige Tendenz immer die einer großen, höchst selbständigen Christusliebe. Nur daß er glauben mochte, diese gerade hätte sich bei den gebildeten und maßgebenden Schichten unsres Volks viel stärker ausprägen müssen. Bei denjenigen unserer Kollegen, welche von dem alten Konservativismus nicht loskommen, mit Verlaub sei's gesagt: manchmal deswegen, weil die eigene Lebendigkeit dazu nicht ausreicht, löste sein Verhalten oft nur lächelnde Ablehnung aus. Aber die starken Geister in unserem Kreise horchten auf, wenn er sprach. Und dieser eigenartig scharfe Ton seiner Stimme, aufs vorsichtigste und doch energischste ausgeprägt in jedem Gedanken, hat doch auf alle einan tiefen Eindruck gemacht und auch die Lächelnden und sich Überhebenden oft in seinen Bann gezogen. Ich meinerseits glaube, wenn es viele Geistliche seiner Gesinnung gäbe, dann stünde die Kirche der Arbeiterschaft nicht so hilflos gegenüber, wie sie es tatsächlich leider tut. Das Proletariat hat in weitem Umkreis gefühlt, daß hier eine große Liebe ihm die Hände entgegenstreckte, und daß das die Hände eines Jüngers Christi waren.

In den ersten Julitagen 1926 bin ich an seinem Sterbebette gewesen, und ich werde die Erinnerung an diese Stunde immer heilig halten. Da lag ein edler und starker Mensch mit immer noch leuchtenden Augen, der sich doch ganz und gar in die Gnade seines Heilandes hüllte. Das Wort: "laß dir an meiner Gnade genügen!" lag als freudiges Bekenntnis auf seinem Antlitz, und die kindlich gefalteten Hände waren gerade bei diesem Manne ein ergreifendes Sinnbild.

Die Ephoralgeschäfte fordern viel Aktenarbeit, etwa 2 000 Registrande-Nummern mit vielen Ein- und Ausgängen müssen jährlich erledigt werden, und der Geist wird von der Mannigfaltigkeit ihrer Fragen nicht übel in Bewegung gehalten. Tiefer ergriffen aber wird der Ephorus natürlich von den vielfachen persönlichen Berührungen mit den Gemeinden, welche durch Kirchenfeste, Jubiläen, Einweihungsfeiern usw. immer wieder an ihn herantreten. Es ist ein wohltuendes Bewußtsein, daß die Gemeinden ihren Superintendenten gern zu sich kommen sehen, - zugleich mit dem Bewußtsein einer großen Verantwortung, die ihm für seine Reden damit auferliegt.

Sein wichtigstes Geschäft sind die Kirchenvisitationen. Da wird es den Gemeinden einmal deutlich, daß der Mensch "nicht vom Brot allein" lebt, oder besser: es wird wenigstens geahnt, und weit über den Kreis der Kirchenbesucher hinaus wird bei solchen Gelegenheiten doch eine Wirkung und ein Ruf zur ewigen Heimat ausgeübt. Ich wollte, daß es mir gelänge, die Visitationen häufiger auszuführen. In dem großen Pfarramt und unter den vielfältigen Bewegungen im Ephoralkreis gibt es dafür nur allzuviele Hindernisse.

Im Juni 1926 erlebte ich mit meinen Gemeinden das große Ereignis einer General-Visitation durch Seine Magnificenz den Herrn Landesbischof D. Ihmels. Mit Eisenbahn und Auto durfte ich an seiner Seite innerhalb von einer Woche alle unsere 42 Gemeinden besuchen. In jeder Gemeinde hat D. Ihmels eine Ansprache gehalten und bei der selbstverständlichen Übereinstimmung der Hauptgedanken sich doch nie wiederholt, sodaß auch dem Hörer aller seiner Reden immer neue Erbauung zuteil ward. Die Geistlichen des Bezirks haben eine Erhebung erfahren, die für ihr ganzes Leben etwas bedeutet. Und die kleinen Herzlichkeiten und Spaße, die ich nebenbei von diesem reichen und reinen Christen erlebte, waren Geschenke, die ich auch gern in meinem Herzen bewahre. Ich empfinde es als eine Güte meines Gottes, daß ich in das edle liebe Bischofsherz so tief habe hineinschauen dürfen.

Bei den Visitationen und sonstigen Gemeindefesten ist es übrigens immer wieder eine besonders angenehme Zugabe, daß der Superintendent dann jedesmal an einem Ehrenplatze in den schönen Herrenhäusern sitzen darf, die Leipzig rings umgeben. Ich freue mich darauf immer, in die wundervollen Parklandschaften, auf die Blumenbeete und Teiche mit ihren Wasserrosen hinausschauen zu dürfen, was ich doppelt genieße, nachdem ich erst in einem Kreise lebendiger und hervorragender Geister die obligate Tischrede glaube befriedigend vom Stapel gelassen zu haben.

In die abgelaufene Zeit meiner Amtsführung als Pfarramtsleiter und Superintendent ist nun auch die Trennung von Kirche und Staat gefallen. Wir haben die neue Kirchenverfassung vom Mai 1922 und vorher schon die Kirchgemeindeordnung von 1921 und haben uns in mannigfaltiger Weise neu einzurichten gehabt. Die Zeiten waren so ernst, daß unser Konsistorialpräsident, D. Böhme, und unser Landesbischof durch die rote Mehrheit des Landtages mit Gefangensetzung bedroht wurden, wenn sie sich unterstünden, die Verfassung zur Durchführung zu bringen. Es schien eine Zeitlang wirklich, als sollte unsere Landeskirche und damit jede einzelne Gemeinde aufhören, eine Körperschaft öffentlichen Rechtes zu sein, und als würde man uns Christen höchstens die Vereinsrechte zugestehen. Dann hätte die bisherige Form der Kirche mit einem Schlage zu bestehen aufgehört. Kirchgemeinden hätte es nur noch insofern gegeben, als einzelne bewußte Christen sich zu diesem Zwecke zusammengetan hätten und in die Gemeindeliste eingeschrieben worden wären. Daß hätte die Steuerkräfte einer Gemeinde - oder was dann zu sagen richtiger gewesen wäre: die Vereinsbeiträge - natürlich so herabgemindert, daß die Pastorengehälter sowohl wie die Verwaltungskosten der Kirchengebäude davon nicht aufzubringen gewesen wären. Wir konnten uns der großen Sorge nicht entschlagen, was aus unseren Familien werden sollte und auch der Sorge nicht, daß unsere herrlichen Kirchen in kurzer Zeit als Ruinen dastehen würden.

Aber: "Die Menschen gedachten es böse zu machen; Gott aber hat es gut gemacht!" In ganz wunderbarer Weise lichteten sich die politischen Wolken. Wir haben einen Staat bekommen, der durch seine demokratischen und sozialistischen Eigenheiten uns noch genug Sorgen bereitet. - Die Führung unseres Vaterlandes liegt zum großen Teil in den Händen von Männern, denen Wissen und Urteil für so gewaltige Aufgaben abgeht, und die nur von der jeweiligen Parteistimmung auf ihre Minister- und Geheimratssitze erhoben wurden.

Aber die Verfassung Sachsens sowohl wie des Reichs ist doch durch Majoritäten zustande gekommen, welche den umstürzlerischen Radikalismus der ersten Revolutionstage nicht billigten. Teilweise durch Parlamentsbeschlüsse und anderenteils durch Reichsgerichtsentscheidungen sind die öffentlichen Rechte der Kirche festgelegt worden, und wir leben in erträglichen Verhältnissen. Nur über die Lipinski-Gesetze über Kirchensteuer und Kirchenaustritte haben wir ernstlich zu klagen. Es ist freilich seit dem Umsturz unsere fortwährende Sorge, wie wir die jetzt von den Gemeindegliedern allein aufzubringenden Personal-Kirchensteuern, die nicht mehr durch Besitzwechsel-Abgaben und Körperschaftssteuern ergänzt werden, mit den geforderten, unausweichlichen Bedürfnissen der Kirchgemeinde in Einklang bringen können. Um der Kirchensteuern willen, die etwa den fünfzehnten Teil der Einkommensteuern betragen, erlaben wir viele Austritte aus der Kirche.

Und das Schlimmste ist, daß die dadurch erzeugte Stimmung, wie überhaupt die auf unserem Volke noch immer lastende Revolutionsgesinnung viele Menschen ihrer Kirche innerlich entfremdet. Je mehr und mehr fühlen wir, wie eine große Scheidung sich vorbereitet und finden auf das Heilandswort uns hingewiesen:"Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben."

Ich wage es kaum zu denken, aber bei ehrlicher Prüfung muß ich mir doch eingestehen: unser deutsches Volk scheint sich in seiner Mehrzahl für ein neues Heidentum bestimmen zu wollen. Es muß in seiner Blindheit in furchtbare Tiefen hinabsteigen, bis es endlich soweit ist, wie die alten Germanen einst waren, daß es die Herrlichkeit unsres Herrn wieder leuchten sieht und sich bewußt bekehrt.

Auf absehbare Zeit ist die Kirche nur auf eine kleine Zahl von Anhängern angewiesen, und uns, die wir uns zu den gebildeten und darum führenden Klassen rechnen, ist es dabei überaus schmerzlich, daß eben die höheren Klassen - wenigstens in Leipzig und wohl auch sonst im östlichen Deutschland - sich nicht bewußt zur Kirche halten. Aber auch diese schmerzensreichen Tatsachen dürfen wir im Glauben wohl doch als positiven Segen unseres wunderbaren Gottes einschätzen lernen, der die Halben und die Lauen zurückweist und die Ganzen und Entschiedenen jetzt zubereitet, daß sie einstmals die Grundmauer bilden können für das neue Gotteshaus der Zukunft.

Ich möchte diese Gedankengänge mit einer Frage abschließen, die sich jetzt immer wieder aufdrängt: Was muß die innerste Politik der ev.-luth. Kirche in Deutschland sein? Dürfen und können wir uns die Methoden der drei großen Internationalen zu eigen machen,welche so merkwürdig gerade in unseren neuen deutschen Reichsfarben erscheinen, - der schwarzen, der roten und der goldenen Internationale. Der schwarzen des Zentrums, der roten sozialistischen und der goldenen des jüdischen Kapitals? Es ist kein Zweifel, daß Rom als Geldmacht große Erfolge hat. Es zieht die ihm zur Verfügung stehenden Kapitale des Weltalls zusammen, um sie jedesmal an die Stelle zu werfen, welche am meisten gefährdet erscheint. Heute weiß man, daß in Deutschland von Rom riesige Grundstückkäufe getätigt und sogar Handelshäuser fundiert werden, welche dann Mittelpunkte seiner geistigen Machtauswirkung sind. Und die beiden anderen Internationalen üben durch die Presse, im Bezug auf welche sich die rote Internationale der goldenen bedient, ihren unheilvollsten Einfluß aus. Es erscheint kaum noch möglich, ein freies Wort der Wahrheit an die Allgemeinheit zu richten, denn jeder Satz, der gedruckt wird, passiert erst die Zensur der Zeitungsgeldgeber; so ist die Frage sehr ernst, ob es der evangelischen Kirche gelingen könnte, irgendwie in sieghafte Konkurrenz mit diesen Mächten zu treten. Einige unter uns geben die Hoffnung nicht auf; aber es gehört wohl zu den Kennzeichen der protestantischen Glaubensüberzeugung, daß sie kritisch und individualistisch,und ökonomisch deshalb hilflos bleibt. Die Arbeitsweise der protestantischen Kirche kann ja aus zwei Gründen auch garnicht dieselbe sein, wie die der dreifachen Internationale: bei jenen drei Mächten handelt es sich immer um eine Art von Materialismus (denn auch Rom verwechselt die seligmachende innere Zugehörigkeit zum Reiche Gottes mit der zu einem äußeren Reiche, dessen seligmachende Kraft es nur fälschlich behauptet); der evangelische Glaube aber ist Idealismus und kann deshalb nicht mit Geld geschaffen werden (Matth. 6, 33 will in seiner Prämisse und Folgerung verstanden sein!)

Und dann: der "Idealismus" hängt immer untrennbar zusammen mit "Individualismus"; er kann seine Kräfte nicht so zusammenballen, wie der Materialismus, um wirksam zu werden, es mit dem Gelde tun muß. Die protestantische Kirche ist deshalb nach meiner Überzeugung ganz auf den Idealismus des Herrnwortes gestellt: "Die Wahrheit wird euch frei machen!" oder, was dasselbe sagen will, "Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit!" Es darf uns niemals angelegen sein, durch äußere Macht auf unsre Volksseele Einfluß gewinnen zu wollen. Wir haben einfach in aller Gewissenhaftigkeit die evangelische Wahrheit zu erkennen und so zu verkündigen, daß auch der modernen Menschenseele ihre Kraft und Herrlichkeit fühlbar wird. Und wenn es sich um Zusammenballung unserer Kräfte handelt, so kann dies nur in der Richtung Erfolg haben, daß wir gemeinsam die besten Methoden und die besten Resultate der Wahrheitsverkündigung suchen. Gemeinsam. Die Einzelbekenntnisse der Kirchen müssen sein. Gott prägt seine einige große Wahrheit im endlichen Menschengeschlechte auch nur durch einzelne Kirchen-Individualitäten aus. Aber es wäre ein Unheil, wenn die Individualitäten sich voneinander abschließen, ja als Ketzer einander ausschließen wollten. Ich hoffe sehr Großes von den Kirchen-Einigungs-Unternehmungen, wie sie innerhalb Deutschlands in weitgehender gesetzlicher Festlegung im Deutschen Evangelischen Kirchenbundestag und Kirchenbunds-Ausschuß zur Wirklichkeit geworden sind, und wie sie für die ganze Welt in Stockholm 1926 (for life and work) und in Lausanne 1927 (for faith and order) sich begründet haben. - Mit Spannung und Sorge begleite ich die Entwicklung des Reichsschulgesetzes, das ohne Zweifel für unsere deutsche Zukunft von entscheidender Bedeutung sein wird.

Mein persönliches und mein Familien-Leben seit meiner Übersiedlung nach Leipzig

Wenn ich von so allgemeinen Gedanken zu den Alltäglichkeiten meines kleinen Lebens zurückkehre, so muß ja wohl das erste die Erinnerung an den Ausgang des furchtbaren Weltkrieges sein, der je länger je mehr unser ganzes tägliches Leben bestimmt hatte. Wir merkten es kaum noch, daß wir Kriegsmenschen geworden waren; aber bis zum täglichen Küchenzettel herab war der Krieg das Thema aller Gefühle. Schließlich mußte ja alle verfügbare Nahrung für unsere Truppen bereitgehalten werden, und Schmalhans wurde Küchenmeister in einer nie vorausgesehenen Weise. Unsre Predigten und seelsorgerlichen Handlungen waren, innerlich wenigstens, ganz von den Eindrücken gestaltet, die uns die Zeitungen, die Extrablätter und Ereignisse im engeren oder weiteren Bekanntenkreise grausam nahebrachten. Und dabei wurde es sowohl von uns Predigern als von unseren Zuhörern drückend empfunden, daß wir so garnichts Neues, Erlösendes und Befreiendes mehr zu sagen hatten. Es lag eine entsetzlich dumpfe Stimmung über unserem deutschen Leben.

Ich möchte dieses allgemeine Erleben durch ein Bild persönlicher Eindrücke schildern. Von 1916 an habe ich meinen Urlaub regelmäßig bei den Geschwistern in Freiburg zugebracht, bei denen es seit dem jähen Tode unseres lieben Heinz ja auch so anders geworden war. Im Sommer 1916 und 17 habe ich in Freiburg öfter die Bombenangriffe der französischen Flieger miterlebt. Einmal flog ein solcher eine Stunde lang in fast greifbarer Nähe über dem Schnellzug, in dem ich von Heidelberg nach Freiburg fuhr. Da wurde es mir bis zur Krampfhaftigkeit persönlich fühlbar, was diese - 4 Jahre lange! - ununterbrochene Todesbedrohung für uns alle bedeutete. Auch die nächtlichen Konturen der Vogesen, die man von Freiburg aus so herrlich sieht, die aber jetzt in jeder Nacht vom roten Feuerscheine sich abzeichneten, verstärkten das furchtbare Bild.

Endlich wurde der Schrecken, der endlos schien, durch das Ende mit Schrecken abgelöst. — Ich glaube, ich nütze meinen Kindern, wenn ich das, was uns allen damals von Gott auferlegt ward, mit den Farben meiner ganz persönlichen Erlebnisse des 9. November 1918 ausmale. Selbstverständlich wußten wir, daß uns Schweres bevorstand. Die letzten 2 oder 3 Monate waren ja nur noch ein Siechtum gewesen. Aber - wenn das Furchtbare dann da ist, kommt es einem doch wie etwas ganz Unerwartetes nahe.

Die Frühpost brachte mir einen Brief von meinem Hans, der etwa so lautete: "Erschrick nicht, aber ich bin krank geworden und muß mich einem Lazarettzug anvertrauen. " - Um den persönlichen Schrecken durch den allgemeinen zu vergessen, ging ich auf die Straße und las die angeschlagenen beängstigten Extrablätter. Ich traf Geheimrat Professor Rendtorff, der in gleicher Sorge um einen Sohn stand wie ich selbst, aber sich und mich zu trösten suchte mit den Worten: Was ist unsere kleine Not gegenüber der unseres Vaterlandes und unseres --- Kaisers! Als ich wieder zu Hause war - ein Klingeln des Telefons, und meine Kusine Helene Zenker geb. Dumas rief nur die kurze Frage: willst Du unseren Wolfgang begraben?

Auf diesen Neffen Wolfgang Zenker, Paul Zenkers 2. Sohn, darf unsre Familie stolz sein! Am 4. November war die Marinetruppe, welche die Revolution angefangen hatte, im Kieler Hafen auf das Flaggschiff "König" gekommen - die treuen Offiziere und Mannschaften fieberten danach, endlich zur Entscheidungsschlacht gegen England auslaufen zu dürfen - und hatte die Niederholung der ruhmvollen deutschen Kriegsflagge und die Hissung der roten Flagge gefordert. Der Kapitän des Schiffes, Weniger, ein Leipziger von Geburt, hatte dies verweigert. Ohne weitere Widersetzlichkeit waren die Revolutionäre abgezogen mit der drohenden Ankündigung, am nächsten Morgen würden sie ihren Wunsch sich durch Gewalt erfüllen.

Und Wolfgang Zenker war zur Nachtwache bestimmt und hatte beim Hissen der Flagge, ½ 8 Uhr des nächsten Morgens, auf der Flaggenbrücke zu stehen. Er wußte also, daß diese Drohung sein Todesurteil war! Er hat seine Nachtwache mit ergreifenden Briefen an Eltern, Geschwister und Freunde ausgefüllt, - und als ½ 8 Uhr am 5. November die Reichsflagge stieg, krachten vom nahen Ufer her die Schüsse, von denen der eine den Kapitän Weniger und der andere unseren Wolfgang traf.

Wolfgang ist nicht gleich tot gewesen, sondern erst am 8. November abends gestorben. Ich habe 5 Tage danach hier auf dem Leipiger Südfriedhofe mit stolzer Trauer meine letzte Verwandtenpflicht an ihm vollzogen. - Merkt Euch, meine Kinder, daß auf seinem Grabmal ein Wort aus seinem letzten Briefe steht: "Es ist nicht nötig, daß wir leben, aber es ist nötig, daß wir unsere Pflicht tun". - Der Vater hat die furchtbare Anklage daruntergesetzt: er starb von einer deutschen Kugel.

Wieder trieb es mich auf die Straße, und gegen halb ein Uhr stand auf den Extrablättern: Der deutsche Kaiser hat seiner Krone entsagt und wird seinen Aufenthalt in Holland nehmen. Die Empfindungen, die dieser kurze Satz in uns auslöste, sind erst in langen Monaten danach uns wirklich deutlich geworden. Damals haben wohl viele Tausende von deutschen Christen nur an das eine Wort der Bibel denken können: er trug sein Kreuz.

Hans Zenker 1894 - 1952

Wie schlafend schloß ich meine Türe auf — und sehe die Soldatenmütze meines Hansjungen hängen, und Mutter sagt mir mit der Freude, die an diesem Tage noch eine persönliche Empfindung auslösen konnte: Hans liegt ganz munter unten in seinem Bett, er hat allerdings 40 Grad Fieber, aber behauptet, das sei nicht so schlimm. Und so kniete ich denn an dem Bett meines nach so unendlichen Gefahren heimgekehrten Sohnes!

Er war mit dem Lazarettzug (mit der Bestimmung nach Kattowitz i. Schlesien) nach Deutschland befördert worden, hatte von seinem Bett aus auf der Leipziger Umgehungsbahn die Türme seiner Heimatstadt erkannt, sich schnell angekleidet und war einer Revolutionstruppe entgegengelaufen, die sich damit beschäftigte, den Offizieren die Achselstücke und die Ehrenzeichen von der Uniform zu reißen. Dem hatte er sich entziehen können, indem er in eine Gemüsehandlung eingetreten war, und die Händlerin hat ihm die geliebten Offiziersabzeichen und Orden vorsichtig und liebevoll abgenommen. In einer Droschke ist er von Wahren aus hierher gekommen - und brauchte doch 3 Wochen zur vollen Gesundung. Aber - Gott sei gedankt! - er ist uns wiedergeschenkt worden.

Der Sohn einer kranken Mutter hatte uns doch sein ganzes Jugendleben lang wegen seiner körperlichen Zartheit viel Sorge bereitet; es ist ein Wunder, daß er die 4jährigen Strapazen des Weltkrieges - erst in Rußland und dann die längste Zeit hindurch im Dreck von Frankreich, auch mit einer nicht unbedeutenden Verwundung am Knie - so überstanden hat, daß wir ihn jetzt als einen gesunden Mann ansehen dürfen. Und ich brauche mich meines väterlichen Stolzes doch nicht zu schämen, wenn ich Hans jetzt als einen stattlichen Menschen im bürgerlichen Frack, hinter dessen Klappe der Heinrichsorden, das Eiserne Kreuz, der sächsische Albrechtsorden und auch das E.K.I hervorschauen, freudig ansehe.

Dieser furchtbare 9. November 18 hatte noch einen entsetzlichen, wenn auch zugleich nach andrer Seite erfreulichen Abschluß: seit mehreren Wochen wußten wir nichts mehr von Rudi und seine Hertha hatte uns ihre Angst geschrieben, daß er vielleicht schon tot sei! Da klingelt es heftig und der Vermißte steht vor uns! In schlotterndem, fremdem Civil! Fast wortlos stürzt er in die Eßstube, wirft den Kopf in die Arme auf dem Tisch und schluchzt lange, lange wie ein gezüchtigter Knabe um das verlorene und entehrte Vaterland!

Erst spät am Abend hat er uns den erschütternden Vorgang erklären können. In Cattaro war, wie überhaupt bei der Marine, die Revolution schon früher ausgebrochen. Mangels aller Befehle hatte er sich endlich entschlossen, seine Treugebliebenen durch das brennende Österreich in die Heimat zurückzuführen. Am Morgen des 9. November erreichte er die sächsische Grenze und sah sich verlassen und in der Uniform eines höheren Offiziers dem Mord und Totschlag ausgesetzt. Jetzt war es heldischer, in Verkleidung seine Kräfte dem Vaterland zu erhalten, als sie der Schande zu opfern, - so war er zum Pfarrer in Reichenbach gegangen und hatte von diesem (dem jetzigen Superintendenten Franke in Löbau) einen alten Anzug erhalten. Seine Soldaten hatten auf eigenen Wegen ihre Rettung gesucht.

Das war der 9. November, der Anfang einer neuen Zeit - wie in der ganzen Welt so auch besonders für unser unglückliches deutsches Vaterland. Von den politischen Ereignissen, welche selbstverständlich unser ganzes tägliches Leben wie eine Hochflut umrauschten, will ich hier nicht mehr viel sagen, das wird uns in Geschichtsbüchern aufbehalten bleiben. Die Umwandlung eines monarchischen Staatengebildes in eine Demokratie und zugleich in eine solche, die von der sozialistischen Phantastik ihre Richtung erhält, ist auch ein so seltsames und doch gewaltiges Ereignis, daß der beurteilende Verstand davor zunächst einfach stillesteht. Wir haben uns drein finden müssen, die schweren Bedenken zu erkennen, die auch gegen die monarchische Staatsform bestehen. In der Bismarckschen Ära und unter unserem Kaiser Wilhelm I. zeigte sie sich immer nur im höchsten Glanze. Aber nach der kurzen Leidensregierung des Kaisers Friedrich ist mit Wilhelm II. eine Zeit gekommen, die immer mehr als eine Zeit der Überhebung, der nationalistischen Eitelkeit und Hohlheit sich entwickelte. Mehr scheinen als sein wurde der mehr oder weniger verhüllte Wahlspruch der führenden Klassen, und der Monarch hat dem leider Vorschub geleistet, statt ihm als ein wahrer Vater seines Volkes zu widersprechen. Wohin das führen mußte, haben wir ja nur allzu grausam erlebt.

In einem solchen Volke wird auch die Religion zum falschen Schein und zum Deckmantel der Selbstverliebtheit. Ich halte es heute für einen Segen Gottes, daß wir gedemütigt worden sind, und daß Seine Fügung unser ganzes Volk zwingt, sich auf sich selbst zu besinnen und nach und nach die Kräfte zu erkennen, auf welche es sich tatsächlich stützen muß. Schließlich ist die demokratische Staatsform doch die richtige, ich möchte sagen die, auf welche die geschichtliche Entwicklung hindrängt. Ein Volk muß zur Persönlichkeit sich emporringen, und eben an der Art, wie es ringt und ob es sich durchringt, muß sich sein Schicksal entscheiden. Entweder es findet sich selbst und findet seinen Gott, dann wird es bestehen - oder es bleibt kindisch und eitel und damit gottlos, dann erlebt es rettungslos das, was Spengler als eine philosophische Notwendigkeit in seinem "Untergang des Abendlandes" bezeichnet hat.

Ich meinerseits glaube nicht an diese automatische Notwendigkeit. Ich glaube, daß Christus an alle Völker die Schicksalsfrage stellt -, die Schicksalsfrage, die eben mit einem "hier bin ich, Herr!" das Heil eines Volkes wie jedes Einzelnen und mit seiner Zurückweisung das Unheil herbeiführt.

Die nächsten 50 Jahre werden über Deutschlands Schicksal entscheiden, und mein Herz zittert bei dem Gedanken, daß das auch das Schicksal meiner Kinder sein wird. "So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen!" Meine Kinder, vergeßt den ungeheuren Ernst dieses Gottesspruches nicht.

Da ich nun so unwillkürlich auf die Schicksalsfrage meiner Kinder gekommen bin, will ich denn zunächst am Schlusse meiner Erinnerungsblätter von meinen Kindern reden. Ich tue dies mit dem Geständnis, daß je länger je mehr ihr Lebensglück oder -Unglück das innerste Empfinden des Vaterherzens beschäftigt.

Mein Hans hat nach der Rückkehr aus dem Kriege sein theologisches Studium fortgesetzt und beendet. Aber der Krieg hat in ihm eine merkwürdige Wandlung seines Wesens hervorgebracht. Der früher zum theoretischen und grundsätzlichen Nachdenken und Grübeln allein geneigte junge Mensch ist als Willensmensch und als einer, der nur noch die höchste Aktivität zu schätzen wußte, heimgekehrt. Heute ist wohl der Ausgleich zwischen seiner ursprünglichen Anlage und dem im gewaltigen Geschehen eingewurzelten neuen Charakterzug erfolgt.

Das Kandidatenexamen hat Hans nur notgedrungen noch abgeleistet. Schon vorher hatte er sich der hiesigen christlichen Arbeiter-Gewerkschaft angeschlossen, von der er sogar ein Jahr lang in das Leipziger Stadtverordnetenkollegium entsendet wurde. Dann bot sich ihm der "Hausrat", Gesellschaft für gemeinnützige Möbelversorgung an, und seit einer Reihe von Jahren leitet er die Zweigstelle in Dresden. Von den mannigfaltigen Aufgaben, die im Verkehr mit Arbeitern und Kunden nicht selten auch seelsorgerlicher Natur sind, ist er sehr befriedigt, und wirtschaftlich trägt die Sache ihn und seine kleine Familie.

Dem oft gehörten Bedauern seiner und meiner Freunde, daß er nicht im kirchlichen Dienste sein Glück gefunden habe, darf ich als Vater doch entgegenhalten, daß ich auch bei seiner selbstgewählten Lebensführung den Satz glaube anwenden zu dürfen: "Der Gerechte lebt seines Glaubens!" In diesem innersten Sinne bin ich mit ihm doch immer zufrieden geblieben, wenn unser beiderseitiger Glaube auch in seiner Ausprägung bis heute noch weit auseinander geht.

Ein ernster Sucher nach der Wahrheit des Lebens ist mein Hans, und deshalb gehört ihm mein Vertrauen, womit meine innerste Hoffnung wohl völlig Hand in Hand gehen darf, daß sein und der Seinigen Innenleben sich noch mehr mit dem lebendigen Christus vereinigen lerne, als dies heute der Fall ist.

Nach verschiednen Strebungen, die uns zweimal auf den Gewinn von lieben, wertvollen Schwiegertöchtern hoffen ließen, hat er sich im dritten Fall entgiltig entschlossen und uns in unsrer Erna oder, wie wir sie nach Hansens freier Bestimmung zu nennen haben, Sibylle, geb. Tietze, eine Schwiegertochter zugeführt, der wir unser ganzes Herz haben öffnen dürfen, und der ich für ihre zarte, rücksichtsvolle und vertrauende Tochterliebe wirklich von ganzem Herzen dankbar bin. Nun reift auch schon ein kleines Enkelkind, Hans-Christoph, dort heran und, Gott sei Dank, mit aussichtsvollen Gaben. Christoph war der Name des ersten Zenker, der in unserem Stammbaum steht.

Ich wünsche in der Tiefe meiner Seele, daß mein Enkelkind ein wirklicher Christophorus werde!

Marianne "Nanna" Schweitzer geb. Zenker 1898 - 1991

Nanna haben wir nicht mit nach Leipzig nehmen können. Sie war wohl 1916 noch in ihrer Gärtnerlehre in Lünzen in der Lüneburger Heide und besuchte dann einige Jahre lang die Gartenbauhochschule in Pillnitz, von der sie mit einer guten Zensur nach Hause kam. Ihren Aufenthalt hat sie zu unserer dankbaren Freude damals bei Max Rügers haben dürfen, die ihr die treuesten Pflegeeltern gewesen sind.

Nanna kam, wie ich schon erzählt habe, verlobt nach Haus. Sie hat ein paar Jahre bei uns zugebracht und ihre Ausstattung besorgt, ist oft auch in Freundeshäusern sehr liebevoll aufgenommen worden, z.B. in Hannövrisch-Münden bei den Geschwistern und vor allem bei "Mutter Kiendl" in Berchtesgaden, dieser uns durch unsre Nichte Nessi nahegekommenen und so überaus wertvollen neuen Verwandten.

Am 18. Juni 1927 hat sich unsere Nanna aus dem selbstgezogenen Myrthenstöckchen ihren Brautkranz gewunden -, und aus Oberursel bei Frankfurt am Main, wo Otto Schweitzer als Gartenarchitekt bei der Firma Müllerklein eine gute Stellung einnimmt, kommen - Gott sei Dank! - immer nur glückliche Briefe.

[Helene wurde 1920 als "Kriegskind" nach Schweden geschickt um sich zu erholen und ernähren. Dort wurde sie von meinen Großeltern empfangen. Später in den 30er Jahren hat sie Onkel Henning geheiratet, den Bruder meiner Großmutter. Dadurch haben auch meine Eltern sich kennen gelernt. - Hier ist ein Dankbrief von Walther Zenker am 30. Mai 1920 geschrieben. /SZ]

Unsere Helene hat mit 19 ½ Jahr das Abiturium an der Studienanstalt unserer Höheren Töchterschule gemacht, auf die sie von unserem Einzug in Leipzig an gekommen war. Sie hat uns durch ihr innerlich stilles, gleichmäßiges und anmutiges Wesen immer nur Freude gemacht und muß uns doch, eben jetzt ohne ihre Schuld allerlei Sorge bereiten, weil sie mit ihrem Berufsschullehrer-Studium das Versuchskaninchen für die uns höchst zweifelhaft erscheinenden Tendenzen der modernen Lehrerbildung ist.

Helene mit Märta und Erik af Sillén um 1920
Helene Tiblin geb. Zenker am 21. Juni 1925


Wir haben Grund zu der Sorge, daß diese Tendenzen auf Abwege führen müssen, weil "wissenschaftliches Studium" zur Vorbereitung einer Technik - und das ist die Berufsschularbeit - eine ungeheure Versprengung der Kräfte bedeutet, und bei Einhaltung der höchstens zur Verfügung stehenden Zeit auch einfach ein unwahrer Deckname ist. Das wissenschaftliche Studium der mindestens 15 notwendigen Prüfungsfächer würde ernst genommen nicht 8 sondern 20 Semester fordern. Das macht uns denn jetzt einige Sorge, umsomehr als Helenchens Geist der echt fraulichen Praxis mehr zuneigt als dem wissenschaftlichen Intellektualismus.

Hier muß das Gottvertrauen immer wieder dem Herzen zur Beruhigung dienen. Aber was wäre ich auch für ein Christ und Pastor, wenn ich dies nicht ernstlich festhalten wollte und könnte.

Von meinem Gerd kann ich mit wenigen Worten berichten. Der stille Junge hat in den unteren Klassen seines Carola-Gymnasiums nicht gerade Treffliches geleistet. Wir Zenkers lassen uns nicht gerne schieben und bocken gegen fremden Willen auf. Wir wollen dem dienen, was wir als gut und richtig verstanden haben. Das ist bei mir schon so gewesen, wenn nicht schon bei den Vorfahren, und das muß auch bei meinen Kindern nun geduldet werden. Jetzt höre ich zu meiner Freude, daß die Lehrer mit dem Unterprimaner zufrieden sind, ein Lob, das unser wortkarger Gerd mit dem Urteil quittiert hat: es geht mir eben wieder gut, seit ich nicht mehr zu arbeiten brauche.

Dabei arbeitet er aber doch recht ordentlich, vielfach freilich auf selbstgewählten Pfaden. In der Elektrizität, im Englischen und jetzt auch im Spanischen hat er sich, woweit ich sehe, schon recht erfreuliche Kenntnisse angeeignet. Ich hoffe, daß mein Junge seinen Weg machen wird, und das tröstet mich sehr bei dem Gedanken, daß ich vielleicht nicht mehr lange imstande sein werde, für die Mittel zu seiner Ausbildung zu sorgen.

Und nun Du, mein liebes letztes Kind, meine Hertha. Ich hoffe, daß die mancherlei Nöte, die Dein junges Gemüt sich selbst and auch den Eltern bereitet, aus derselben Wurzel stammen, die soeben bei Gerd von mir bezeichnet worden ist. Aber unser liebstes jüngstes Kind scheint von seinem Schöpfer in der Tat eine Last mit ins Leben bekommen zu haben, die nicht sehr vielen Menschen in gleichem Maße auferlegt wird. Ich meine: In ihr kämpft miteinander zweierlei Geist. Vielleicht, daß die Eigentümlichkeiten, die gerade den Vater und die Mutter unterscheiden, und die wir im täglichen Leben unserer Ehe auszugleichen haben, in ihrem Gemüte gleich stark veranlagt sind. Jedenfalls muß unser Herthakind um innere Einheit ringen, und mein Gebet für sie ist, daß heiliger und bewußter Wille die Triebe überwinde, welche sie zum Aufbegehren und Widerspruch gegen die nun einmal uns allen gesetzte göttliche Ordnung reizen. Möge sie sich immer sagen, daß dankbare Liebe zu Gott und selbstlose Liebe gegen die Menschen die einzige Grundlage sicheren Lebensglückes bereitet. Dabei soll sie aber wissen, daß solche starken Eigenschaften der Seele, wenn sie sich auch widersprechen, einen inneren Reichtum bedeuten, und sie ihr Vorhandensein durchaus nicht als Übel zu betrachten hat. Ja wissen soll sie, daß ich eben diese Kämpfe in der Seele ihres Großvaters Ackermann immer besonders bewundert habe, aber freilich auch deswegen, weil bei ihm die wahrhaftige Liebe zu seinem Herrn und Heiland zur wirklichen Selbstüberwindung geführt hat.

Hier in Leipzig schien uns nicht der rechte Boden gegeben zu sein, auf dem unsere Hertha den für sie notwendigen Kampf im Inneren ausfechten könnte. Wir mußten erkennen, daß sie innere Stille und Ordnung braucht, um mit sich fertig zu werden. Wir haben sie deshalb Michaelis 1927 in das Töchterschulheim nach Herrnhut gebracht, zugleich durchdrungen von der Überzeugung, daß ein wahrhaft frommer Geist, eine wahrhafte Heilandsliebe nirgends besser gepflegt wird als dort. Es ist uns schwer geworden, unser Kind in fremde Hände zu geben und nicht mehr täglich zu sehen; wir fühlen ja auch, daß es ihm selbst nicht leicht wird. Aber sehr viele Menschen, die entweder selbst früher in Herrnhut waren, oder die ebenso wie wir ihre Kinder dorthin gegeben hatten, bezeugen, daß sie alle dort sehr glücklich waren. So hoffen wir von Herzen, daß die Herrnhuter Zeit auch in unseres Kindes Gemüt einst einen schönen Glanz hinterlassen wird, wenn sie längst kein Kind mehr ist.

Wir leben in Leipzig recht ungesellig, wie man das so bezeichnet. Meine Elisabeth trägt ja den Drang nach Einsamkeit in sich, bei mir ist das wohl weniger der Fall, und genau genommen kann von Ungeselligkeit in meinem Leben auch keine Rede sein. Ich sehe täglich sehr viel Menschen und Gott sei Dank auch viele, von denen ich persönlich etwas habe. Meines lieben Kollegen Rietschel Wort will ich hier gerne festhalten, der einst zu mir sagte: Sie können wirklich wie der Psalmist sich beklagen "wir bringen unsere Tage zu wie ein Geschwätz". Aber eben wenn ich aus den mannigfaltigen Verhandlungen und Aussprachen, die mein Amtsleben mit sich bringt, einmal auftauche, dann sehne ich mich nach arbeitsamer Ruhe, denn so darf ich meinen eigentlichen Wunsch bezeichnen.

Wenn ich genug geschlafen habe - das Maß dafür ist in den letzten Jahren recht wechselnd gewesen - dann brauche ich andre Ausruhezeit kaum. Aber Stille möchte ich haben, um meiner Erkenntnisarbeit ruhiger und erfolgreicher nachgehen zu können! So liegt mir denn garnichts an Abendgesellschaften oder Theater und Musik, da ja doch die Vereinsarbeiten und Sitzungen so wenig Abende freilassen. Ich bin glücklich, wenn ich von 9 -12 Uhr am Abend mich noch mit meinen Büchern beschäftigen kann. Und es ist mir, als müßte ich einmal hier denen meinen Dank sagen, die mich in den letzten Jahren besonders beglückten. Barths Römer- und Corintherbrief, Dibelius: Jahrhundert der Kirche, Althaus: Letzte Dinge, Karl Holls Lutherband, ganz besonders mit seinem Aufsatz über die Rechtfertigungslehre, am allermeisten Luthers "unfreier Wille" und nun zuletzt sein Römerbrief von 1515 und viele Aufsätze in der "Christlichen Welt" und in der "Zeitwende" sind mir ein wahres Labsal gewesen.

Eine Erscheinung, die weite Kreise bewegt, ist auch für mich sehr wichtig geworden, nämlich Spenglers "Untergang des Abendlandes". Dieses geistreiche Buch hat sehr viel Widerspruch gefunden und ist von manchen Gelehrten als oberflächliche Konstruktion abgelehnt worden. Ich habe es für eine Erkenntnis ansehen lernen, die bleibenden Wert besitzt, für eine Methode zur Weltanschauung, die mit schlagender Kraft in das Innerste der Dinge hineinführt. Ich glaube heute an den zwingenden Ablauf der nationalen Kulturpersönlichkeiten, aber von meinem Standpunkte aus mit einer großen Einschränkung. Spengler hat Christus nur als eine gewaltige Persönlichkeit im Rahmen der arabischen Kultur verstehen können; es zeigt sich eben hier wieder einmal, daß die Methode der strengen Wissenschaftlichkeit, nämlich daß nur natürliche Voraussetzungen gelten, ein Loch hat. Auch in der Wissenschaft muß das Wunder der Offenbarung seine ihm gebührende Beachtung finden. Christus ist nicht ein Mensch wie wir und nicht ein Held der arabischen Kultur. Er ist der Gottesmensch, der zur Erneuerung der Menschheit in diese Welt getreten ist. Ich bleibe deshalb bei der Glaubensüberzeugung, daß diejenigen Kulturen nicht untergehen können, denen Christus zur Seele geworden ist. Auch die Nationen stehen unter dem Worte - 2.Kor. 5, 17 - "ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur!" Aber freilich -, daß Nationen in Christo daheim werden, ist ein noch größeres Wunder als das der persönlichen Wiedergeburt. Und so, fürchte ich, wird es zuletzt bei Spenglers Gedankengang bleiben, und das Abendland wird in einem ernsten Ablauf, der auf das jüngste Gericht hindrängt, die erste untergehende Menschenmasse sein, die beim Hall der letzten Posaune vor den Richterstuhl gerufen wird - und aus der zum Leben hervorgehen, die in Christo sind.

Unser Verkehr, wie gesagt, wird wenig gepflegt, er beschränkt sich mehr oder weniger ganz auf die uns nahestehenden Verwandten. Solange die Töchter im Hause waren, kehrte mancherlei junges Volk bei uns ein, jetzt aber sind wir beiden mit unserem Gerd ein stilles Kleeblatt. Bis in diese Tage hat uns von Elisabeths Seite die Familie Schlurick sehr nahegestanden. Vor 1 ½ Jahr haben wir Onkel Hans begraben, und nun ist ihm auch die Tante Käthe nachgefolgt. So schließt sich wieder - und nun zum letzten Male - ein Haus der vorigen Generation, das uns viel Liebe geschenkt hatte.

Aus meinem Kreise bietet die alte Leipziger Vetternschaft uns immer einmal eine erquickende Stunde, wir sind da von großer Herzlichkeit umgeben. Von ganz besonderem Werte ist uns beiden die häufige Berührung mit der Kühnschen Familie. Christian Kühn mit seiner lieben Käthe wohnen in Albersdorf bei Leipzig. Er ist ein tüchtiger Direktor der Kulkwitzer Braunkohlenwerke. Ihre Kinder, Friedrich und Wolfgang, Brigitte und Bärbel, sind uns alle so lieb wie die eigenen. Unsere alte liebe Tante Mathilde lebt bei ihrem ältesten Sohne dort als eine glückliche und stolze Mutter von 84 Jahren -, und es ist eben der alte gute fromme Kühnsche Geist, der mit seit 60 Jahren Sonnenstrahlen auf den Weg geworfen hat, den ich und - Gott sei Dank - auch meine Frau und meine Kinder bei jeder Berührung mit diesem Hause noch genießen.

Für mich sind die alten Freunde, die ich nun freilich fast nur brieflich noch genießen kann, von altem bleibendem großem Wert. Mein Neuberg, jetzt Oberkirchenrat in Meißen, schreibt nach wie vor Briefe so reich an Geist und Inhalt, daß sie mir jedesmal etwas bedeuten. Dasselbe kann ich - in ganz anderer Weise freilich - von meinem Freunde Hans von Schubert sagen, der einer der fruchtbarsten wissenschaftlichen und populären Schriftsteller ist, welche Deutschland heute besitzt, den seine Regierung kürzlich inständig gebeten hat, trotz des nunmehr erreichten 69. Lebensjahres auf jeden Fall noch seine kirchengeschichtliche Professur in Heidelberg zu verwalten, und der mir mit seinem sprühenden, auf alle öffentliche Dinge aufmerksamen Geiste die mannigfaltigsten Anregungen bereitet.

Gemütlicherer Art sind Max und Anna Rügers Briefe, die gelegentlich auch von wohltuender Süßigkeit begleitet sind.

In diese Erinnerung an die Freundschaften, die ich pflege, gehört es nicht recht hinein, weil es anmaßend ist; aber ich kann es mir nicht versagen, hier niederzuschreiben, daß Hans von Schuberts intimer Freund, der Reichsgerichtspräsident und stellvertretende Reichspräsident, D. Dr. Walter Simons, auch mir persönlich nahegekommen ist und durch seine ebenso geist- wie gemütvolle, überaus bescheidene und doch so bedeutende Persönlichkeit mich bei jeder Begegnung innerlich beglückt. Er ist ein Beispiel jenes seltenen, wahrhaft edlen Liberalismus, der auf einem reinen, liebenden Vertrauen zur Menschheit und auch zu Gott beruht, und dem vielleicht doch die höchsten Früchte beschieden bleiben.

An äußeren Geschehnissen politischer und kirchlicher Art sind die Jahre seit der Revolution ja überreich gewesen. Wir haben die demokratische Weimarer Reichs-Verfassung bekommen und ebenso unsere Kirchgemeindeordnung und danach auch die sächsische Kirchen-Verfassung. Die deutschen Landeskirchen haben sich zu einem Kirchenbund zusammengeschlossen, dessen Arbeitsleistung nach dem jüngst erstatteten Bericht die höchste Achtung verdient. Die christlichen oder wenigstens protestantischen Einigungsbestrebungen der Kirchen, wie sie in der Allgemeinen evgl.-luth. Konferenz, in der Stockholmer Weltkonferenz und in dem "Konzil" von Lausanne hervorgetreten sind, erwecken große Hoffnungen, und es ist immerhin eine Freude, daß auf diesem Gebiete dem deutschen Geiste die Anerkennung der Siegervölker nicht versagt werden kann.

Ganz außer Verbindung mit diesem großen Streben ist auch mein persönliches Leben nicht. Es wirkt ja bis in das Arbeitsgebiet jedes Pastors und noch mehr des Superintendenten hinein. Aber freilich in diesem Augenblicke fühlt unsereiner noch mehr als die Freude an den weltgeschichtlichen Fortschritten der Kirche die tiefe Erschlaffung, welche ihr heute noch in dem Leben der Gemeinde anhängt. Kirchenaustritte und -gleichgiltigkeit erfahren wir in Leipzig mehr als genug. Und so sitzt einem ein Stachel im Herzen, daß man so wenig imstande ist, dem "alt bösen" Feind zu begegnen.

Vor 4 Jahren haben derartige Empfindungen bei mir wieder einmal zu einem rechten Zusammenbruch meiner Seele geführt. Ich mußte einen längeren Urlaub nehmen, weil mein Gehirn vollständig ausgelaugt war. In Bärenfels und dann in Freiburg fanden sich in 7 Wochen die Kräfte wieder. Das war aber nur die Wiederholung eines viel ernstlicheren Anfalls, den ich 1917 durchzumachen hatte. Die Kriegserregungen und die großen Umwandlungen meines Lebens im Wechsel der Ämter und Heimatorte hatten mich vollständig umgeworfen. Die Kräfte versagten gänzlich, und ich habe damals vom April 1917 bis in den Oktober 17 hinein die Freiheit nötig gehabt, bis ich mich wieder in das schwere Geschirre fand, das mein Doppelamt mir nun einmal auferlegt. Es war eine eigentümliche Erfahrung, daß ich auf der Heimreise von meiner letzten Station Freiburg aus noch immer sehr mit der Angst vor der Arbeit und den Menschen kämpfte. Ich glaubte, mein Geist sei nicht mehr fähig, mit geistig belebten Menschen sich je wieder zu messen. Da war es ein Besuch auf der Durchreise bei Schubert, der mir fast plötzlich das Selbstvertrauen wiederbrachte, und nach wenigen Wochen waren die dunklen Wolken, die ein halbes Jahr über mir gelegen hatten, wie von einem plötzlichen Sturmwind hinweggefegt, und ich sah wieder die Sonne. Solche Dinge sind - Gott sei Dank - nicht wieder an mich herangetreten; was ich vorhin erzählte, war dagegen nichts.

Nach der Rückkehr übrigens aus jener ersten Krankheitsperiode schenkte mir Gott eine besonders große Elastizität meines Geistes. Ich brauchte damals weniger Schlaf als je vorher, erwachte vollständig erfrischt zwischen 4 und 5 Ulr und durfte mir leisten, etwa 2 Stunden lang im Bett allerlei zu lesen, zu dem die Berufsarbeit mich sonst niemals hätte kommen lassen. Viele Monate lang habe ich damals ganz regelmäßig zunächst ein Kapitel der Bibel, wie ich es nach den Anweisungen der Brüdergemeinde auch haute noch tue, gelesen, danach ein Stück aus Luthers Schriften und endlich vieles aus Goethes, Schillers und Shakespeares Werken, - und ich schreibe das jetzt nieder, um als eine tiefe, wahrhaftige Erfahrung zu bezeugen, daß mir die alles Geistesleben der Menschen überragende Größe der Heiligen Schrift damals unbedingt gewiß geworden ist.

Etwas von dieser Leichtigkeit des Arbeitens ist mir - Gott sei Dank - bis heute geblieben. Für ganz selten kommen Zeiten der Müdigkeit, gewöhnlich darf ich bis um Mitternacht und dann auch wenigstens von 6 Uhr an vor und nach des Tages Last und Hitze mich an meinen Büchern erfrischen und fühle, daß das tatsächlich Erfrischung ist.

Es kam die Inflationszeit, ein merkwürdiges Erlebnis für uns Deutsche, das in unsere Lebensführung und in unsere Familienverhältnisse tief hineingriff. Über die Ursache der seltsamen Erscheinung wage ich nichts zu sagen, sie wird ja wohl auch heute noch von den Sachverständigen verschieden angesehen. Genug, wir lebten in der ersten Woche statt von 1 Mark - von 10 Markscheinen, in der zweiten von 100 - und in der vierten von Millionen, bis denn im November 1923 das Ausgabe-Buch Milliardenrubriken einrichten mußte und man ironisch auflachte, wenn man eine Streichholzbüchse mit 50 000 000.- bezahlte. Es war selbstverständlich ganz unmöglich, mit den Gehaltsberechnungen diesem Wahnsinn nachzukommen. Viele von uns gerieten in die bitterste Not, es mußte manches entbehrliche verkauft werden, damit man nur für die nächste Woche zu leben hatte.

Ich hatte, wie so oft, das große Glück, daß die in solchen Fällen stets einsetzende Energie meiner Elisabeth uns vor dem Schwersten bewahrte. Sie wurde zur Verdienerin, ging in die Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt und schuf sich dort durch ihre Intelligenz sehr bald einen sicheren Boden. Wir lachen heute noch manchmal darüber, wie ihre fliegende Energie mit dem Angstruf der Kollegen charakterisiert war: Achtung, Luftdruck! Sie mußten nämlich tatsächlich vor dem Luftdruck ihre Zettel und Papiere schützen, wenn Elisabeth vorüberging, indem sie sich mit beiden Armen darüberlegten.

So konnten wir wenigstens dies schwere Jahr hindurch uns und unsere Kinder ernähren und haben körperlich denn nicht allzuschwer unter der harten Zeit gelitten. Als freilich im Anfang 1924 die Befestigung der Geldverhältnisse eintrat, nicht ohne eine wesentlich geringere Kaufkraft des Geldes zu hinterlassen, da war Elisabeths schönes Vermögen dahin. Die Stabilisierung war ja nur mit einer sehr geringen Aufwertung der früheren Werte verbunden, und wir mußten uns nun darauf einrichten, ganz mit meiner verhältnismäßig verringerten Besoldung auszukommen, während wir bis dahin eine schöne Zubuße in Elisabeths Zinsen besessen hatten. Das Leben ist härter geworden, umsomehr als unsere Kinder heranreiften und die Ausbildungskosten sich stark vermehrten. Aber: der alte Gott lebt noch! Und ich hoffe, mein Haus unverschuldet zurücklassen zu dürfen, wenn ich einstens scheiden muß.

Es wäre übrigens sehr undankbar, wenn ich nicht auch hier wieder der großen, aufopfernden Hilfe gedenken würde, welche uns in jenen Notzeiten die Helfer geleistet haben. Unter der kräftigen Führung ihrer Oberhelferinnen sind sie von Haus zu Haus gegangen und haben um freiwillige Notbeiträge für die Kirche und speziell für unsere Gehälter gebeten, eine Hilfe, die trotz täglicher Wertverschlechterung doch für uns die Sorgen wesentlich erleichtert hat. Damals auch habe ich fühlen dürfen, daß ich in der Kirchgemeinde-Vertretung und überhaupt unter den Gemeindegliedern recht wertvolle Freunde habe. Ein dankbares Gedenken setze ich hierher für Ihre Excellenz Frau Präsident von Tischendorf. Seit langem bin ich sehr dankbar für die unvergleichliche Art, mit der sie unsrem Frauenverband vorsteht. Es ist überall eine Schwierigkeit in den Gemeinden, die kirchlichen Vereine von weltlicher Gesinnung und Vergnügungssucht fernzuhalten. Bei uns gelingt dies fast ohne jede merkliche Hemmung dadurch, daß eben Frau von Tischendorf mit dem tiefen Ernste ihrer gläubigen Gesinnung und zugleich mit einer großen Menschenliebe die Seelen derartig anfaßt,daß sie niedrige Wünsche ohne weiteres fallen lassen. Je länger je mehr ist Frau von Tischendorf mir auch eine herzlich verehrte persönliche Freundin geworden. Ich empfinde eine tiefe Freude bei der Erinnerung an manchen Austausch unserer Empfindungen und Gedanken, der das Verständnis füreinander ganz deutlich werden ließ.

Was die Führung der Vereine betrifft, so muß ich mich auch bei Herrn Schütze, dem Leiter des Männerverbandes, bedanken. Und schon ehe Frau von Tischendorf die Leitung des Frauenverbandes übernahm, war dieser durch den gewissenhaften Dienst von Fräulein Therese Guthe auf eine gute Bahn geführt worden. Das gütige Interesse, welches Professor D. Dr. Hermann Guthe, der geschätzte Alttestamentler, und seine Schwester an meiner Persönlichkeit genommen haben, gehört auch zu den Wohltaten meines hiesigen Lebens.

Und hier ist der Ort, daß ich einer der größten Freuden gedenke, welche mir mein Leben in Leipzig gebracht hat. Wohl sicher auf Antrag von Professor Guthe hat die theologische Fakultät in Leipzig mich am Reformationsfest 1921 zum Doktor der Theologie ehrenhalber gewählt. Die Tatsache, daß ich 1921 der Einzige war, den Leipzig mit dieser Würde bedachte, und das Elogium des Doktordiploms, das mich einen nennt, "der unserer Landeskirche seit Jahrzehnten als eindrucksvoller Prediger, als erfolgreicher Förderer des Gemeindelebens und als Freund kirchlicher Kunstbestrebungen wertvolle Dienste geleistet", hat mich so beglückt, daß ich hoffentlich nicht unbescheiden erscheine, wenn ich es wenigstens an dieser Stelle als eine besonders schöne Erinnerung für mein Leben niederlege. Ich hatte nicht entfernt daran gedacht, daß dieses Glück mir einmal zuteil werden könnte. Umso größer war die Freude, als am 30. Oktober der Professor der praktischen Theologie und damals der Dekan der theologischen Fakultät, Prof.D. Frenzel, mir das Diplom mit überaus gütigen Worten selbst überbrachte.

Ich bin denn nun in meiner Familie der 8. Doktor der Theologie, eine Tatsache, die in nicht sehr vielen Familien vorgekommen sein dürfte. (Großvater Chalybaeus, Oberhofprediger Kohlschütter, sein Sohn, Geh. Konsistorialrat Kohlschütter, Onkel Kühn, dessen Schwiegersohn, mein lieber Vetter und Freund Drews, der leider viel zu früh verstorbene, Onkel Heinrich Chalybaeus, der Präsident des Konsistoriums in Kiel und in Hannover, Vater Ackermann und ich.) Seitdem habe ich es wirklich als neuen Antrieb empfunden, daß ich dem Elogium in seinem dreifachen Hinweis nur immer besser gerecht werden möchte. Und ich hoffe, daß meine Gemeinde mir das Zeugnis gibt, daß mein Streben wenigstens nicht ganz umsonst gewesen ist. "Aber darinnen bin ich nicht gerechtfertiget" - 1. Cor. 4, 4.

Da ich mich durch diese Erinnerung veranlaßt gefunden habe, von meinem geistigen Leben zu sprechen, so muß auch noch ein dankbarer Rückblick auf die schönen Freizeiten geworfen werden, die ich nun 13mal in Freiburg habe verleben dürfen. Dort heißt es - Zasiusstraße 107 - von einem Zimmer, es ginge "der Geist des seligen Konsistorialrats" um. Und immer, wenn ich dahin zurückkehre, fühle ich auch, daß das "selig" seine eigene Bedeutung in Freiburg hat.

Diese liebe Gemeinschaft mit meinen beiden Geschwistern, dieses völlige Vertrauen und gemeinsame Erleben aller lebenswichtigen Dinge! Diese wundervolle Landschaft, drei Minunten von meiner Geschwister Hause entfernt beginnt der Schwarzwald, und wenn man will, kann man von dort aus tagelang wandern, ohne kaum je einen Menschen oder ein Haus zu treffen. Der wundervolle deutsche Wald, von dem man nicht weiß, ob man die Stellen mit den schwarzen Tannen oder die mit den lichten und starken Buchen und Eichen höherschätzen soll. Der Schwarzwald ist märchenhaft lieblich und heldenhaft stark zugleich. Wenn man vom Höllental zum Feldberg aufsteigt, erlebt man diese menschliche Sprache aus allen Arten der Schwarzwaldseele heraus ganz deutlich. Und wenn man das allerdings seltene Glück hat, vom Feldberg oder vom Belchenturm aus die Alpenkette zu schauen, dann jauchzt die Seele in der deutlichen Erfahrung, daß sie denn doch noch Flügel hat!

Und dieses liebe Volk dort ringsum! und die Stadt mit dem ewigen Dom! Man möchte immer wieder hinter das Geheimnis kommen, warum dies Volk so unendlich viel echter und liebenswürdiger erscheint als das bei uns. Ist es der Katholizismus mit seinen bunten Bildern? Er hat etwas von einer eignen Kraft, die Menschen kindlich zu erhalten; aber ich glaube, ich darf doch sagen: nein! erst Luther hat die deutschen Menschen wirklich wieder zu Gottes Kindern gemacht, wo er nur recht begriffen wird. Ist es der Rhein mit seinem Wein, der besonders drüben im Kaiserstuhlgebirge wirklich recht gut schmeckt und sicher zur Heiterkeit der Seele beiträgt? Ich glaube doch, daß der Professor Nestle von Maulbronn mit seinem Spaß ein tiefes Urteil über den Wert von Süddeutschland ausgesprochen hat: "Wir habe schon Spätzle gegesse, wie Ihr da oben noch Eichle gefresse ha't".

Das Alter und deshalb die tiefe Verbundenheit mit dem Christentum ist die Ursache von dieses Volkes Wert und verleiht ihm seine unendliche Anziehungskraft. Etwas von diesem Schimmer liegt auch auf den Hörsälen der Universität und auf dem Wesen der Professoren, mit deren vielen ich nun schon in persönlichem Zutrauen mich verbunden fühle. Ich habe im Kolleg gesessen bei dem katholischen Dogmatiker Krebs, beim Kirchenhistoriker Göller, beim Archäologen Sauer, die alle Priester ihrer Kirche sind und manchmal in Gesprächen, zu denen wir gekommen waren, mir nur allzu hellhörig schienen, ob nicht auch ein Laut von mir meine Sehnsucht nach Rückkehr in "die allein seligmachende Kirche" erhoffen ließ. Der protestantische Archäologe Dragendorff, der mittelalterliche Historiker und Wirtschaftsgeschichtler von Below, kürzlich gestorben, auch der Mediziner Aschoff sind mir im "Rappen" beim Weine wert geworden. Und namentlich den letzteren, aber auch nicht wenige andere Professoren habe ich auch als treue Kirchgänger und ernste Mitarbeiter in der Kirche schätzen gelernt.

Von Freiburg aus kehre ich jedesmal über den Bodensee und seit zwei Jahren über Berchtesgaden nach Hause zurück, und die Tage dort werden durch Freundschaft mit dem lieben Hause Kiendl und durch die unvergleichliche Landschaft jedesmal zu einem ganz besondren Feste. Ich bin meiner Nichte Nessi, der jungen Frau Kiendl, wirklich recht dankbar, daß sie mir ihre Schwiegereltern zu Freunden gemacht hat. Meine Nanna hat dort ja auch eine ganz besondre Heimat gefunden.

Und dies ist nun das letzte, wovon die persönliche Geschichte bis hierher zu berichten weiß. Meine Nanna hat - wie schon erzählt - am 18. Juni 1927 Hochzeit gehalten. Das war eine nicht bloß um ihrer Hauptsache willen köstliche Familienfeier! Wir haben jetzt so selten unsere Freunde um uns. Diesmal waren sie zu einem feinen, fröhlichen und auch - man darf wohl sagen - geistvollen Polterabend alle da, die Zenkerschen Geschwister, Kinder und Vettern ebenso wie die Ackermannschen und die lieben Leipziger Freunde. Ein ganz besonders feines Stückchen hatte Elisabeth gedichtet: die Hochzeitsreise in alter und in neuer Zeit. Gerd und Helene als Biedermeier in die Postkutsche steigend, nachdem sie ihr Menuett getanzt, - und dann der "Vetter", Gerhard Drews, der allbeliebte, mit Helenes Freundin Inge Starck, zwei Menschen, die es garnicht eilig genug haben konnten, in ihr Auto zu kommen.

Unser Gemeindesaal war gerade groß genug, um die Gäste zu fassen. Die Hochzeit haben wir dann im engsten Kreise gefeiert, und der Vater hat seinem Kinde in der Peterskirche drüben die Worte gesagt, die ihm sein tiefstes Herz erfüllten und für die er den rechten Ausdruck sich von seinem Herrn innig erbeten hatte. Der Trautext war Phil. 4, 4-7, den sich Nanna aus ihrer Gemütsart heraus erbeten hatte, und der zu meiner Freude mit dem Trautext meiner Eltern übereinstimmt, an den meine Mutter sich lebenslang so dankbar erinnert hat. Möchte er doch einen ebenso glücklichen und hoffentlich längeren gemeinsamen Weg beleuchten wie bei meinen Eltern! Die haben ihn Wort für Wort von sich aus bewährt und haben deshalb auch seine Bewährung von ihrem Gott erfahren. Ein mir altvertrautes liebes englisches Verswort hat sich auch an ihnen erfüllt: Wer IHM ganz vertrauet, findet IHN ganz treu!


Nun weiß ich nichts mehr zu erzählen. Ich stehe am Ende meiner Lebensgeschichte, soweit man sie heute aufschreiben kann. Das ist ein eigentümliches Gefühl; ganz unwillkürlich wächst das Fragezeichen der Zukunft zur Riesengröße empor: Was kommt nun? Mir ist, als ob Gott der Herr mich aufforderte, Rechenschaft von meinem Haushalten zu tun und mich mahnte, mich bereit zu halten. Und so erhebt sich die Frage ganz von selbst nach dem, was ich erreicht habe in meinem bald 64jährigen Leben und dem, was versäumt und verfehlt worden ist. Von dem letzteren darf ich vor anderen Menschenaugen schweigen. Das gehört ganz und gar unter das Wort des 51. Psalmes: "Gott, sei mir gnädig nach Deiner Güte, und tilge meine Sünden nach Deiner großen Barmherzigkeit". Aber eben diese unerläßliche Bitte soll mich dazu führen, am Schlusse dieser meiner Lebenserinnerungen noch mein Glaubensbekenntnis auszusprechen.

Die andere Frage - nach dem, was erreicht ist - kann sich zu allermeist ja nur auf den Menschen und Theologen in mir beziehen. Die äußeren Erfolge eines Menschenlebens sind immer klein und auch in ihrer Begrenztheit noch völlig abhängig von der Zeit und Umwelt, in der wir leben.

Ich will also Euch, meinen Lieben, für die diese Zeilen bestimmt sind, zunächst von meinem Glauben und dann von meiner persönlichen theologischen Erkenntnis reden und bitte Euch, im Blicke auf mich aber auch im Blicke auf Euch selbst einen deutlichen Unterschied festzuhalten zwischen christlichem Glauben und christlicher Theologie. Ich meine: Gott der Herr hat große seligmachende Tatsachen in dieser Welt geschehen lassen. Wenn sich diesen das Herz öffnet, sodaß es die Tatsachen von Gott ganz als persönliches Eigentum, als Lebenskraft erfasst, so nennen wir dies: Glauben. Die Erkenntnis der Tatsachen, der Versuch ihres Verständnisses muß ja nach der Persönlichkeit, die sich damit beschäftigt, wohl sehr mannigfaltig sein. Ich habe deshalb den Richtungsstreit, der in der Kirche leider eine so große Rolle spielt, nie recht verstehen können und immer weit von mir abgewehrt. Wir fordern von jedem Menschen als höchsten sittlichen Grund die unbedingte Wahrhaftigkeit. Wenn ich bei einem Menschen, der anders denkt als ich, von dieser seiner Wahrhaftigkeit überzeugt bin, so werde ich ihm stets mein Herz und meine Arme öffnen und es als eine Fügung empfinden, durch die mich Gott bereichern will, daß ich in eine so andere Geistesart hineinblicken darf, als die meine ist. Eine Stellungnahme, die selbstverständlich garnichts zu tun hat mit einer etwaigen Erweichung des eigenen Standpunktes. Jedem von uns hat Gott der Herr aufgetragen, die Wahrheit zu suchen und nach bestem Wissen und Gewissen Klarheit zu finden über das, was ein Christ für Wahrheit halten soll.

So sei denn zunächst

mein Glaubensbekenntnis

hier ausgesprochen. Ich könnte es ganz mit den Worten des Apostolikums wiedergeben, die ich in jedem seiner Sätze für lebenswichtig halte; doch ist's wohl auch etwas wert, wenn ein Mensch der Gegenwart es in seiner heutigen Sprache auszudrücken versucht.

1. Ich glaube, daß Gott mein Vater ist, daß er mich also lieb hat als sein Kind, lieb hat über all mein Verdienst und Würdigkeit und lieb hat ohne alle Einschränkungen zu jeder Zeit, in jeder Lage und in jedem Schicksal. Ich glaube, um dies zu verbessern, also nicht an ein blindes und grausames Schicksal. Ich glaube vielmehr bei allen Erlebnissen an Schickung, Fügung und Führung! Ich suche, es deshalb nur immer mehr und mehr zu lernen, mich der göttlichen Führung zu überlassen. "Ich will mich nicht mehr selber führen, der Vater soll sein Kind regieren, ich geh nicht einen Schritt allein".

2. Daß Gott mein Vater ist, glaube ich trotz aller schweren Erfahrungen, die dem zu widersprechen scheinen. Ich glaube es durch Jesum Christum. Ich glaube, daß Jesus Christus die göttliche Liebe für das ganze Menschengeschlecht und damit auch für mich in dieser Welt zur Gewißheit gebracht hat. Ich glaube, daß Jesus zu diesem Zwecke aus der Ewigkeit Gottes her in diese zeitliche Welt getreten ist. Der ewig bei dem Vater war, ist zur geschichtlichen Wirklichkeit geworden. Ich glaube, daß die Wunder Jesu ebenso wie seine Worte zum Erweis der göttlichen Liebe getan und gesprochen worden sind. Ich glaube auch, daß der heilige Gott mich armen Sünder ganz persönlich lieb hat und begnadigt. Ich glaube das deshalb, weil ich Jesum lieb habe. Das ist nicht mein Verdienst, sondern Gottes Gnade, daß er mich in diese Liebe hineingezogen hat; aber nun macht sie mich zu Jesu Bruder und deshalb Gott angenehm. Ich glaube, daß alles dieses durch die Auferweckung Jesu vom Tode vor unseren Augen als göttliche Wahrheit bestätigt worden ist. Und eben deshalb glaube ich auch an eine Verbundenheit der irdischen und der himmlischen, der sichtbaren und der unsichtbaren, der zeitlichen und der ewigen Welt, die meine persönliche Teilnahme an der Ewigkeit gewährleistet.

3. Das alles ist schon ausgesprochen und wird nur wiederholt, wenn ich weiter bekenne: ich glaube an den heiligen Geist. Ich glaube, daß Gott Geist ist und daß wir Menschen, zu seinem Ebenbilde berufen, bestimmt sind, Geist zu werden. Ich glaube, daß alles Leben eine Arbeitsleistung Gottes ist, die uns zu Geistern machen soll. Das Leben in der irdischen Welt dient unsrer sowohl leiblichen als auch geistigen Erhaltung und Fortpflanzung. Der Staat hat diesen Sinn, daß sich das alles in Ordnung vollziehe. Aber die Werkstätte des heiligen Geistes ist die Kirche. Ich glaube dankbar an eine innere Gemeinschaft der Gläubigen, d.h. derer, die vom ewigen Geiste geführt werden. Ich glaube, daß ich keine höhere Pflicht habe als die, mich eben von diesem Geiste führen zu lassen - bewußt und willig. Ich glaube, daß der allmächtige und gnädige Gott sein Werk nicht unvollendet lassen wird. Ich glaube deshalb, daß am Ende der Dinge eine neue Schöpfung stehen wird, und daß ich berufen bin, in dieser Schöpfung ein kleiner aber seliger Teil zu werden.

Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!


Etwas ganz anderes als der persönliche Glaube, wie gesagt, ist jede Theologie. Diese ist einfach die Auswirkung unseres intellektuellen Bedürfnisses. Zur Beherrschung unseres Lebens bedürfen wir der geistigen Klarheit. So suchen wir uns auch über den Inhalt unseres Glaubens klar zu werden, ihn nach Ursache und Wirkung, nach Zweck und Wahrheit zu verstehen. In jedem ernsten Menschen steckt ein Stück Theologe, wie in ihm auch sonst ein Stück vom Juristen und vom Geschichtskundigen und vom Philosophen steckt. Den Mann der Wissenschaft unterscheidet von den anderen nur die Gründlichkeit und das kritische Werkzeug seiner Erkenntnisarbeit. Es liegt aber in der menschlichen Natur, daß wir in unserem Werkzeug, das Gott uns verliehen hat, und das wir uns selbst nach Maßgabe der von Gott uns verliehenen Kräfte erworben haben, verschieden sind. Wir sind verschieden nach Maß und Mischungsverhältnissen unseres Verstandes, Willens und Gefühls und ebenso unserer Phantasie und Intuition. Es versteht sich deshalb von selbst, daß die Gedankensysteme, die wir uns bilden, also unsere Philosophien und Theologien ganz verschieden ausfallen müssen. Die seligmachenden Tatsachen sind uns gegeben; aber die Art ihrer Erfassung steht bei uns. So wollen denn meine Leser sich bei dem Folgenden gegenwärtig halten, daß es sich in diesen Darlegungen nur um

meine ganz persönliche Glaubensanschauung

handelt. Jede Theologie muß mit der Frage nach der Notwendigkeit der Religion beginnen. Die Frage ist praktisch notwendig. Die Moderne scheint ja zu einem sehr großen Teile sie verneinen zu wollen. Nichts weiter beschäftigt den Menschengeist als die Beherrschung der Erde und die Gewinnung ihrer Genüsse. Eine Beziehung zu Gott - wenn's einen gibt - könnte nur als Hemmung der eigentlichen Daseinsaufgabe empfunden werden. Ich muß wissen, ob diese Einstellung ein Irrtum ist oder nicht. Die Frage ist auch theoretisch wichtig. Gehört die Gottverbundenheit zum Menschentum oder kann man ein Mensch sein auch ohne Religion, d.h. ohne Bezogenheit auf Gott? Ich finde für mich als unumgängliche Antwort eine doppelte. Zunächst erkenne ich in dem, was Schleiermacher unsre "Schlechthinnige Abhängigkeit" nennt, den Grund für die religiöse Forderung. Wir Menschen fühlen uns zur Ausübung der Herrschaft über diese Erde geboren. Schon um uns zu erhalten, bedürfen wir ihrer Güter, die wir nicht ohne Anstrengung aller unsrer Kräfte gewinnen können. Aber eben dabei stoßen wir ununterbrochen auf Widerstand. Wir machen unleugbar die Erfahrung, daß es höhere Kräfte gibt, als wir sie selbst besitzen, und daß wir unsre Herrschaft über die Erde nicht ausüben können, ohne ein gutes Verhältnis zu jenen höheren Mächten zu gewinnen. Es gehört zu den höchsten Gewinnen der menschlichen Erkenntnisarbeit aus den vergangenen Jahrtausenden, daß wir das Weltganze uns nur als eine in sich geschlossene Einheit vorzustellen vermögen. So müssen denn auch die höheren Mächte, die über uns walten, in einem Wesen gipfeln, - und wir ahnen, daß jenes schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl sich eben auf dieses eine Wesen bezieht.

Die Notwendigkeit der Religion wird noch von einer anderen Seite her und hier noch tiefer begründet. Wir Menschen fühlen uns trotz unsrer sinnlichen und leiblichen Gebundenheit als Geister. "Vom Wesen des Geistes läßt sich immer nur mit ehrfürchtiger Ahnung sprechen. Aber daß er, diese - mit diesem kurzen Worte sei er beschrieben - "schöpferische Kraft", die unser Innerstes ausmacht, ein Ausfluß des Allgeistes sein muß, ist uns unmittelbar gewiß. Wir wissen, ohne daß unsere Verstandeskräfte zum Beweise zulangten, mit völliger Sicherheit, daß wir in unserem Edelsten verwandt sind mit Gott. Die Frage nach der Notwendigkeit der Religion findet so ihre zutreffende Antwort in dem Satze, mit dem Augustinus seine Bekenntnisse beginnt: "Gott, Du hast uns zu Dir geschaffen, und unsere Seele ist unruhig in uns, bis sie ruhet in Dir".

Die nächste Frage der Theologie ist denn nun die nach der Erkennbarkeit Gottes. Die theologische Wissenschaft kann der Mitarbeit an den erkenntniskritischen Fragen nicht entraten. Hier spreche ich in aller Kürze meine Meinung nur dahin aus, daß wir heute über Kants "Kritik der reinen Vernunft" weit hinaus sind. Wir wissen heute nicht nur, daß wir mit unsrer Vernunft nicht über die irdische Welt hinauszugreifen vermögen, sondern auch, daß wir in unserer Intuitionskraft das Instrument besitzen, in die irrationale - oder besser überrationale - Welt hineinzuleuchten. Die alten berühmten Gottesbeweise haben freilich keine andere Bedeutung mehr, als daß sie das Recht für die Annahme eines Daseins Gottes für die Vernunft begründen. Aber unsre Vernunft ist bestenfalls ein Regulativ für unser irdisches Denken, ganz gewiß aber nicht ein Instrument oder Fernrohr für das überirdische. Es ist jedoch dem Menschen gegeben, daß er vermöge jener Kraft, welche die einen das unmittelbare Gefühl, die anderen das Gewissen und wieder andere - zu denen ich mich zähle - die Intuitionskraft (Einfühlungs- oder Anschauungsvermögen) nennen, in die übersinnliche, ewige Welt einzudringen imstande ist. Dies freilich nur, wenn diese übersinnliche, ewige Welt sich uns auf irgend eine Weise offenbart; denn diese Voraussetzung ist mit dem Begriffe der Anschauungskraft ohne weiteres gegeben. Es gibt nun zweifellos eine doppelte Offenbarung Gottes. Man kann darüber verschiedener Meinung sein, ob die alte Unterscheidung von natürlicher und übernatürlicher Offenbarung die Sache trifft. Jedenfalls gibt es eine Offenbarung, die mit den Dichterversen bezeichnet werden kann: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" oder: "Jede sprossende Pflanze, Die mit Düften sich füllt, Trägt im Kelche das ganze Weltgeheimnis verhüllt". Ich denke dabei auch gern an ein Wort von Luther: Deus in ipso facto videtur. Die Intuitionskraft vermag, das Endliche und Vergängliche aus den Erscheinungen auszuscheiden und kraft der ihr innewohnenden Phantasie das Ewige, Göttliche mit einer gewissen Deutlichkeit vor sich aufzubauen. Jedoch nur eben mit einer gewissen Deutlichkeit. Die vollkommene Klarheit wird erst durch die unmittelbare Offenbarung erreicht, die uns in der geschichtlichen Erscheinung des Gottessohnes Jesus Christus geschenkt ist. "Wer mich siehet, der siehet den Vater!" - Ev.Johannis 14, 9.

Nun muß allerdings der Theologe auch die Frage beantworten, woher denn die vollkommene Offenbarung in Christo möglich und uns gewiß wird. Es liegt in der Menschlichkeit Jesu, daß auch er mit den Mitteln menschlichen Denkens Gott erkannt haben mußte. Wie ist angesichts dieser Tatsache das Wort von der unmittelbaren Offenbarung in Christo noch berechtigt? Auch hier wieder setzt der Intuitionsbegriff ein, und es tritt die wunderbare Wahrheit des Johannes vor Augen, die in den Worten sich ausspricht: "Wir sahen Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater!" Ich darf wohl diese Betrachtung mit einem Hinweis auf 1. Kor. 2, 10 schließen: "Der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit." Wenn Paulus dort fortfährt: "Welcher Mensch weiß, was im Menschen, ist, ohne der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also auch weiß niemand, was in Gott ist, ohne der Geist Gottes", so führt er eben den Gedanken der Intuitionskraft zu der ihm gebührenden Höhe empor. Wir Menschen werden kraft unsrer Intuition unserer Umwelt mächtig! Der Mensch, der vom Geiste Gottes erneuert ist, verwendet seine Intuitionskraft auch im heiligen Geiste und schaut, was in Gott ist. Auf diesem Wege gibt es eine Erkennbarkeit Gottes für den Menschen. - Freilich ein ernster Hinweis, daß nur ein wiedergeborener Mensch ein Theologe sein kann.

An dieser Stelle möchte wohl darauf hingewiesen werden, daß christliches Erkennen aber doch etwas wesentlich andres ist als christlicher Glaube. Wohl ist im eben Gesagten verdeutlicht worden, daß es ein christliches Erkennen ohne Glauben nicht geben kann; aber es bleibt dabei: das Erkennen ist die Sache unserer Geisteskräfte, der Glaube ist Sache des Herzens. Mit anderen Worten: die theologische Erkenntnis hat es einfach mit der Feststellung dessen zu tun, was ist. Der Glaube erfaßt den Wert, er fühlt die Bedeutung der Tatsachen für das Leben.

Ich habe die Beweise für das Dasein Gottes abgelehnt, unsere Intuitionskraft ist sich der Urtatsachen und damit auch dieser allergrößten unmittelbar gewiß. Die erste inhaltliche Frage der Theologie ist deshalb die nach dem Wesen Gottes. Darüber ist in den letzten Jahren viel gearbeitet worden. Wir wissen, wie ganz besonders Otto und in seiner Gefolgschaft wohl auch Barth und seine Schule den Namen des "heiligen" oder auch des "ganz anderen" in den Vordergrund gerückt haben. Ich bleibe bei Joh. 4, 24: "Gott ist Geist; und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten." Es gehört zu den Freuden der Erkenntnisarbeit, wie ich sie mit möglichster Treue zu leisten suche, daß die gesamten Wissenschaften und ganz besonders auch die heutige Naturwissenschaft vom Materialismus zum Idealismus in unverkennbarer Weise jetzt zurückkehren. Die neu-vitalistische Weltanschauung weiß etwas von einer alles bestimmenden Lebenskraft. In der Naturwissenschaft sind wir über die Annahme von Atomen zu der von Elektronen hinaufgeschritten und ahnen schon etwas davon, daß es Materie vielleicht überhaupt nicht gibt, sondern daß das, was uns als Stoff erscheint, vielleicht in Wirklichkeit nichts andres ist als eine geheimnisvoll zusammengebundene Masse von Kräften, von zweckmäßigen Kräften, womit denn das Allwalten des Geistes, das doch wohl mit dem Worte "denkende Kraft" definiert werden darf, auch in den empirischen Wissenschaftensein Majestätsrecht erhält. Für die Philosophie bleiben da freilich noch ungeheure Rätsel zu lösen. Wie die alles durchdringende, alles schaffende, denkende Urkraft - also wie der absolute Geist die einzelnen geistigen Centren bis hinauf zu dem doch offensichtlich mit einer gewissen Freiheit ausgestatteten Menschengeist neben sich oder unter sich duldet, das ist dunkel. Hier spielt aber auch immer wieder der alte erasmisch-lutherische Streit zwischen dem "freien oder unfreien Willen". Genug, ich erkenne Gott als den absoluten Geist und glaube, daß die Eigenschaften der Persönlichkeit, der Güte, der Allmacht, der Freiheit und der Heiligkeit mit diesem Namen umschlossen werden.

Die theologische Erkenntnisarbeit hat es aber, weil sie die Erkenntnis der Religion betrifft, nicht eigentlich mit dem Wesen oder Begriff Gottes zu tun, sondern mit unserem Verhältnis zu Gott. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen ist in der Eingangsbetrachtung wohl schon beantwortet worden. Wohl sind wir bestimmt, die Erde uns Untertan zu machen. Wirtschaft und Kultur - durch einen geordneten Staat gepflegt - sind die höchsten irdischen Aufgaben. Aber der Mensch ist zweier Welten Bürger, und seine irdische steht weit hinter seiner ewigen Aufgabe zurück. Wir sind "zu Gott geschaffen", der Zweck unsres Daseins ist, daß wir Geist werden, wie Gott Geist ist, in diesem Sinne Ebenbilder Gottes, schöpferische Wesen, welche durch Erkenntnis sich Ziele setzen, durch Liebe diese Ziele als Werte erfassen und durch Willen sie verwirklichen. Das Neue Testament hat zwei Ausdrücke für das Lebensziel der Menschen. Luther hat den beiden verschiednen griechischen Worten die gemütstiefe deutsche Übersetzung gegeben: Seligkeit (in den Seligpreisungen der Bergpredigt, Matth. 5) und: Gottseligkeit (1. Tim. 6, 6). Ich weiß nicht sicher, was das Wort seinem Stamm nach in der Bergpredigt bedeutet. Soviel ich weiß, spricht Homer mit diesem Wort von den "seligen" Göttern. Nach unsrem lieben Lutherausdruck ist's mir zweifellos, daß das Wort im Deutschen die völlige Erfüllung und Ausfüllung aller menschlichen Anlagen bedeutet. Die Silbe "sal" drückt den Reichtum oder die Fülle aus. Gottseligkeit heißt dann im engeren Sinne das Erfülltsein von Gott, die Gottesfülle des Herzens. Dazu sind wir bestimmt. Das ist aber nichts anderes als das, was soeben gesagt ward: wir sollen Geist werden wie Gott! Und es liegt auf der Hand, daß damit die vollkommene Freude erreicht wird, also das, was wir im letzten Grunde doch immer auch mit dem Worte "Glück" im Sinne haben.

Wir Menschen tragen aber das Rätsel in uns, wir sind von einem ungeheuren Widerspruch belastet. Wenn es in uns einen gewaltigen Drang gibt, uns zur Seligkeit emporzuringen, wenn's tatsächlich in jedem noch ungebrochenen Menschenleben nach dem Goethewort geht: "wir bekennen uns zu dem Geschlechte, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt", so liegt doch eben schon in dem Worte "emporringen" und in dem anderen "aus dem Dunkel ins Helle" die Andeutung, daß "hinter uns" noch lange nicht "im wesenlosen Scheine" das liegt, was "alle bändigt, das Gemeine". Es ist mir, als sähe ich uns alle an Felsblöcke geschmiedet, die uns in demselben Augenblicke in die Tiefe ziehen, wo die Flügel des Geistes uns emporheben wollen. Die Bibel hat für diese Tatsache das Bild des Kampfes zwischen Fleisch und Geist. Wir fühlen nach dem eben Gesagten, was damit gemeint ist. Unser Fleisch ist auf der einen Seite ja sicherlich nur das Gefäß und Werkzeug des Geistes und insofern haftet ihm kein Makel an. Aber auf der anderen Seite wird mit diesem Worte ja eben die geheimnisvolle Gebundenheit an die gottfremde Erde bezeichnet. Unsere Seele ist der Kampfplatz zwischen dem Eigenwillen, der nach seiner Gewohnheit die Erde und damit die Gottesferne liebt, und zwischen dem leisen Rufe des Geistes, der uns in unsere wahre Heimat zieht. Aber ich kehre zum ersten Bilde zurück. Der Felsblock, den wir an einer Kette nachschleppen, ist zu schwer, als daß unsere Geistesflügel ihn mit uns emporzutragen vermöchten. Er zieht uns hinunter, "das Fleisch gelüstet es wider den Geist", - und die Erde hat uns wieder. Das ist der unselige Kampf mit der Sünde, der Kampf wider den Teufel.

Er wäre hoffnungslos, wenn es keine Erlösung gäbe. Die Menschheit steht unter einem unergründlichen Gotteswunder! Es ist, wie uns Modernen unbedingt feststeht, alles unter das Naturgesetz der Entwicklung gestellt, auch die menschliche Seele. Was einmal in die Kette von Ursache und Wirkung in dieser Welt hineingebunden ist, das muß sich entwickeln, d.h. es muß zu höheren Formen hinauf oder zu niederen hinunter. Mit den vorigen Sätzen wollte ich beschreiben, wie der Drang hinauf durch den Fleischeszug hinab unheimlich gekreuzt wird. Dem entsetzlichen Menschheitserlebnis gegenüber geschieht das Gotteswunder! in Christus! Ist es des Menschen Bestimmung, von unten nach oben zu dringen, so hat jenes Wunder Gottes eine Bahn geschaffen von oben nach unten. Die Entwicklung ist eine umgekehrte; der heilige Gott wird Mensch und tritt in eine unheilige Welt, damit er diese zur Heiligkeit Gottes emporhebe und damit "selig" mache. Und soweit hält die rettende Gottesliebe diese Gegenrichtung ein - daß sie schließlich selbst parallel läuft der versinkenden Menschheitsrichtung und -ja!- bis in die letzten Abgründe den Sündern nachgeht, um sie zu ihrer wahren Gottesbestimmung zurückzuführen. "Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben" - Joh.3,16. "Das Wort ward Fleisch, und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit" - Joh 1,14. Gott hat uns das Wunder geschenkt, daß eine Macht, die stärker ist als der uns niederziehende Steinblock, sich unter unsere Geistesflügel stellt und uns mit sich emporträgt. "Aus Seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade!" - Die Theologie in diesem ihrem Herzstück wird für mein Empfinden wundervoll dargestellt in dem Bilde aus Dürers großer Holzschnittpassion - da Christus, sich tief hinabbeugt, um aus den Höhlen der Erde die geretteten Sünder emporzuziehen.

Das Erlösungswerk Christi muß näher beschrieben und erklärt werden. Worum handelt es sich eigentlich bei diesem Grundvorgang der Menschheitsgeschichte? Er ist zu allen Zeiten mit verschiedenen Namen bezeichnet worden: Versöhnung, Rettung, Erlösung - und der, der ihn vollzogen hat, trägt den Heilandsnamen oder den des Seligmachers. Man muß, um diesen Vorgang zu erklären, alle diese Namen in Verbindung halten. Nur gemeinsam führen sie zu rechtem Verständnis des Evangeliums von der in Christus uns geschenkten Gnade Gottes. Es handelt sich tatsächlich um eine Versöhnung Gottes mit der sündigen Menschheit; der wohlverdiente Zorn Gottes muß besänftigt werden. Dieser Forderung gegenüber wurde die Lehre von dem im Gotteslamme Christus vollzogenen Versöhnungsopfer genügen, und tatsächlich ist ohne ein solches Opfer eine Wiederherstellung des Friedens zwischen Gott und Welt nicht möglich zu denken. Aber so nehme ich ein Wort auf, das Holl im Anschluß an Calvin und Luther geprägt hat, und das mir für meine Klarheit höchst bedeutungsvoll geworden ist: Diese Versöhnungslehre muß "sittlich vertretbar" sein. Es geht nicht an, daß wir das Opfer eines Anderen zum Ruhekissen unsrer Seele werden lassen, wenn es uns in unsrem sittlichen Leben nicht ändert, wenn unsere Sünde nicht aufgehoben wird. Und dies eben ist der Sinn unserer Erlösung und Rettung, daß Jesus Christus, der sich in voller Reinheit mit seinem ganzen Leben und bis in den schweren Tod hinein Gott aufgeopfert hat, durch unsren Glauben an ihn, d.h. durch die vollkommene Vereinigung unserer Seele mit der seinen zu unsrem Heiland wird. Er heilt durch sein reines Leben (und sein Tod ist nur die Besiegelung dieses Lebens) unsere Krankheit. Mit einem Gegenwartsbilde kann ich das so bezeichnen, daß die verbrauchten und kranken Blutkörper in unseren Gliedern durch das von Christus ausgehende Serum in gesunde Blutkörper zurückverwandelt werden, - und so wird Christus zuletzt unser Seligmacher, heißt: die aus der Sünde Erretteten schafft er durch seine Gemeinschaft zu solchen wahrhaften Menschen um, die in der Fülle ihrer Menschlichkeit, d.h. ihrer Gottebenbildlichkeit leben, also gottselig sind. "Ist Jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur!"- 2. Kor. 5,17. Das ist die biblische Rechtfertigungslehre, wie ich sie im Sinne Luthers richtig zu verstehen meine.

Es drängt mich nun noch, einmal sicherzustellen, daß damit nicht etwa von einem Verdienste des Glaubens geredet werden soll. Tatsächlich werden wir selig durch den Glauben an den uns neuschaffenden Christus; aber dieser Glaube ist nicht im geringsten unser Verdienst, sondern ganz und gar auch eine wunderbare Gnadengabe von Gott. Das weiß jeder, dem sie zuteil geworden ist. "Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert!"

Die dabei zurückbleibende aufregende Frage, die in Rom. 9, 15 ff. behandelt wird, warum dem einen das Glaubensgeschenk zuteil wird, während ein anderer trotz aller Ehrlichkeit es nicht findet, beantworte ich mir dabei in zweifacher Weise. Ich glaube, daß Gott an jede Seele einmal sein Angebot gelangen läßt, - und daß der Unglaube schließlich immer zur Sünde wird. Und ich glaube zum andern auch, daß Gott bei manch einem Menschen den Glauben, der zur Seligkeit führen muß, sieht, bei dem wir Menschen und auch er selbst ihn nicht erkennen können.

Das Christentum ist eine Religion und nicht eine Weltanschauung, und zwar ist's eine geschichtliche und nicht eine theoretische Religion. Unser Glaube ist auf Tatsachen gestellt und nicht auf Lehren. Da ergibt sich mit Notwendigkeit die geschichtliche Tatsache der Auferstehung Jesu Christi. Wenn die Weltgeschichte schließlich keinen anderen Sinn hat, als die Menschheit zum Geiste zu führen - zu dem gottesebenbildlichen Geiste, zu dessem Wesen das ewige Leben gehört, - so muß der, der auch in der menschlichen Erscheinung niemals etwas andres gewesen ist als ewiger Geist, das ewige Leben in sich tragen und denen, die in seiner Nachfolge zum Geiste werden sollen, muß sein ewiges Leben durch die Tatsache gezeigt werden. Wir, die wir der irdischen Sünde und deshalb auch der Vergänglichkeit noch unterworfen sind, tragen das ewige Leben in uns kraft unsres Glaubens in der Hoffnung. - Er aber, "welcher keine Sünde getan hat", brauchte nicht nur zu hoffen, er besaß das Leben. "Der Herr ist der Geist" - 2. Kor. 3, 17

"Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit, und wir werden verklärt in dasselbige Bild von einer Klarheit zur andren, als vom Herrn, der der Geist ist" - 2. Kor. 3, 18. Mit diesem Satze kann ich denn einleiten, was weiter zu sagen ist. Seit der Auferstehung Christi hat die Menschheitsgeschichte nur noch den einen Sinn, daß wir Menschen in "dasselbige Bild verkläret werden" sollen. Es gibt nur ein Entweder - Oder. Entweder diese Verklärung in den Geist vollendet sich an uns oder wir gehen unter. — Und Gottes Arbeit an dieser Welt vollzieht sich in der Kirche. Es ist eine richtige Bezeichnung, wenn die Kirche die Werkstatt des heiligen Geistes genannt wird. Gott sei Dank, sie ist noch viel mehr! Wir glauben an die unsichtbare Kirche, das ist "die Gemeinschaft der Heiligen". Wir, die wir wahrhaft Christen sind, haben - mehr intuitiv als vor unseren leiblichen Augen - eine Verbindung untereinander, die uns beglückt. Als Glieder am Leibe Christi sind wir einer des andern Glied, und diese Tatsache ist uns von gleichem Werte wie unsere Gemeinschaft mit unserem Herrn - sie ist ja, diese Gemeinschaft selbst, nur in einer anderen Form. Aber es sind hohe Zeiten unsres inneren Lebens, wo wir die Brautgestalt der Kirche innerlich erleben. Solange wir im Leibe wallen, bleibt es die Regel, daß auch die Kirche ihre Magdgestalt behält und eben als nichts anderes uns erscheint als wie die Dienerin zu unsrem Heile, d.h. zu unsrer Vergeistigung. Wir müssen da das Äußere und das Innere unterscheiden. Es bleibt geheimnisvoll und wunderbar, aber wir dürfen es glauben, daß der heilige Geist Gottes in seiner großen Kraft und Vollkommenheit sich uns vermittelt eben die Kirche, die in ihrer äußeren Gestalt aus lauter immer noch sündigen und irrenden Menschen besteht. Es ist ein ungeheurer Widerspruch in dem Satze: wir predigen das Wort Gottes. Wird nicht das ewige, reine Gotteswort in demselben Augenblicke unrein und vergänglich, wo wir schwachen Menschen es auf unsre Lippen nehmen? Dennoch bleibt es dabei: Gott vollzieht in der Kirche immer aufs neue dieses Wunder, daß nicht Menschenweisheit sondern Gottesweisheit in die Welt hinausströmt, und daß immer aufs neue Menschen wiedergeboren werden, d.h. daß sie aus der "Welt" hineinversetzt werden in das Reich und Vaterhaus Gottes. Und immer noch kommt es zu der großen "Buße", zu der großen "Sinnesänderung", die eben aus den dem sündigen Irrtum und der Nichtigkeit ergebenen Menschen Träger des ewigen Geistes macht. So liegt es klar in der Linie einer von Gott bestimmten Menschheitsgeschichte, daß Menschen ins ewige Leben kommen können und müssen. "Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet, und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben" - Joh.11, 25/26.

Unser Christenglaube mündet in eine große Hoffnung aus. Das Wort des alten evangelischen Mystikers Oetinger ist mir immer sehr lieb gewesen: Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes. "Wir glauben an die Auferstehung des Lebens!" Bei diesem Satze meldet sich in uns ja wohl immer ein gewisses Widerstreben. Wir empfinden unser leibliches Leben doch nur allzu oft mehr als eine Hemmung und Fessel als wie eine angemessene Wohnung unsrer Seele. Und das, was ich früher von den modernen Ahnungen einer absoluten Geistigkeit alles Seins sagte, scheint auch einen Widerspruch anzumelden. Dennoch sind wir irdischen Wesen so ganz in die Vorstellung der leiblichen Erscheinung gebunden, daß wir davon auch für unser ewiges Leben - für die Zeit, wo wir verklärte Geister sein werden - nicht Abstand nehmen können. Wir dürfen annehmen, daß der Geist sich immer den ihm angemessenen Körper baut. Wenn unser Geist vollkommen sein wird, dann wird auch seine Erscheinung vollkommen sein. Und das ist ein herrlicher Gedanke! Wie wird das sein, wenn wir - 1. Joh. 3, 2. - "Ihn sehen, wie Er ist" und wenn wir in Seiner Gemeinschaft uns wiedersehen und alle die, die uns vorangegangen sind und die Ihn gefunden haben! Wir werden dort alle ganz anders sein und werden uns doch an dem erkennen, was schon hienieden an uns ewig war, und was wir als unsere persönliche Eigenart vom Ebenbilde Gottes schon an uns getragen haben.


Dies ist denn nun also der Schluß. Was Gott der Herr noch weiter mit mir vorhat, ist meinen Augen verborgen. Beim Ausblick auf die Zukunft drängt sich die Sorge um das Schicksal der Meinigen auf. Wir stehen in einer dunklen Zeit, so wie früher ist keine Familie mehr gesichert. In allen bisherigen Generationen durfte ein Vater, wenn er seine Augen schloß, mit ruhiger Gewißheit auf die Zukunft seiner Kinder blicken, wenn diese nur etwas Tüchtiges gelernt hatten. Heute stehen wir in einer solchen Umwälzung aller sozialen und wirtschaftlichen Begriffe und Verhältnisse, daß eine ruhige Entwicklung für kein Menschenleben mehr gewährleistet ist.

Ich muß Euch, meine Kinder, auf den Ocean des Lebens hinausschiffen lassen in einem schwachen Boot und ohne die geringste Klarheit, wie dieses die Stürme, die jetzt so besonders stark sind, bestehen wird. Aber ich halte mich auch hier an unsere Christenpflicht des Gottvertrauens. Der Heiland hat zu seinen Jüngern gesagt: "Fahret auf die Höhe!", und ich denke noch einmal an das Vermächtniswort von Hans' und Nannas Mutter: Er bringt uns noch alle in Sein Schiff!

In diesem Augenblicke konzentrieren sich nur meine Wünsche in der einen Hoffnung, daß es mir noch vergönnt sein möge, solange im Amte und in dessen Besoldung zu stehen, bis ich meine noch nicht am Ziele stehenden drei Kinder durch ihre Schulen gebracht haben werde. Aber ich bin fast 64 Jahre alt und stehe in einem großen Amt. Sollten die Kräfte doch zeitiger versagen, so muß ich mich auf die Festigkeit Eures Willens, Eures Charakters verlassen und hoffe zuversichtlich, daß Ihr auch dann nicht ruhen werdet, bis Ihr Euch aus eigener Kraft die Stellung verschafft habt, welche die Bedingung eines gebildeten und im Geiste stehenden Menschenlebens ist. Unsere Vorfahren haben seit langer Zeit von solcher Bedrängnis äußerer Art wohl nichts gewußt, wie sie der Weltkrieg und die Revolution über uns Deutsche von heute gebracht haben. Aber ich wünsche Euch den hohen Geist, der eben "auch der Trübsale sich rühmt" (Rom. 5, 3) und der es weiß, daß "denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen". Ja, meine Kinder, ich wünsche Euch einen hohen Geist!

Laßt's Euch von Eurem Vater noch einmal sagen: nicht die äußere Erscheinung und glänzende Verhältnisse, sondern der innere Wert ist das, was allein erstrebt werden muß. Ich wünsche, daß Ihr Gottseligkeit, bescheidene Menschenliebe, Fleiß und völlige Wahrhaftigkeit und Echtheit als Ideale jedes und somit auch Eures Lebens erkennt und unter allen Umständen erstrebt. Dann dürft Ihr Euch auch der Wahrheit für gewiß halten, die das Neue Testament dreimal aus dem Alten wiederholt, und die die Grundlage eines jeden echten Lebensglückes ist: "Der Gerechte wird seines Glaubens leben."

Als Sohn meines Vaterlandes sehe ich, wie das heutzutage nicht anders sein kann, mit schwerer Sorge in die Zukunft. Die innerpolitischen Fragen sind in höchster Gärung. Die kommunistisch-bolschewistische Stimmung der arbeitenden Klassen ist noch im Steigen begriffen. Und wo sie nicht herrscht, da ist der radikale Sozialismus der anderen - milderen - Form der Sozialdemokratie überlegen. In schroffem Gegensatz dazu stehen die politischen Meinungen der Bürgerschaft und ihrer gebildeten Stände. Und so sehr ich glaube, daß ihrer Bildung ein gewisser Anspruch auf Führung im Volke nicht verwehrt werden darf, so fürchte ich doch ein doppeltes: nämlich, daß entweder der Egoismus und der Wille zum Genuß in unseren Ständen noch gar zu ungebrochen lebt, oder daß unsere Gesellschaftsschichten nur gar zu konservativ an der Wiederherstellung des alten und sicher nicht wieder heraufzubeschwörenden politischen Zustande hängt.

Worauf es hinauswill, läßt sich, glaube ich, von niemandem erkennen. Wir sind heute viel mehr als seit Jahrzehnten und vielleicht Jahrhunderten auf dieses "es will" hingewiesen. Und wohl dem, der doch bei diesem Rätsel und Geheimnis, bei dem unpersönlichen "es" nicht bleibt, sondern der im Glauben zu hoffen wagt: Gott will!

Mit meinem persönlichen Urteil habe ich mich in der Politik immer sehr zurückhalten zu müssen geglaubt. Ich habe zu deutlich gemerkt, daß ich das unendlich komplizierte Gewebe nicht überschauen und deshalb auch nicht fortweben kann. Es ist nur eine tastende Meinung, wenn ich manchmal zu denken wage, daß wir als einen gesunden Fortschritt die Richtung auf einen gerechten, nationalen Sozialismus ["Von innerem Range kann in Deutschland nur der Sozialismus in irgend einer Fassung sein." Osw. Spengler, Preußentum u. Sozialismus.] hin zu betrachten haben. Diese Meinung beruht auf unserem jetzt so allgemeinen Glauben an die Entwicklung und an den Fortschritt des Menschengeistes, und ich bin insofern jedenfalls politisch liberal, als ich eine solche - wie ich glaube gottgewollte - Entwicklung nicht durch den Herrschaftsanspruch nur scheinbar übergeordneter Geister beeinträchtigt wissen möchte. Aber es ist allerdings auch für mich eine feststehende Wahrheit, daß Politik und Frömmigkeit nicht so weit von einander getrennt sind, wie es die Anschauung unsrer Zeit fast als selbstverständlich betrachtet. Es gibt sicherlich keine auf die Dauer erfolgreiche Politik, die sich nicht unter den Grundsatz jenes biblischen Mannes stellt, der auch ein Politiker war und doch betonte: "Ich bin unter Gott"!- l. Mose 50, 19.

Im Augenblicke fängt die Frage nach dem Recht der deutschvölkischen Bewegung an, mich zu fesseln. Wir Christen werden sie aufmerksam verfolgen müssen, um nicht ihr gegenüber in denselben Fehler zu verfallen, den wir - ganz im Unterschied von England - dem Sozialismus gegenüber begangen haben. Es ist noch allzu unklar; aber sicher gilt hier erst recht, was oben von Religion und Politik gesagt ward.

Das Gebiet meiner über das Persönliche hinausgehenden Sorgen ist meine Kirche. Was steht uns da wohl bevor? Ich kann die häufig gehörte Anklage, daß "die Kirche" ihre Pflicht nicht erfülle und nicht sähe, nie ohne ein gewisses Unbehagen hören, weil ich glaube, so können nur Menschen reden, die sich mit ihr nicht ernstlich beschäftigen. Daß "die Kirche" eine menschliche, sehr menschliche Einrichtung ist, das ist doch selbstverständlich, und diese Schwäche teilt sie mit allen menschlichen Einrichtungen. Aber sie muß einmal sein als Organ der göttlichen Arbeit an uns Menschen, und daß in ihr auch heute Männer von höchst achtbarer geistiger Tüchtigkeit und sittlicher Reinheit walten, das sehe ich doch alle Tage.

Es ist ein Problem, dessen Lösung außerhalb der Kräfte einzelner Menschen liegt, warum die Kirche augenblicklich so einflußlos ist. Wie das anders werden soll, weiß ich nicht, - nur daß ich überzeugt bin, auf dem jetzt oft angepriesenen Wege einer Angleichung an Rom haben wir diese Lösung nicht zu suchen. Rom bezahlt seine Machtstellung zweifellos mit der Preisgabe des eigentlichen Wertes des Christentums, nämlich der persönlichen Gottesgemeinschaft. In der Gemeinde ist unser Rätsel, wie wir einen größeren Teil der sogenannten Gemeindeglieder wieder lebendig machen. Ich glaube, daß hier an nichts anderws gedacht werden darf, als an eine wahrhafte Seelsorge. Eine Sorge um die Seelen, die den Inhalt und die Form unsrer Predigten ebenso wie unser Verhalten bei fleissiger Besuchstätigkeit betrifft, daß wir nur hier und dort immer ganz als wahrhaft hingegebene Jünger Christi erscheinen! Es gehört für mich zu den Lichtblicken auch in dem Dunkel des kirchlichen Lebens, daß wir in der jüngeren Theologenwelt einer ungemein energischen und auf die letzten Gründe dringenden Arbeit begegnen. Männer wie Barth und der junge Althaus haben schon große Wirkungen auf die Seelen des theologischen Nachwuchses erzielt, die wertvoll bleiben - man möge über ihre Theologie denken, wie immer man will.

Ein anderer Lichtblick ist die in den Großstädten wenigstens fühlbare Gewißheit, daß wir eine kleine lebendige Gemeinde überall haben. Und denen, die in meinem Kreise dazugehören, bin ich dankbar, daß sie mir eben dadurch zu täglich erneuter Freudigkeit meines Lebens verhelfen. Ich bin sehr glücklich über meine Bibelstundenfreunde und meine Helfer.

Zuletzt schaue ich auch mit dankbarer Zuversicht hin auf die großen Bestrebungen unserer Gesamtkirche, die sicher auch ihre Bedeutung für die Einzelgemeinde und für den einzelnen Christen je mehr und mehr offenbaren werden. Wir haben 1926 die große Weltkirchenkonferenz für "praktisches Christentum" in Stockholm gehabt, der sich in diesem Jahre eine gleiche für "Glauben und Verfassung" in Lausanne angeschlossen hat. In beiden sind wir noch weit vom Ziele geblieben; aber ganz besonders bei der letzten ist es doch meines Erachtens sehr deutlich geworden, wie sehr wir um dieses Ziel ringen müssen. Lausanne hat uns gezeigt, daß die großen protestantischen Denominationen nicht einmal über das Wesen des Christentums einig sind. Wir können aber ohne solche Einigkeit auch nicht zu der der brüderlichen Liebe und der gemeinsamen Arbeit kommen.

Ich will es noch oft in meine Gebete nehmen, daß die Christenheit auf Erden sich als solche verstehe und finde. Ich sehe die Menschheit ihrem entgiltigen Schicksal entgegenschreiten, das in einer großen Scheidung sich vollziehen wird und jetzt schon immer deutlicher zu vollziehen scheint. Es gilt zu bitten für uns selbst, für die, die wir lieben, und für unser ganzes Vaterland, daß wir zuletzt zu denen gehören dürfen, für die der Heiland gebetet hat: sie sollen "eine Heerde und ein Hirte" werden.

Ja, so gehe ich meinem Ende entgegen! Wann es wohl kommen wird und wie? Das Wann liegt ganz in Gottes Händen und ist dort wohl geborgen. Und das Wie? Wird es ein stiller, schmerzloser Übergang für meine Seele sein dürfen, "daß sie mit Heil anlände in jenem Vaterland"? Die bange Schwachheit, die wohl keiner ganz überwindet, wünscht das natürlich! Aber Einige sind schon immer auf einem schweren Wege dem Tode entgegengeführt worden! Und die noch andauernden Christenverfolgungen in Rußland lassen es auch uns nicht unmöglich erscheinen, daß wir deutschen Christen unsern Glauben vielleicht mit dem Zeugentode werden bestätigen müssen.

Nicht ohne Angst schreibe ich daraufhin, aber ich schreibe es mit festem Willen: ich kenne das ernste Wort meines Herrn: "Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir!" und ich bete darum, daß es fest in mir bleibe: "Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Ob mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist Du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil!"

Am Montag nach dem 2.Advent

5. Dezember 1927.

Walther Zenker 1929

Walther Zenker starb am 12. November 1932 in Dresden.

Seine zweite Frau Elisabeth und seine fünf Kinder überlebten alle den 2. Weltkrieg. Sein Enkel Hans Christoph - der einzige Sohn seines ältesten Sohnes Hans - ist jedoch als 19-jähriger Soldat kurz vor Kriegsende gefallen.

Meine Großmutter Elisabeth wohnte nach dem 2. Weltkrieg bei ihrer Tochter Helene in Schweden. Sie starb 1978 in Stockholm.

Mein Onkel Hans, der im 1. Weltkrieg als Offizier teilnahm und ein eisernes Kreuz erhielt, war im 2. Weltkrieg als Geistlicher an der Ostfront tätig. Er starb 1952.

Meine Tante Nanna lebte in kinderloser Ehe mit Otto Schweitzer. Sie starb erst 1991 mit 93 Jahren.

Meine Tante Helene hat 1933 nach Schweden geheiratet. Sie starb 1980 in Stockholm.

Mein Vater Gerd wurde Diplomingenieur. Er hat meine Mutter in Schweden kennengelernt, wo er sie 1939 heiratete. Im Kriege war er an der Technischen Hochschule in Dresden als Entwickler von Flugzeugmotoren tätig. Nach dem Kriege ist er seiner Frau und Kindern nach Schweden gefolgt. Er starb 1997.

Meine Tante Hertha war Hebamme. Sie ist unverheiratet geblieben und starb 2008 in Dresden.

Weiteres über Walthers Ahnen und Nachwuchs ist unter "Family Tree" bei www.zenker.se zu finden. /SZ

Walthers fünf Kinder um 1928: Von links Hans mit seiner Frau in zweiter Ehe Susanne ("Suse") Tunder, Helene, Marianne ("Nanna") mit ihrem Gatte Otto Schweitzer, Gerd, Hertha.

  Last edited or checked October 8, 2018. Broken links fixed or replaced February 24, 2024.

Home page
News
Gallery
Curriculum Vitae
Araguacema
Christofer
Kerstin Amanda
Space
Family tree
History
Arts
Books
Chess
Mountaineering
Things that surprise me
Web stuff
Funny quotes
Contact