1. Schlacht bei Tannenberg, 93 000 russische Gefangene.
2. Hierbei handelte es sich um die Seeschlacht vor
den Falklandinseln, die erste große Niederlage einer deutschen Flotteneinheit
am 8. Dezember 1914.
3. Die Familie nahm regelmäßig Kriegsverwundete zum
Genesungsurlaub auf.
4. Im Herbst 1915 werden die Erfolge an der Ostfront
spärlicher, es kommt zu ersten Rückschlägen, an der Westfront hat der
ungeheuer verlustreiche Stellungskrieg begonnen, in dem keine Seite
entscheidende Vorteile erringen konnte. Informationen darüber waren
den Provinzzeitungen kaum zu entnehmen, auch hätte man sie nicht zur
Kenntnis nehmen wollen, da sie dem widersprachen, was man von Anfang
an glaubte und glauben wollte. Auch in Nessis Kriegstagebuch finden
sich daher nur vereinzelt und zögerlich Hinweise auf die sich verschlechternde
Lage.
5. Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, den Deutschland
seit Februar 1915 nicht ohne Erfolg führte, störte den Nachschub Engfands
aus Amerika und führte zu gefährlichen Spannungen mit den USA... [Höhepunkt:
Versenkung des britischen Passagierdampfers Lusitania Mai 1915: 1198
Passagiere ertranken, darunter 118 Amerikaner.] Obwohl der U-Boot-Krieg
seit September wieder eingeschränkt wurde, kam es weiterhin zu Zwischenfällen,
dabei auch zu recht unkonventionellen Versuchen der Briten, sich der
U-Boot-Plage zu erwehren. Die deutsche Admiralität, schon über die politisch
begründete Einschränkung des U-Boot-Kriegs verstimmt, tat im Verein
mit der nationalen Presse alles, um den Boden für eine Wiederaufnahme
des uneingeschränkten Seekriegs zu bereiten; in diesem Zusammenhang
wurden Berichte über unfaires Verhalten britischer Seeleute groß aufgemacht.
Die Wirkung dieser Propaganda läßt der folgende Tagebucheintrag erkennen.
6. Tatsächlich stellte sich die Lage am Ende des Jahres
1915 so dar: Die Offensive an der Ostfront, die im Mai begonnen hatte,
war zunächst recht erfolgreich gewesen; inzwischen hatte sie aber längst
an Schwung verloren, der russische Widerstand hatte sich gekräftigt,
Erfolge blieben aus. An der Westfront war der Krieg schon das ganze
Jahr über überwiegend Stellungskrieg gewesen, d.h. auf beiden Seiten
konnte man kaum Erfolge verbuchen, geringfügige Geländegewinne und -Verluste
hielten sich in etwa die Waage, kosteten aber ungeheure Verluste an
Menschen und Material. Lediglich am Balkan sah die Lage besser aus -
hier gelang es den deutschen Truppen gemeinsam mit den Österreichern
und nun auch mit Unterstützung der Bulgaren, endlich Serbien, den Kriegsanlaß,
zu besiegen und zu besetzen [Dezember 1915].
Die innenpolitische Lage in Deutschland ist durch zwei scheinbar gegenläufige
Entwicklungen gekennzeichnet: einerseits wird die Versorgung der Bevölkerung,
besonders mit Nahrungsmitteln, schwierig, Mängel werden überall fühlbar,
selbst in der Provinz; damit geht eine ganz allmähliche Stimmungsverschlechterung
einher, aus dem anfänglichen Optimismus wird da und dort Resignation
oder Pessimismus. Andererseits - vielleicht als Konsequenz der Anfangserfolge
deutscher Armeen, Ende 1915 vielleicht aber auch aus einer "Jetzt-erst-recht-Haltung"
- werden nun Kriegsziele formuliert, und dies in allen politischen Lagern
mit Ausnahme der extremen Linken, die man nur als expansionistisch-imperialistisch
bezeichnen kann. Die "gewaltigen Erfolge unseres unvergleichlichen
Heeres und unserer todesmutigen Flotte" müßten "auch politisch
restlos ausgenützt" werden. "Insbesondere sei im Westen das zur
Sicherung und Stärkung unserer Machtstellung zu Wasser und zu Lande
notwendige Gebiet politisch, militärisch und wirtschaftlich an das Reich
anzugliedern. Im Osten müßten nicht nur strategisch bessere Landesgrenzen,
sondern auch neues Siedlungsland erworben werden." [Verlautbarung
der Nationalliberalen] Auch der junge Gustav Stresemann meinte damals,
daß "unbedingt eine Grenzveränderung im Westen wie im Osten erforderlich"
sei. Auch Matthias Erzberger vom Zentrum [er sollte später die Kapitulation
unterzeichnen und dafür in der Weimarer Republik als "Vaterlandsverräter"
ermordet werden] äußerte noch 1915, es sei "Pflicht, die Folgen des
Krieges so auszunutzen, daß Deutschlands militärische Oberhoheit auf
dem Kontinent für alle Zeiten gesichert ist." Ja selbst aus der
Mitte der SPD-Fraktion im Reichstag wurde geäußert [Otto Landsberg]:
"Wenn wirklich zur besseren Verteidigung Deutschlands im Osten die
Annexion der Narew-Linie verlangt würde, dürfte irgendein Deutscher
dagegen Widerspruch erheben?" Auf dem Hintergrund solchen Denkens
der Verantwortlichen scheint der Hurra-Patriotismus unserer Tagebuchschreiberin
nicht mehr ganz so erstaunlich.
7. Hier findet sich der Keim zur späteren Dolchstoßlegende:
das angeblich stets siegreiche, im Grunde unbesiegbare Heer - und die
unzuverlässige Heimat, besonders das "niedrige Volk" = die Roten. Tatsächlich
begann sich besonders unter den Arbeitern die Erkenntnis Bahn zu brechen,
daß der ungeheure Blutzoll des Stellungskrieges, die grausamen Verstümmelungen
(Gaskrieg!) vor allem zu Lasten des "niedrigen Volkes", also der Arbeiter
gingen; daß der Krieg von einer Führungsschicht teils hingenommen, teils
gewollt worden war, die ihrerseits entweder kräftig daran verdiente,
mindestens aber sehr viel weniger daran zu leiden hatte als die Arbeiter.
Als dann im Winter 15/16 Teuerung, Knappheit und Hunger das Leben erschwerten,
wurden Fragen gestellt, wurden Proteste laut, und mehr und mehr Arbeiter
begriffen, daß ihre Hoffnung auf gesellschaftliche Integration [Wilhelm
II.:, 1914: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!"]
unbegründet war. Diese Entwicklung stand im Gegensatz zu der im Mittelstand,
der seine gesellschaftliche Anerkennung im autoritären Staate Bismarckschen
Zuschnitts seiner Kaisertreue verdankte und deshalb den bestimmenden
Geburts- und Geldadel an Patriotismus noch zu übertreffen suchte. Wie
sollte auf solchem Hintergrund das Forstmeistertöchterlein verstehen,
daß "im niedrigen Volk" "überhaupt keine schöne Stimmung" herrschte?
8. Das ist die erste Erwähnung einer der schrecklichsten
Schlachten des ganzen Krieges, der von Februar bis Juli dauernde Kampf
um Verdun, vom deutschen Generalstab geplant, um die französische Armee
ausbluten zu lassen; tatsächlich waren die deutschen Verluste größer,
insgesamt kamen etwa 700 000 Soldaten ums Leben. Die Berichterstattung
in den konservativen deutschen Zeitungen hat diese Schlacht offenbar
stark heruntergespielt; jedenfalls findet sie im Tagebuch von Nessi
eher nebenbei Erwähnung.
9. 23 Schiffe versenkt, 404 Mann gefangen genommen.
10. Der Großadmiral und Staatssekretär im Marineministerium
Alfred von Tirpitz (siehe Bemerkung Nr. 36 zu
23. November 1917 unten)
hatte schon im ausgehenden 19. Jahrhundert den Gedanken des Aufbaus
einer sog. Risikoflotte konzipiert, verfochten und seine Realisierung
durchgesetzt: die deutsche Flotte sollte so groß sein, daß ein Angriff
auf sie für die größte Seemacht der Welt, Großbritannien, ein Risiko
wäre. Als Staatssekretär hatte er dann 1914 den Ausbruch des Krieges
zunächst bedauert ["...ein Wahnsinn..."], wurde aber bald zum Scharfmacher
als prominentester Vertreter eines uneingeschränkten U-Boot-Krieges.
Wegen des heftigen Widerstands des Kanzlers Bethmann-Hollweg und eines
Teils der Admiralität gegen diese Pläne [Hauptargumente: zuwenig U-Boote,
Gefahr des Kriegseintritts der USA] reichte Tirpitz schließlich sein
Rücktrittsgesuch ein, obwohl kurz zuvor immerhin eine Verschärfung des
U-Boot-Krieges beschlossen worden war. Tirpitz' Ansehen im konservativen
Teil der Bevölkerung war außerordentlich hoch, sein Rücktritt war daher
zwar einer vernünftigeren Politik dienlich, dem inneren Ansehen der
Regierung aber höchst abträglich.
11. Eine hellsichtige Vermutung! Mehr und mehr übernahm
die Oberste Heeresleitung das Regiment. Wer sich ihren Vorstellungen
widersetzte geriet sehr schnell in den Ruf eines unpatriotischen Menschen,
schlimmer noch, in den eines vaterlandslosen Gesellen. Erst unter dem
Druck des immer aussichtsloser werdenden Krieges versuchten einige Fraktionen
im Jahre 1917 durch eine Friedensresolution wieder Politik zu gestalten.
12. Hier hatte sich nach einer Reihe ernster Zwischenfälle
und entsprechender am Ende ultimativer Proteste der USA ausnahmsweise
die politische Führung und Bethmann-Hollweg gegenüber der Admiralität
und dem besonders bedenkenlosen preußischen Kriegsminister von Falkenhayn
durchgesetzt.
13. Gemeint ist hier die berühmt/berüchtigte Schlacht
im Skagerak. Tatsächlich waren bei dieser eher zufällig zustande gekommenen
größten Seeschlacht des Krieges die englischen Verluste größer als die
deutschen; wegen des geringeren Umfangs der deutschen Flotte waren die
deutschen Einbußen jedoch einschneidender, für die Briten waren die
Verluste zwar schmerzlich, aber in keiner Weise bedrohlich.
14. Lord Kitchener war britischer Kriegsminister,
auf dem Weg nach Petersburg lief sein Schiff auf eine deutsche Mine
und sank.
15. Es handelte sich um die große Offensiven der Russen
unter General Brussilow, die mit vielfacher zahlenmäßiger Überlegenheit
vorgetragen wurden; zwar gelang den Russen der entscheidende Durchbruch
nicht, aber die Österreicher mußten die Front doch immer wieder zurücknehmen.
16. Karl Liebknecht gehörte dem linken Flügel der
SPD-Fraktion im Reichstag an; er stimmte 1914 als einziger SPD-Abgeordneter
gegen die Bewilligung der Kriegskredite und wurde im Januar 1916 von
der Fraktion ausgeschlossen, weil er den von der Mehrheit gebilligten
'Burgfrieden' zwischen den Parteien ablehnte; im März 1916 gründete
er mit anderen Linksoppositionellen die 'Sozialistische Arbeitsgemeinschaft',
aus der im selben Jahr unter seiner und Rosa Luxemburgs Leitung der
Spartakusbund hervorging. Als einer der ersten protestierte er dagegen,
daß die Lasten des Krieges einseitig von den sozial Schwachen zu tragen
waren [z.B.: 42 % Reallohnverlust der Arbeiter bis September 1916 bei
gleichzeitig kräftig gesteigerten, in der Regel mindestens verdoppelten
Unternehmergewinnen]. Wegen einer von ihm organisierten Antikriegsdemonstration,
die juristisch als Hochverrat angesehen wurde, kam er im Mai 1916 in
Haft und wurde anschließend im Juni zu 2 ½ Jahren Zuchthaus
verurteilt.
17. Hier irrt die Schreiberin: eine Überprüfung der
häuslichen Kleiderschränke war natürlich nicht möglich.
18. Angesichts dieses blinden Glaubens konnten sich
die Propagandisten des Krieges die Hände reiben!
19. Eine schon fast gespenstische Umdeutung der wirklichen
Lage macht sich die Schreiberin da zu eigen: während die Angriffe an
allen Fronten zeigen, wie die deutschen Armeen mehr und mehr in eine
verlustreiche Defensive gedrängt werden, jubelt das Tagebuch darüber,
daß es den Feinden nicht gelungen sei vorzudringen. Kein Wort von den
ungeheuren Verlusten, kein Wort auch davon, daß die deutsche Frontlinie
doch immer wieder 'begradigt', d.h. leicht zurückgenommen werden mußte.
20. Es handelt sich um eine der verlustreichsten Schlachten
des Krieges, die Schlacht an der Somme, von Ende Juni bis Ende November
1916; sie kostete insgesamt etwa 750 000 Tote auf beiden Seiten, die
deutsche Front mußte auf 12 km Breite um rund 40 km zurückgenommen werden.
21. Auch an den folgenden Tagen finden sich immer
wieder Einträge, die von Erfolgen an der rumänischen Front handeln.
Man spürt die Erleichterung darüber, endlich wieder einmal jubeln und
triumphieren zu können.
22. Polen war seit 1830 russische Provinz gewesen.
23. Es handelt sich um einen Versuch, die scheinbar
günstige Lage der Mittelmächte nach der Niederlage der Rumänen auszunützen;
der deutsch-österreichische Friedensappell war demzufolge von einer
Position der Stärke aus formuliert und gab keine genauen Bedingungen
an; die sollten bei den konkreten Verhandlungen genannt werden. Im Hintergrund
stand allerdings die sich bei Experten immer mehr ausbreitende Erkenntnis
- z.B. der bayrische Ministerpräsident Graf Hertling und sein Bundesratsgesandter
Graf Lerchenfeld -, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. [So Graf
Hertling bereits im Mai 1916.] Der Tagebucheintrag läßt gut erkennen,
wie die innenpolitische Propaganda dieses von vornherein aussichtslose
Friedensangebot einsetzte, um die Kriegswilligkeit der allmählich müde
werdenden Menschen wieder zu beleben.
24. Die Schreiberin ahnt nicht, wieviel Schuld Deutschland
am Kriegsausbruch tatsächlich hatte, daß die militärische Lage nur scheinbar
günstig für die Mittelmächte aussah, daß in Wahrheit die ungeheuren
Verluste von der Entente zu verkraften waren [Hilfe Amerikas] während
die Mittelmächte buchstäblich ausbluteten, daß das Friedensangebot der
Mittelmächte entweder als weltfremd oder als rein deklamatorisch anzusehen
war und von der Entente auch so verstanden wurde.
25. Mehr und mehr war die politische Führung Deutschlands
mit Kanzler Bethmann-Hollweg im Laufe des Jahres 1916 in die Lage gekommen,
der Obersten Heeresleitung [OHL] mehr oder minder bedingungslos zu folgen.
Fachleute sprechen von einer "verdeckten Militärdiktatur", die sich
ergeben habe, und der 1. Februar 1917 wird dabei gerne als ein Orientierungsdatum
für den Höhepunkt dieser Entwicklung genannt. Tatsächlich hatte die
OHL, in der Ludendorff eine besonders prominente [und verhängnisvolle]
Rolle spielte, der politischen Führung mitgeteilt, daß dieser Krieg
nur noch durch einen uneingeschränkten U-Boot-Krieg [d. h. keine Rücksicht
auf tatsächlich oder vorgeblich neutrale Schiffe] gewonnen werden könne.
Der amerikanische Präsident Wilson, von der Unhaltbarkeit des amerikanischen
Isolationismus und damit von der Notwendigkeit einer aktiven amerikanischen
Europapolitik überzeugt, aber ebenso wie die Majorität der amerikanischen
Öffentlichkeit einer kriegerischen Einmischung abgeneigt, hatte als
Reaktion auf das deutsche Friedensangebot vom Dezember 1916 alle Kriegsbeteiligten
aufgefordert, ihre tatsächlichen Kriegsziele bekanntzugeben, damit er,
der Präsident vermitteln könne. Die Entente war der Aufforderung gefolgt,
Deutschland sah sich den ganzen Januar hindurch wegen der Auseinandersetzung
über die Forderung der OHL nach dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg nicht
in der Lage, seine Kriegsziele zu definieren. Als man endlich soweit
war, brachte man den deutschen Botschafter in Washington in die wenig
beneidenswerte Lage, zugleich mit den Kriegszielen [die ja Grundlage
für eine Friedensvermittlung durch die USA sein sollten] die Mitteilung
über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg überreichen zu müssen. Trotzdem
sah Wilson noch eine minimale Verhandlungschance; deshalb brach er zwar
sofort die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab, die Kriegserklärung
zögerte er aber noch bis Anfang April hinaus. Die Monate Februar und
März brachten der deutschen U-Boot-Flotte erhebliche Erfolge und bestärkten
diejenigen Militärs in ihrer Haltung, die eine tatsächliche Beteiligung
der USA am Krieg aus Mangel an Schiffstransportraum für unmöglich erklärten.
26. Der Zar Nikolaus hatte bereits am
2. März abdanken müssen; Rußland hatte seine erste bürgerliche Regierung
unter Fürst Lwow bekommen, der den Krieg gegen die Mittelmächte weiterführen
wollte.
27. Der Zar Nikolaus wurde mit seiner
Familie nach Sibirien gebracht und im Juli 1918 ermordet.
28. Grund dieses Kleingeldmangels: die
starke Inflationierung ohne Vergrößerung des Münzumlaufs und der Einzug
von Münzen aus kriegswichtigen Metallen.
29. Tatsächlich stiegen die Erträge aus
den Kriegsanleihen von Mal zu Mal, die 6. Anleihe ergab 12,7 Milliarden
Mark. Dieser Betrag relativiert sich freilich etwas, wenn man die beschleunigte
Inflationierung bedenkt - gegenüber dem Stande von 1914 hatte die Mark
etwas mehr als 50 % ihres Kaufwerts verloren! Andererseits darf man
nicht verkennen, daß die hohen Zeichnungserträge der Kriegsanleihen
auch zeigen, zu welchen Opfern und Anstrengungen große Teile der
Bevölkerung immer noch bereit waren. Sie wußten ja nicht, daß es eine
schmale Schicht gab, die an dem Krieg kräftig verdiente, daß also die
mühsam zusammengekratzten Werte der kleinen Leute zum Teil in Rüstungsgüter
verwandelt der Zerstörung entgegengingen, zum anderen Teil aber von
einigen geschickten Industriellen und Finanzjongleuren in unverlierbaren
Sachwerten angelegt wurden, während die prunkvollen Schuldurkunden,
die man den Zeichnern der Anleihen aushändigte, nach dem Krieg [Inflation
1923!] vollkommen wertlos wurden.
30. Am 6. April hatten die USA den Krieg
erklärt und damit begonnen, ihr unmittelbares Eingreifen am Kriegsschauplatz
vorzubereiten.
31. Michaelis wurde als Nachfolger von
Bethmann-Holweg natürlich nicht gewählt, sondern verfassungsgemäß vom
Kaiser ernannt - unter Druck der Obersten Heeresleitung. Zugleich wurde
in der Öffentlichkeit und im Reichstag die Kriegszieldiskussion immer
heftiger und lauter: Abgeordnete der Sozialdemokraten, des Zentrums
und der Fortschrittspartei [=Linksliberale] forderten einen Frieden
ohne Annexionen und beschlossen am 19.7. eine entsprechende Friedensresolution,
während die Konservativen und Nationalen einen Sieg-Frieden verlangten
mit weitgehenden Entschädigungen und Gebietsgewinnen. Von diesem Konflikt
handelt die folgende Briefstelle.
32. Es handelt sich um die für beide
Seiten ungeheuer verlustreichen, militärisch unergiebigen Flandernschlachten,
die von Juni bis Dezember 1917 dauerten.
33. Der letzte Satz ist fast unerträglich
naiv - Arbeiterfrauen, die Zeit haben, stehen zu Hunderten vor Schokoladenläden!
- angesichts der Unterversorgung mit Grundnahrungsmitteln, wie sie 1917
in den Städten üblich war. Hier mischen sich wohl eigene Beobachtungen
[Menschenschlangen vor Läden] mit schichtspezifischen Vorurteilen und
Gerüchten.
34. Es handelt sich um die große, für
die Mittelmächte erfolgreiche Schlacht gegen die Italiener in Norditalien,
wodurch die für die Österreicher verhängnisvollen Isonzoschlachten
von Mai - September 1917 wettgemacht wurden.
35. Keinerlei Echo findet sich in dem
Tagebuch zu der Revolution in Petersburg am 25.10., als deren Ergebnis
Lenin und Trotzki die Macht übernahmen. Man darf wohl darauf schließen,
daß die Bedeutung dieser Revolution auch von der deutschen Presse nicht
erkannt wurde. Daß Lenin, im Einverständnis mit der deutschen Obersten
Heeresleitung, im zerplombten Eisenbahnwagen von der Schweiz durch Deutschland,
Dänemark, Schweden, Finnland nach Rußland gebracht worden war, um die
Lage dort zu destabilisieren, zeigt, daß man die Bedeutung Lenins auch
in der deutschen Führung nicht einzuschätzen vermochte. Man sah die
Vorgänge in Rußland offenbar allein unter dem Blickwinkel eines möglichen
Sonderfriedens.
36. Die Vaterlandspartei war am 2. September
gegründet worden, vor allem um den Gedanken eines "Sieg-Friedens" gegenüber
der verbreiteten, von SPD, Zentrum Fortschrittspartei getragenen Forderung
nach einem Verständigungsfrieden neue Kraft zu geben. Admiral von Tirpitz,
einer der Parteigründer, hatte schon lange vor dem Krieg mit seinem
Gedanken der "Risikoflotte", also einer Kriegsflotte, die anzugreifen
auch für Großbritannien ein Risiko sein sollte, und den entsprechenden
Gesetzesvorlagen im Reichstag maßgeblich zur Verschlechterung der Beziehungen
zwischen Deutschland und Großbritannien beigetragen
[siehe Bemerkung Nr. 10 zu 21. März 1916 oben].
Er war einer der konsequentesten und energischsten Befürworter
imperialer und hegemonialer Zielsetzungen deutscher Politik. Die Erfolge
der Mittelmächte in Italien, Rumänien, Rußland gegen Ende 1917 gaben
seinen Forderungen in der Bevölkerung neue Resonanz, wie der folgende
Tagebuchbericht auf beklemmende Weise zeigt.
37. Am 6. Dezember wurde der Waffenstillstand
mit Rußland unterzeichnet, am 22. Dezember begannen die Friedensverhandlungen
mit Rußland in Brest-Litowsk.
38. Am 5.1. hatte der englische Premier
Lloyd George eine Rede vor Gewerkschaftlern gehalten, in der er die
englische Friedensbereitschaft betonte, ja sogar die Elsaß-Lothringen
Frage an eine Volksbefragung knüpfte, was dem französischen Standpunkt
direkt widersprach. Selbstverständlich setzte die englische Friedensbereitschaft
eine grundsätzliche Anerkennung des Sieges der Entente voraus. Wieweit
Lloyd George in seiner Rede Rücksicht auf die Kriegsmüdigkeit der englischen
Arbeiter nahm, und wieweit er tatsächlich zu gehen bereit gewesen wäre,
läßt sich nicht sagen. Da die deutsche Führung, und besonders die Oberste
Heeresleitung, aber immer noch an der Vorstellung eines Sieg-Friedens
festhielt, war sie nicht bereit, das englische Angebot auszuloten. Gleiches
gilt für die berühmten "14 Punkte", die US-Präsident Wilson am 8.1.
formulierte. Das Tagebuch spiegelt die Propaganda der deutschen Führung
auf der Basis der Sieg-Friedens Vorstellungen wieder.
39. Es handelt sich um den Beginn ausgedehnter
Streiks vor allem von Arbeitern in Munitionsfabriken in Berlin, Hamburg,
Kiel, Nürnberg, Fürth, Magdeburg, Halle, im rheinisch-westfälischen
Industriegebiet etc. Immer größere Kreise des Volkes, besonders seiner
ärmeren Sozialschichten, waren nicht mehr bereit, den offenkundig sinnlos
gewordenen Krieg, der vor allem zu ihren Lasten ging, weiter zu unterstützen.
40. Am 23. März begann die letzte große
deutsche Offensive an der Westfront, die bis gegen Ende Juni zum Teil
beachtliche Erfolge zeitigte; so kamen die deutschen Truppen beispielsweise
bis auf 85 km an Paris heran. Freilich wurden diese Erfolge mit der
Verausgabung der allerletzten Kräfte der Mittelmächte erkauft, während
die Überlegenheit der Entente an Material - Waffen, Munition, Tanks
- und an Menschen - amerikanische Soldaten standen in wachsender Zahl
zum Einsatz bereit - ständig größer wurde. Aus diesem Grunde lösten
die Erfolge der Mittelmächte bei der militärischen Führung der Entente
keine Besorgnisse, geschweige denn Panik aus.
41. Nach diesem Erfolg war ein weiteres
Vordringen in die flandrische Ebene wegen des wachsenden alliierten
Widerstandes und der Erschöpfung der deutschen Truppen nicht mehr möglich,
die Flandernoffensive wurde aufgegeben.
42. Am 18. ]uli hatte eine große alliierte
Offensive begonnen unter der Leitung des französischen Generals Foch.
Sie führte sehr schnell zu Einbrüchen in die deutschen Linien und veranlaßte
die deutschen Truppen zunächst zu 'Frontbegradigungen', sehr bald zu
umfangreichen Rückzugsmaßnahmen. Die Mittelmächte waren mit ihren Kräften
und Möglichkeiten am Ende, während die Alliierten ihre Überlegenheit
an Menschen und Material, vor allem dank der amerikanischen Unterstützung,
ständig vergrößerten. Dies wurde auch in der Obersten Heeresleitung
schon im Laufe des Juni/Juli so gesehen; nach außen hin aber blieb man
bei den bekannten Durchhalteparolen. Erst am 30. September, die Lage
ist für jeden erkennbar aussichtslos geworden, fordert die Heeresleitung
die Regierimg auf, ein Waffenstillstandsangebot zu formulieren.
43. Wilsons 14 Punkten standen auch Franzosen
und Engländer eher skeptisch gegenüber, einmal weil sie sie teilweise
für weltfremd, utopisch hielten, zum andern weil das von Wilson geforderte
Prinzip der Selbstbestimmung der Völker für Frankreich und Großbritannien
wegen deren Kolonialbesitzungen nicht ohne weiteres annehmbar war. Unbestritten
aber ist, daß die 14 Punkte zukunftsweisend waren, insoferne sie auf
eine friedliche Ordnung, basierend auf Gerechtigkeit und Selbstbestimmung
zielten, ohne daß die USA irgendwelche Forderungen für sich stellten.
Für die Mittelmächte hätte die Erfüllung der 14 Punkte freilich die
Preisgabe der Kriegseroberungen - vor allem in Frankreich und Rußland
- zur Folge gehabt, Österreich hätte seinen nicht-deutschen Völkern
eine autonome Entwicklung ermöglichen müssen. Das war für viele gewiß
schmerzlich, unter den gegebenen Umständen aber ohnedies unvermeidlich
- und jedenfalls alles andere als 'bodenlos unverschämt', wie es die
deutsche Propaganda hinzustellen vermochte.
44. Wilson wollte nicht mit einer Regierung
ohne demokratische Legitimation verhandeln - der jeweilige Reichskanzler
war ja nicht vom Parlament gewählt und von dessen Vertrauen abhängig,
sondern wurde, verfassungsgemäß, ohne Mitwirkung des Reichstags allein
vom Kaiser ernannt. Wilsons Forderung führte dazu, daß die Verfassung
in diesem Punkt noch am 28. Oktober geändert wurde, was freilich nur
noch kosmetische Bedeutung haben konnte.
45. Am 28. Oktober hatten sich Kieler
Matrosen in einer Meuterei geweigert, dem Befehl zum Auslaufen zu gehorchen,
weil sie richtig erkannten, daß sie in einer letzten Schlacht dem Ideal
eines Kampfes bis zum Untergang geopfert werden sollten. Es sollte vermieden
werden, die Reste der deutschen Kriegsflotte den Siegern ausliefern
zu müssen. Das Signal dieser Meuterei - eines für deutsche Soldaten
und Matrosen absolut einmaligen, ungeheuerlichen Vorgangs - zeigt, wie
tief die Kluft zwischen der militärischen Führung mit ihrer Propaganda
des Hurra-Patriotismus und den einfachen Soldaten und ihrer aus bitterer
Erfahrung gespeisten nüchternen Lagebeurteilung schon geworden war.
Eine Rolle spielte dabei auch das Wissen um die russische Oktober-Revolution
des Vorjahres und die Nachrichten von der Revolution in Wien vom 21.
Oktober. Am 7./8. November kam es zur Revolution in München und zur
Errichtung einer sozialistischen Republik unter Kurt Eisner. Zugleich
wurden in vielen deutschen Städten Arbeiter- und Soldatenräte eingesetzt,
die, nach russischem Vorbild, die direkte, unmittelbare Demokratie mit
dem imperativen Mandat Wirklichkeit werden lassen wollten. Klar, daß
dieser gewaltige, in seiner Zielsetzung reichlich realitätsferne, utopische
Umschwung in vielen Fällen auch Dummheit, Gewalt und Brutalität sichtbar
werden ließ und jedenfalls vom konservativen Bürgertum, der wichtigsten
Säule der bisherigen Ordnung, nur mit blankem Entsetzen registriert
werden konnte; dies auch deshalb, weil man von den programmatischen
Bestrebungen des Sozialismus absolut nichts wußte - und nichts wissen
wollte.
46. Am 9. November hatte in Berlin die
Revolution begonnen. Um schlimmerem Unheil vorzubeugen, griff Reichskanzler
Prinz Max von Baden den Entschlüssen des zur Unzeit zögernden Kaisers
vor und gab, ohne dessen Einverständnis die Abdankung des Monarchen
bekannt. Gleichzeitig erklärte er seinen eigenen Rücktritt und übergab
- die Verfassung ignorierend - das Amt des Reichskanzlers an den Führer
der Sozialdemokraten Friedrich Ebert, weil er davon überzeugt war, nur
auf diese Weise einen Bürgerkrieg vermeiden zu können. Am selben Tag
rief der Sozialdemokrat Scheidemann die Republik aus - wenig später,
aber eben doch später und darum zu spät der unabhängige Sozialist Karl
Liebknecht: er meinte eine Räterepublik. Von dieser Entwicklung überrascht
und entsprechend dringlich beraten begab sich der Kaiser am 10. November
ins holländische Exil. Seinen Thronverzicht erklärte er rechtswirksam
erst am 28. November. Am 11. November wurde in Compiègne der
Waffenstillstand endlich unterzeichnet.
47. Es folgt ein Zeitungsausschnitt mit
den Bedingungen, auf dem die Schreiberin folgende Punkte unterstrichen
hat: Räumung des linken Rheinufers. Mainz, Koblenz und Köln werden vom
Feinde besetzt. - Es sind 5 000 Lokomotiven, 150 000 Waggons, 10 000
Kraftwagen abzugeben. - Bedingungslose Kapitulation von Ostafrika. -
Rückgabe der Kriegsgefangenen ohne Gegenseitigkeit. - Blockade bleibt
bestehen. Deutsche Schiffe dürfen weiter gekapert werden.
48. Bei den Nachrichten aus Frankreich
handelte es sich um Gerüchte, bei denen wohl der Wunsch der Vater der
Erfindung gewesen sein dürfte.
49. Es folgen zwei Zeitungsausschnitte:
einer berichtet über die Flucht des Kaisers nach Holland sowie über
das Schicksal der übrigen deutschen Fürsten; der andere enthält die
letzte Meldung aus dem Großen "Hauptquartier", in der drei Einheiten
wegen erfolgreicher Gegenstöße gegen die Amerikaner lobend hervorgehoben
werden; im letzten Satz der Meldung wird mitgeteilt, daß wegen der Unterzeichnung
des Waffenstillstands ab Mittag des 11. Novembers die Feindseligkeiten
eingestellt worden seien.
50. Die Gegner der Zustimmung zu den
Kriegskrediten in der SPD wurden aus der Partei ausgeschlossen und bildeten
1916 eine Arbeitsgemeinschaft, im April 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische
Partei. Eine Teil der Mitglieder stieß später zur 1919 gegründeten KPD,
ein anderer Teil kehrte 1920 zur Sozialdemokratischen Partei zurück.
Jedenfalls standen die Mitglieder der USPD am äußersten linken Flügel
des sozialdemokratischen Spektrums; sie setzten sich für radikale Demokratisierung
= Rätesystem, für Enteignung und Vergesellschaftung der Produktionsmittel
und - da die genannten Ziele anders nicht erreichbar zu sein schienen
- für eine echte Revolution, d. h. einen gesellschaftlichen Umsturz
ein, in dessen Verlauf die herkömmlichen Machtstrukturen des Adels und
vor allem des Bürgertums zu zerschlagen seien. Der Einsatz von Gewalt
schien der USPD unvermeidlich zu sein. Den Propagandisten der konservativen
Parteien war die USPD wie auch der Spartakusbund [siehe
Bemerkung Nr. 54 zu 27. Dezember 1918 unten]
ein willkommenes Schreckgespenst, um ihre schlecht informierten
Anhänger, die von den idealistischen Zielen der USPD ja so gut
wie nichts wußten, bei der Stange zu halten.
51. Tatsächlich wurden Wahlen erst im
Dezember auf dem Berliner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte verbindlich
beschlossen. Die USPD wollte sie verhindern, weil sie mit ihrem Ziel
einer Revolution unvereinbar waren, aber die Mehrheits-SPD setzte sich
durch; sie wollte, getreu ihrer Tradition, einen evolutionären-demokratischen
Weg gehen, und so wurden für den 19. Januar 1919 Parlamentswahlen angesetzt.
52. Die Deutsche Demokratische Partei
war die Partei des politischen Liberalismus - im Gegensatz zur Deutschen
Volkspartei, die stärker wirtschaftsliberalen Grundsätzen verpfllichtet
war. Die Bindung des bürgerlichen Mittelstandes, besonders der abhängig
Beschäftigten, also u.a. der Beamten an den Liberalismus stand in der
Tradition des 19. Jahrhunderts, in dem der Liberalismus die Emanzipation
des Bürgertums gegenüber dem Geburtsadel gefordert und schließlich erreicht
hatte. Inzwischen waren die hohen Ziele des Liberalismus - Freiheit,
Selbstbestimmung, Gleichberechtigung für alle als Menschenrechte - in
den vorhandenen liberalen Parteien zum Einsatz fiir die Interessen einer
begrenzten Sozialschicht des Volkes verkümmert. Genau dies scheint die
Tagebuchschreiberin richtig gespürt zu haben, wenn sie sich für
die emanzipatorischen Ziele der Sozialdemokratie zu erwärmen beginnt.
Die Eltern hatten sich inzwischen schon stärker zum Konservatismus hin
orientiert [siehe Bemerkung Nr. 55 zu 13. Januar
1919 unten], was
die Schreiberin hier noch nicht zu wissen schien.
53. Die Befürchtungen, daß die eben aus
der Erbmasse der aufgelösten österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie
gebildete Tschechische Republik sich in der Konsolidierungsphase zu
Lasten Deutschlands ausdehnen könnte, erwiesen sich als unbegründet.
54. Karl Liebknecht hatte bereits 1914
als damals einziger Abgeordneter aus der SPD-Fraktion gegen die Bewilligung
der Kriegskredite gestimmt [siehe Bemerkung Nr.
50 zu 18 November 1918 oben].
Anfang 1916 gründete er, zusammen mit Rosa Luxemburg, die "Gruppe Internationale",
weil er mit dem innenpolitischen 'Burgfrieden' nicht einverstanden war,
den die SPD wegen des Krieges einhielt. Die Gruppe gab ein illegal erscheinende
Druckschrift heraus, die sie nach dem Führer des Sklavenaufstandes in
Rom 71 v. Ch. "Spartakusbriefe" nannte. Nach dieser Publikation wurde
die Gruppe "Spartakusgruppe" genannt. Sie schloß sich von April 1917
bis Dezember 1918 den Unabhängigen Sozialdemokraten - s.o. - an. Wie
die USPD-Anhänger dachte die Spartakusgruppe marxistisch, radikaldemokratisch
und strebte eine Räteherrschaft an; von der Unvermeidlichkeit einer
wirklichen Revolution war sie ebenfalls überzeugt, im Sinne eines konsequenten
Marxismus sah sie im Adel, in der Militärführung und im Bürgertum
nicht politische Gegner, sondern Feinde. Das Ziel des Spartakusbundes
freilich war nicht eine Diktatur, sondern - nach erfolgreicher Revolution
und der Zerschlagung aller bisherigen Machtstrukturen - eine Demokratie.
Mit dieser Forderung nach Demokratie und Freiheit der Andersdenkenden,
einer programmatischen Forderung, die vor allem auf Rosa Luxemburg zurückgeht,
setzte sich der Spartakusbund in Gegensatz zum Marxismus-Leninismus,
wie er in der USPD vorzugsweise vertreten wurde. Für das erschreckte
und uninformierte Bürgertum waren solche Unterschiede natürlich unerheblich
und unbegreiflich. Man hörte die in jedem Fall radikalen Forderungen,
die aggressive Sprache und erlebte die Gewaltbereitschaft: das konnten
doch nur Verbrecher sein! Hätte man das Wort in solchem Zusammenhang
damals schon gehabt, man hätte zweifellos von Terroristen gesprochen.
55. Zunächst zu den Parteien: Die DNVP
stand am äußersten rechten Flügel, sie war national, konservativ, stand
der Monarchie nahe, wollte einen autoritär geführten Staat und fand
eine starke Stütze in der militärischen Führung; mit dem Zentrum, der
Partei des katholischen Mittelstandes, hatte sie, entgegen der Vermutung
der Schreiberin, nichts zu tun. Die DVP und die DDP wurden bereits kurz
charakterisiert [Bemerkung Nr. 52 oben];
im rechts-links-Schema kam zunächst die DVP, dann die DDP. Die Allgemeine
demokratische Partei für Sachsen war eine der vielen Splitterparteien
ohne politische Bedeutung. Interessant ist, daß die Eltern, die ja ursprünglich
liberal gewählt hatten - siehe Bemerkung Nr. 52
zu 26 November 1918 oben
-, nun wie selbstverständlich der DNVP zugerechnet werden. Das ist wohl
auf die Reaktion auf das beängstigende Nachkriegschaos zu verstehen,
das im bürgerlichen Mittelstand eine Bereitschaft für den Rechtskonservatismus
weckte, der latent vorhanden blieb und schließlich auch von den Nationalsozialisten
genutzt werden konnte: die Mutter der Schreiberin wurde später tatsächlich
eine idealistisch begeisterte Anhängerin der Hitler-Partei.
Die Ablehnung des Frauenwahlrechts - im Zusammenhang des
Tagebuchs ohnedies nicht sehr glaubhaft - und der Ausbruch gegen die
Spartakisten, im besonderen gegen Liebknecht und Luxemburg ist nur auf
dem Hintergrund des Spartakus-Aufstandes in Berlin zu verstehen. Nachdem
die Mehrheitssozialisten unter Ebert allgemeine Wahlen zur Nationalversammlung
und damit den Weg zur parlamentarischen Demokratie durchgesetzt hatten,
versuchten die Spartakisten und Anhänger der USPD in einem Aufstand
die Macht an sich zu reißen und die für unvermeidlich gehaltene Revolution
durchzuführen. Die von den Mehrheitssozialisten unter Friedrich Ebert
geführte Regierung sah den einzigen Ausweg darin, den Putschversuch
mit Kräften der - konservativen - Reichswehr zu bekämpfen und niederzuschlagen,
was naturgemäß innerhalb der Sozialdemokratie zu erheblichen Spannungen
führte. Die blutrünstigen Wünsche der Schreiberin geben ein recht anschauliches
Bild von der propagandistisch aufgeheizten Stimmung; nachdem der Spartakusaufstand
zusammengebrochen war, wurden Liebknecht und Luxemburg 15. Januar verhaftet
und von Freikorpsangehörigen brutal ermordet; die Leichen wurden in
den Landwehrkanal geworfen. Der Beifall großer Teile des Bürgertums
war den Tätern sicher.)
56. Polen war russische Provinz gewesen;
nun hatte es seine Selbständigkeit wieder erlangt und nutzte die Schwäche
seiner Nachbarn Rußland und Deutschland aus, um schon lange umstrittene,
gemischt bevölkerte Grenzregionen zu erwerben und sein Territorium so
zu erweitern.
57. Die Schreiberin gibt hier die damalige
offizielle Lesart wieder; tatsächlich hat es keinen Fluchtversuch Liebknechts
gegeben, und auch der Tod Luxemburgs war ein Werk der Freikorps-Leute,
nicht eines der Menge.
58. Die Schreiberin meint offenbar den
Umstand, daß Polen durch die nach Rußland vordringenden deutschen Truppen
der russischen Herrschaft entrissen worden war. Sie weiß freilich nicht,
daß Deutschland seinerseits für den Fall seines Sieges weitgehende Annexionsplane
hinsichtlich polnischen Territoriums gehabt hatte.
59. "Wir in Bärenfels..." Inzwischen
identifiziert sich die Schreiberin ganz mit der Haltung ihrer Eltern.
Wie sollte es auch anders sein? Stand sie doch mit ihren eigenen, kritischen
Denkansätzen vollkommen allein und war, besonders weil sie ein Mädchen
war, auch nicht zu eigenständigem Denken und Urteilen erzogen worden,
schon gar nicht in politischen Dingen; lediglich ihr Bruder dachte etwas
freier, hielt es aber für unter seiner Würde, mit seiner Schwester Politik
zu diskutieren. Daß der Spitzenkandidat der DNVP ein ranghoher evangelischer
Geistlicher war, Oberkonsistorialrat Superintendent Dr. Költzsch, war
gewiß ein weiteres starkes 'Argument', den eigenen Zweifeln zu mißtrauen
und sich gedanklich dem 'Familienstandpunkt' anzuschließen.
Das Ergebnis der Wahlen in Gesamtdeutschland ergab folgende
Sitzverteilung in der Nationalversammlung: DNVP: 44; DVP: 19; DDP 75;
SPD: 163; USPD: 22; Splitterparteien: 7.
60. In der Nationalversammlung, die wegen
der bürgerkriegsähnlichen Zustände in Berlin nach Weimar einberufen
worden war, ging es in erster Linie um die Verfassung des neuen, republikanischen
Deutschland. Strittig waren hier vor allem Fragen der Machtverteilung
und Machtkontrolle, z.B. das Verhältnis der Länder zum Reich, die Stellung
von Reichspräsident, Regierung und Reichstag zueinander, die Finanzhoheit
usw. Zugleich hatte die Nationalversammlung sich mit Fragen der aktuellen
Politik und der Regierungskontrolle zu befassen. Die Tätigkeit der Nationalversammlung
war also äußerst komplex, und, da sich in vielen Fragen noch keine klaren
Fronten herausgebildet hatten, schwer zu überblicken. Dennoch erkennt
man, daß es erheblich an Informationswillen, am Bewußtsein für
die Notwendigkeit intensiver öffentlichkeitsarbeit gemangelt hat. Wie
sollte der neue Staat angenommen und in der Bevölkerung verankert werden,
wenn er schon bei seiner Entstehung undurchschaubar, abgehoben wirkte!
61. Auf diese Frage gab es schon Antworten:
da wären Fehler, Fehleinschätzungen anderer Nationen zu erwähnen gewesen
- Österreich, Rußland, Großbritannien; aber man hätte auch von
deutschen Ursachen der Malaise reden müssen, von Deutschlands törichter
blinder Unterstützung von Österreichs Serbien-Politik, vor allem aber
von dem deutschen Denken in Kategorien des Imperialismus, das, historisch
verspätet, in maßgeblichen Kreisen der deutschen Politik, Wirtschaft
und besonders des Militärs die Richtung bestimmte. Dazu hätte man darüber
diskutieren müssen, welche Rolle das autoritär-hierarchische Denken
dieser Führungskreise spielte, die nicht fähig und nicht bereit
waren, eine demokratisch getragene und legitimierte Politik zu betreiben.
Das alles wäre sinnvolle 'Vergangenheitsbewältigung' gewesen und hätte
ein Fundament für den neuen Staat bilden können; den verzweifelten Äußerungen
der Tagebuchschreiberin läßt sich entnehmen, daß dergleichen nicht stattfand:
Enttäuschung, Mißtrauen, Zukunftsangst, Verzweiflung - kein Boden für
eine vernünftige neue Ordnung, - aber eine Brutstätte für unreflektierte
Autoritäts-Sehnsüchte.
62. Von Januar bis Mai 1919 tagte in
Paris die Friedenkonferenz. Die Hauptbeteiligten waren der US-Präsident
Wilson, der britische Premier Lloyd George, der französische Ministerpräsident
Clemenceau und der italienische Ministerpräsident Orlando. Deutschland
war nicht zugelassen. Clemenceaus Bestreben, Deutschland so rigoros
harte Bedingungen zu diktieren, daß es nie mehr für Frankreich eine
Gefahr werden könnte, wurde durch Lloyd George nur gelegentlich und
eher halbherzig widersprochen; Wilson, der sich seinen idealistischen
14 Punkten verpflichtet fühlte, war der Argumentationskunst und dem
Engagement besonders Clemenceaus nicht gewachsen und wurde von seinen
Partnern buchstäblich über den Tisch gezogen. Die Rolle des Italieners
blieb unerheblich. Was herauskam war ein Friedensdiktat, das in seiner
offenkundigen Ungerechtigkeit die innenpolitische Lage in Deutschland
aufs schwerste belastete - der Friede mußte schließlich angenommen werden,
aber die, die ihn annahmen, also die Repräsentanten des neuen Staates,
ließen sich von den Feinden der neuen Ordnung deshalb trefflich als
Verzichtpolitiker diffamieren. Das Friedensdiktat, das am 16. Juli 1919
in einer Deutschland bewußt demütigenden Form im Spiegelsaal des Versailler
Schlosses unterzeichnet wurde, - zwischenzeitlich hatte Deutschland
schriftlich Änderungvorschläge unterbreiten dürfen, die größtenteils
abgelehnt wurden - dieses Friedensdiktat hatte einen erheblichen Anteil
an der Schwäche der jungen deutschen Republik, der ersten deutschen
Demokratie, und trug den Keim zu einem neuen Krieg in sich. Es war,
so gesehen, geradezu ein Monument weltpolitischer Dummheit.
63. Die Finanzierung des Krieges und
des Wiederaufbaus sowie die Reparationsforderungen der Sieger hatten
der deutschen Währung den sicheren Boden entzogen. Gemessen am Dollar
war die Mark bereits unmittelbar nach Kriegsende nur mehr halb soviel
wert wie zu beginn des Krieges. Anfang 1921 kostete der Dollar, der
im Juli 1914 4,20 Mark wert gewesen war, schon knapp 60 Mark. D. h.
die Inflation war in vollem Gange; sie endete im November 1923, als
der Dollar 4,2 Billionen Mark kostete! Wer in solchen Zeiten geschickt
und skrupellos spekulierte, d. h. Schulden zu machen verstand und in
Sachwerten anlegen konnte, der vermochte in kürzester Zeit reich zu
werden.Daß es sich dabei in sehr vielen Fällen um wenig solide Transaktionen
handelte, liegt auf der Hand. Die sog. 'kleinen Leute', die nur über
etwas Erspartes verfügten, zuwenig, um Sachwerte zu erwerben, verloren,
was sie sich zur Seite gelegt hatten. Daher die Beobachtung der 'Schieber'
etc. auf der einen und des 'Elend' auf der anderen Seite.
64. Simons, selbst parteilos, war in
den Jahren 1920 und 1921 unter den Kanzlern Fehrenbach und Wirth, beide
vom Zentrum, Außenminister; woher die Bekanntschaß zur Familie der Tagebuchschreiberin
kam, konnte ich nicht herausfinden.
Nessis Onkel Walther Zenker schrieb
1927 in seinem "Mein
Leben": "In diese Erinnerung an die Freundschaften,
die ich pflege, gehört es nicht recht hinein, weil es anmaßend ist;
aber ich kann es mir nicht versagen, hier niederzuschreiben, daß Hans
von Schuberts intimer Freund, der Reichsgerichtspräsident und stellvertretende
Reichspräsident, D. Dr. Walter Simons, auch mir persönlich nahegekommen
ist..." usw. Walther war mit Hans von Schubert befreundet.
/SZ